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Thomas Piketty: Der Sozialismus der Zukunft

Rezensiert von , 12.10.2022

Cover Thomas Piketty: Der Sozialismus der Zukunft ISBN 978-3-406-77734-9

Thomas Piketty: Der Sozialismus der Zukunft. Interventionen. Verlag C.H. Beck (München) 2021. 240 Seiten. ISBN 978-3-406-77734-9. 16,95 EUR.

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Thema

Thomas Piketty ist einer weltweiten Öffentlichkeit vor allem wegen seiner bahnbrechenden Forschungen über (Un-)Gleichheit bekannt. Das vorliegende Werk widmet sich selbstredend diesem Thema, behandelt jedoch im Rahmen der darin versammelten Kolumnen zugleich ein größeres Spektrum: Von einer möglichen Reform der Europäischen Union, einer alternativen Ausgestaltung der Globalisierung über Migration, Klimapolitik, Vermögenssteuer in den USA bzw. Trumps Politik bis hin zu Diskussionen über ein Grundeinkommen in Indien sowie Bolsonaros Brasilien werden unterschiedlichste Themen der politischen Debatte aus den letzten Jahren aufgegriffen. Als einendes Band dieser „Interventionen“ – die im französischen Original „Vivement le socialisme!“, im Deutschen etwas nüchterner „Der Sozialismus der Zukunft“ überschrieben sind –, kann das Nachdenken über gerechtere Formen der Gesellschaftsgestaltung gelten: Welche Alternativen sind warum wünschenswert bzw. wie könnte „eine neue Form des Sozialismus“ aussehen?

Autor

Thomas Piketty lehrt an der École d’Économie und an der École des Hautes Études en Sciences Sociales de Paris. Mit dem Werk „Das Kapital im 21. Jahrhunderts“ erlangte er weit über Fachkreise hinaus Bekanntheit.

Entstehungshintergrund

Das Buch „Der Sozialismus der Zukunft. Interventionen“ versammelt – neben einem bislang unveröffentlichten Vorwort – eine Auswahl einiger zwischen 2016 und 2021 in Le Monde publizierter Kolumnen des Autors.

Aufbau und Inhalt

Das Werk setzt sich aus drei Teilen zusammen, die nach den Jahren des Erscheinens gegliedert wurden.

„Hätte man mir 1990 gesagt, dass ich 2020 meine gesammelten Kolumnen unter dem Titel Der Sozialismus der Zukunft herausbringen würde, hätte ich es für einen schlechten Scherz gehalten“ (S. 9). Als 1971 Geborener, der nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion mit Befremden die „grauen Straßenzüge“ (ebd.) Rumäniens und Russlands besichtigte, war es undenkbar, „Marktwirtschaft und Privateigentum nicht als Teil der Lösung“ (S. 10) anzusehen. Mehr als 30 Jahre später jedoch hat sich Pikettys politische Einstellung gewandelt; ihm läge nun „der Hyperkapitalismus sehr fern“ (ebd.). Mit diesem sehr persönlichen Einstieg beginnt Piketty das Vorwort, das eine Art Programmatik seines Denkens darstellt.

Das Unbehagen und die Kritik an den Auswüchsen des Kapitalismus ist dem Ökonomen zufolge nicht ausreichend; vielmehr müssten Gesellschaftskritiker eine „klar formulierte Alternative“ (ebd.) vorlegen. Ebendies stellt den Anspruch dar, den Piketty erfüllen möchte. Er skizziert im Folgenden Konturen eines sogenannten „partizipativen Sozialismus“, mit denen dem Ökonomen zufolge eine Debatte über ein alternatives Gesellschaftssystem angeregt werden soll.

Zunächst skizziert er hierfür die groben Entwicklungslinien der Eigentumsverhältnisse in den letzten beiden Jahrhunderten. Dabei lässt sich feststellen, dass die Ungleichheit in Europa zurückging. Der Anteil des reichsten 1 Prozent der Gesellschaft lag vor dem ersten Weltkrieg bei circa 55 Prozent am Gesamteigentum, heute liegt er bei ungefähr 25 Prozent (S. 13). Dies stellt eine deutliche Abnahme dar, dennoch liegt der Anteil der reichen Schichten noch über dem fünffachen der ärmsten 50 Prozent, die nur in etwa 5 Prozent des gesamten Vermögens besitzen (ebd.). Trotz des allgemeinen Rückgangs der Vermögensungleichheit liegt sie also weiterhin auf hohem Niveau und profitieren konnte primär die (neue) Mittelschicht.

Piketty sind diese historischen Tendenzen vor allem mit der starken Zerstörung durch die beiden Weltkriege sowie die Reformen des Steuer- und Rechtssystems und die Institutionalisierung des Sozialstaates zu begründen (S. 15). Vor diesem Hintergrund beklagt er die „Stagnation des Sozialstaats“ (ebd.) seit den 1980er Jahren sowie die Kürzung der Bildungsinvestitionen – für ihn eine Verschwendung von Ressourcen.

Um die Ungleichheit weiter einzudämmen, reichen dem Ökonomen zufolge eine veränderte Politik im Bildungs- und Sozialbereich nicht aus; vielmehr benötigen wir den sogenannten „partizipativen Sozialismus“. Unter anderem müssten hierfür die Machtverhältnisse in den Betrieben geändert werden, wobei Piketty hier das schwedische und deutsche Modell der betrieblichen Mitbestimmung nennt (S. 17 f.), das seiner Vorstellung nach um andere Elemente erweitert werden müsste.

Um jedoch tatsächlich etwas – vor allem mit Blick auf den konstanten, erschreckend niedrigen Anteil der Ärmsten der Gesellschaft am Gesamtvermögen – zu verändern, sind radikale Reformen des Steuer- und Erbschaftsrechts notwendig. Unter anderem sieht Pikettys Sozialismus eine Mindesterbschaft von 120 000 Euro (60 Prozent des Durchschnittserbes im heutigen Frankreich) vor, die jedes Individuum im Alter von 25 Jahren ausgezahlt bekommen soll. Daneben müsste ein allgemeiner Zugang zu Grundgütern wie Bildung, Gesundheit und Wohnen staatlicherseits sichergestellt werden, was sich mit einem Grundeinkommen verbindet (S. 22).

Auch die internationale Perspektive nimmt er in den Blick: Piketty möchte „der Ideologie des unbeschränkten Freihandels den Rücken kehren“ (S. 26) und stattdessen ein „Kooperationsmodell“ (S. 27) etablieren, in welchem transnationale Versammlungen gemeinsame Politiken für globale öffentliche Güter wie Klima und Gesundheitsforschung aushandeln. Angesichts der kolonialen Vergangenheit kann eine gerechtere Globalisierung außerdem nur gelingen, wenn zugleich ein System internationaler Transferleistungen etabliert wird (S. 31), das allen Erdenbewohnern Zugang zu Gesundheit und Bildung ermöglicht.

All diese Elemente stellten jedoch, so betont der Ökonom abschließend, lediglich Diskussionsvorschläge dar; ein tatsächlicