Hans-Christoph Koller: Grundbegriffe, Theorien und Methoden der Erziehungswissenschaft
Rezensiert von Prof. Dr. Dr. habil. Peter Eisenmann, 25.01.2022

Hans-Christoph Koller: Grundbegriffe, Theorien und Methoden der Erziehungswissenschaft. Eine Einführung.
Kohlhammer Verlag
(Stuttgart) 2021.
9. Auflage.
243 Seiten.
ISBN 978-3-17-039810-8.
D: 20,00 EUR,
A: 20,60 EUR.
Reihe: Kohlhammer Urban Taschenbücher.
Thema
Das vorliegende Buch will die wichtigsten Grundbegriffe, theoretischen Ansätze und methodischen Zugriffsweisen der Erziehungswissenschaft vermitteln „und diese Inhalte zugleich an ausgewählten Beispielen auf ihre Bedeutung für das Verständnis praktisch-pädagogischer Problemsituationen“ prüfen (Einleitung, S. 9). Es versteht sich als Angebot und Orientierungshilfe für eine sinnvolle Gestaltung des Studiums der Erziehungswissenschaft.
Autor
Hans-Christoph Koller lehrt seit 1998 Allgemeine Erziehungswissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Interaktions- und Bildungsforschung mit dem Schwerpunkt 'Qualitative Methoden' an der Universität Hamburg.
Entstehungshintergrund
Der Autor weist in dem einleitenden Kapitel seines Buches darauf hin, dass ihm bereits zu Beginn seiner Lehrtätigkeit an der Universität Hamburg aufgefallen ist, dass das Lehrangebot im Fach Erziehungswissenschaft durch ein Spektrum an großer Breite und Vielfalt gekennzeichnet war, was für ihn den Eindruck einer gewissen Beliebigkeit und Orientierungslosigkeit hinterließ – ohne dabei grundlegende Inhalte von ergänzenden oder vertiefenden Angeboten unterscheiden zu können (vgl. S. 9).
Zudem war es neben seinen persönlichen Erfahrungen, eine hochschulpolitische Debatte, die mit dem Titel 'Kerncurriculum Erziehungswissenschaft' geführt worden ist und sich letztlich zu einem besonderen Zuschnitt an Erfordernissen für das Studium entwickelt hat.
Aufbau
Der Band gliedert sich – nach einem ausführlichen Einleitungskapitel, das sich insbesondere mit der Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit Grundbegriffen, Theorien und Methoden, sowie deren Inhalte, aber auch mit der Frage nach dem Entstehen des Buches und mit dem Umgang mit diesem beschäftigt – in zwei generelle Hauptkapitel auf. Diese wiederum sind in differenzierter Weise untergliedert. Den Abschluss bilden sowohl ein Literaturverzeichnis wie auch Anmerkungen zu den jeweiligen Kapiteln.
Inhalte
Koller legt noch in seinem einleitenden Kapitel dezidiert dar, warum er die Auseinandersetzung mit Grundbegriffen, Theorien und Methoden gerade für die Erziehungswissenschaft für notwendig hält. Er nennt vor allem drei Gründe: die 'Umstrittenheit des pädagogischen Wissens', die 'Einzigartigkeit der Situationen und der Menschen' und schließlich den 'Zukunftsbezug des pädagogischen Handelns', um all dies ausführlich zu begründen.
Der Autor sieht die Bedeutung und den Umgang mit seinem Buch unter Berücksichtigung dreier Zielsetzungen. Zum einen geht es ihm um die 'Verbindung von Überblick und exemplarischer Vertiefung', zum anderen um die 'Verknüpfung von sachlich-informierender Darstellung und kritischer Problematisierung' der ausgewählten Theorien und methodischen Ansätze. Schließlich benennt er als drittes Ziel, die Grundbegriffe, Theorien und Methoden in einen 'Bezug zu Handlungssituationen aus der pädagogischen Praxis' zu setzen.
In Teil I „Grundbegriffe und Theorien“ geht Koller zunächst auf den Erziehungsbegriff der Aufklärung zu Zeiten von Immanuel Kant ein. Hierbei hinterfragt er die 'Aufklärung' genauso, wie die Deklaration des sog. 'pädagogischen Jahrhunderts' und geht schließlich der Frage nach, worin der spezifische Beitrag Kants zur theoretischen Fassung des Erziehungsbegriffs liegt? Hier interessiert den Autor insbesondere, „inwiefern die Ausübung von Zwang im Interesse künftiger Freiheit notwendig und gerechtfertigt ist“ und meint damit das pädagogische Problem der Verknüpfung zweier gegensätzlicher Erziehungsprinzipien (S. 39). Anhand des Zitierens einer zentralen Passage aus Nick Hornbys Roman 'About a boy' erläutert der Autor die Problematik, die sich aus einem Zusammenhang zwischen den Prinzipien Zwang und Freiheit ergibt.
Indem sich Koller anschließend einem Erziehungsbegriff der Gegenwart zuwendet, werden die Positionen von Wolfgang Brezinka und Friedrich W. Kron aufgezeigt. So greift er bei Ersterem dessen Plädoyer für eine empirisch vorgehende und wertneutrale Erziehungswissenschaft auf, analysiert dessen Diktum von der Erziehung als Beeinflussung psychischer Dispositionen, indem der Erzieher dem zu Erziehenden zu einer bestimmten Verfassung seiner Persönlichkeit verhilft und arbeitet schließlich die unterschiedliche Position von Kron, der wiederum Erziehung als symbolische Interaktion verstanden wissen wollte, heraus. Koller versteht Kron dahingehend, dass die Regeln des alltäglichen Handelns der Beteiligten „in ihrem wechselseitigen Handeln, ihren Interaktionen, hervorgebracht, reproduziert und bestätigt oder aber auch verändert werden“ ( S. 56). Diese Theorie des 'symbolischen Interaktionismus' leitet sich aus der Erkenntnis ab, dass das wechselseitige Handeln der Beteiligten stets durch Sprache oder andere Symbolsysteme vermittelt ist.
Im Anschluss an den Vergleich der unterschiedlichen Aspekte des Erziehungsbegriffs sowohl von Brezinka (deskriptiv und strikt wertneutral) wie von Kron (normativ und an eine bestimmte Wertung gebunden) wendet sich der Autor dem neuhumanistischen Bildungsbegriff von Wilhelm von Humboldt zu. Letztlich wird das Verhältnis von Bildung und Erziehung unter systematischem und historischem Aspekt umrissen, dabei besonders darauf eingehend, dass Humboldt den eigentlichen Bezugspunkt im Inneren des Menschen und weder religiöse oder politische, noch gesellschaftliche oder wirtschaftliche Erfordernisse der Zeit impliziert gesehen hat (vgl. S. 71). Gemeint sind damit die Anlagen oder Potenziale, „die dem Menschen -… – zunächst nur als Möglichkeit zukommen und die es erst noch zu verwirklichen, zu entfalten oder eben zu bilden gilt“ ( S. 72).
Im Weiteren wendet sich der Autor dem Verständnis von Humboldt bezüglich der Bildung als 'Wechselwirkung' von Ich und Welt, und der Sprache als Gegenstand und Medium von Bildung zu, ehe er die Aktualität von dessenBildungstheorie am Beispiel des stets hinzugezogenen Romans von Nick Hornby „About a boy„hinterfragt. Dabei kommt er zum dem Ergebnis, dass „ein zeitgemäßer Bildungsbegriff… deshalb daran zu messen [wäre], was er über Humboldt hinaus dazu beitragen kann, Formen des Umgangs mit Konflikten zu entwickeln, für die es keine festen Regeln mehr gibt“ (S. 89).
Den Abschluss seiner Erläuterungen des Bildungsbegriffs bildet die Auseinandersetzung mit Max Horkheimer und Wolfgang Klafki. Hierbei geht es ihm um die exemplarische Verdeutlichung dessen, was Bildung unter gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen für die beiden Vertreter der sogenannten 'Kritischen Erziehungswissenschaft' bedeutet – hierbei berücksichtigend, dass es sich um eine Position mit zwei verschiedenen Ausprägungen aufgrund zeitlich bedingter Entstehungs-abstände handelt.
Koller gelangt schließlich zu der Erkenntnis, dass es beiden darum geht, Bildung nicht auf die individuelle Entwicklung der Persönlichkeit zu beschränken, sondern um das Engagement für und die Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Entwicklungen und Schlüsselproblemen – somit um die normative Orientierung menschlichen Handelns.
Damit schafft der Autor quasi den Übergang zur Erläuterung der Anfänge der Sozialisationstheorie um 1900 durch Emile Durkheim (Kap. 5) einerseits und des Sozialisationsbegriffs der Gegenwart durch Pierre Bourdieu (Kap. 6) andrerseits, ehe er in Kapitel 7 als Zwischenbilanz das Verhältnis der Grundbegriffe 'Erziehung', 'Bildung' und 'Sozialisation' aufzeigt. Dabei zieht Koller wiederum Hornbys Roman zur Interpretation der drei Begriffe heran und fragt (ohne an dieser Stelle auf die Geschichte des Romans eingehen zu können) danach, was man erkennen, aber auch nicht sehen kann, wenn man das Geschehen aus „About a boy“ als einen Fall von Erziehung, von Bildung oder von Sozialisation begreift (vgl. S. 153)?
In Teil II des Buches stehen die 'Methoden' der Erziehungswissenschaft im Zentrum der Ausführungen. Hierbei geht es dem Autor „um methodische Ansätze bzw. Grundpositionen, die mit bestimmten Auffassungen darüber verbunden sind, was (Erziehungs-)Wissenschaft ist oder sein sollte“ (S. 172). Erläutert werden drei große 'Hauptströmungen' aus der jüngeren Entwicklungsgeschichte der Erziehungswissenschaft: der 'empirisch-analytische' Ansatz, der 'hermeneutische' Ansatz und schließlich der Ansatz aus der 'kritischen' Erziehungswissenschaft, da Koller diese nicht nur für historisch bedeutsam, sondern auch für grundlegend und bis heute einflussreich hält, um auch andere sich daraus entwickelnde Positionen verstehen zu können.
Im Bezug auf den methodischen Ansatz der empirischen Erziehungswissenschaft versucht der Autor zunächst herauszuarbeiten, dass man nicht einfach umstandslos von der Wissenschaft ausgehen könne, da es eine Vielzahl von Einzelwissenschaften gibt, die sich beispielsweise in der Methode des Erklärens (bei den Naturwissenschaften) oder aber des Verstehens (bei den Geisteswissenschaften) unterscheiden. Seines Erachtens stelle die 'Empirische Erziehungswissenschaft' diejenige Richtung dar, die sich für ein Wissenschaftsverständnis entschieden habe, das sich dem methodischen Ansatz des Erklärens und damit dem naturwissenschaftlichen Vorbild angeschlossen habe – so wie es offensichtlich Brezinka zugeschrieben werden kann.
Bezüglich des hermeneutischen Ansatzes in der Erziehungswissenschaft im Sinne der Lehre vom Verstehen sieht Koller eine wissenschaftstheoretische Grundposition der 'Geisteswissenschaftlichen Pädagogik' wie sie u.a. von Hermann Nohl, Wilhelm Flitner und Erich Weniger in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vertreten wurde. Im weiteren Verlauf wird auf die Positionen hierzu von Wilhelm Dilthey und Wolfgang Klafki unter deren Aspekt von einer „dauerhaften Fixierung des zu Verstehenden“ (S. 199 f.) besonders durch Texte und schriftliche Dokumente, aber auch durch moderne Aufzeichnungstechniken eingegangen.
Natürlich geht der Autor auch auf die wichtigsten Einwände gegen die hermeneutische Vorgehensweise ein – so etwa auf das Problem der Interpretation von Theorien über Erziehung und nicht auf die Erziehungswirklichkeit selbst, oder aber auf eine an den Intentionen des Autors orientierte Konzeption des Verstehens – und erörtert diese.
Was nun den methodischen Ansatz der 'Kritischen Erziehungswissenschaft' anbelangt, so wird dieser als Abgrenzung von der 'Geisteswissenschaftlichen Pädagogik', welche sich blind gegenüber gesellschaftlichen Bedingungen von Bildung und Erziehung gezeigt habe, verstanden. So weist Koller darauf hin, dass dieser methodische Ansatz – im Bezug auf Konzeptionen der 'Kritischen Theorie' zurückgehend auf Max Horkheimer und Theodor W. Adorno – als Versuch verstanden werde, „eine Auffassung von Erziehungswissenschaft zu etablieren, die es erlauben soll, pädagogisch relevantes Wissen aus einer kritischen Analyse der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von Bildung und Erziehung zu entwickeln“ ( S. 218). Abschließend weist der Autor noch auf die von Jürgen Habermas vertretene Meinung hin, dass sich die verschiedenen Wissenschaften „nicht nur nach ihren Gegenstandsbereichen und Methoden, sondern auch und vor allem nach den ihnen zugrundeliegenden Erkenntnisinteressen unterscheiden“ (S. 220).
Koller schließt seine Ausführungen mit Überlegungen zur Bedeutung des methodischen Ansatzes der 'Kritischen Erziehungswissenschaft' für die erziehungswissenschaftliche Forschung ab. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass sich anders als bei der Empirischen Erziehungswissenschaft und der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik aus dem bislang vorhandenem Wissenschaftsverständnis der 'Kritischen Erziehungswissenschaft' noch kein eigener methodischer Ansatz mit konkreten Verfahrensweisen hinsichtlich wichtiger Anstöße für die erziehungswissenschaftliche Forschung ergeben habe.
Diskussion
Der Autor erhebt den Anspruch, die wichtigsten Grundbegriffe, theoretischen Ansätze und methodischen Zugriffsweisen der Erziehungswissenschaft vermitteln zu wollen (vgl. Klappentext).
Dabei wählt er aus seiner Sicht namhafte Theoretiker aus – nimmt somit eine gewisse Selektion vor, welche sicher dadurch ihren Sinn gewinnt, dass es sich um wesentliche Vertreter erziehungswissenschaftlicher Auffassungen handelt. Natürlich kann der Autor hierbei nur in begrenztem Maße auf deren wissenschaftlichen Erkenntnisse hinsichtlich Theorienbildung und Methodeneinsatz eingehen. Somit wird dem Leser – zuvörderst den eigentlichen Adressaten: den Studierenden der Erziehungswissenschaft – der Anreiz zu einer vertiefenden Beschäftigung mit den genannten Experten bezüglich erziehungswissenschaftlicher Grundbegriffe, Theorien und Methoden geboten.
Legt man dem Ganzen zugrunde, dass es sich laut Untertitel des Buches um 'eine Einführung' in die Thematik handelt, so kann man über die relativ geringe und wie gesagt selektive Auswahl der behandelten Erziehungswissenschaftler durchaus hinwegsehen. Vielleicht hätte man auch hin und wieder darauf hinweisen können, dass Vertreter der 'Kritischen Erziehungswissenschaft' wie Klaus Mollenhauer, Ulrike Prokop oder Peter Euler, bei der 'Geisteswissenschaftlichen Pädagogik' beispielsweise Theodor Litt, oder bei der 'Empirischen Pädagogik', Wissenschaftler wie Andreas Helmke oder Sigrid Blömeke nicht Unwesentliches zum Erkenntnisgewinn beigetragen haben.
Fazit
Der Band von Hans-Christoph Koller ist bereits in der 9. Auflage im renommierten Stuttgarter Wissenschaftsverlag W. Kohlhammer erschienen und beweist damit zum einen seine nach wie vor große Aktualität wie auch zum anderen seine hohe Kompetenz für das Auseinandersetzen mit der Erziehungswissenschaft und gerade auch deren Studium.
Er ist somit im Hinblick auf Konzeption, Aufbau und Umsetzung mittels eines klaren und verständlichen Stils jedermann, der sich für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Erziehung und Bildung sowohl theoretisch wie auch praktisch beschäftigt, in hohem Maße zu empfehlen.
Rezension von
Prof. Dr. Dr. habil. Peter Eisenmann
Professor (em.) für Andragogik, Politikwissenschaft und Philosophie/Ethik an der Technischen Hochschule Würzburg-Schweinfurt, Fakultät Angewandte Sozialwissenschaften
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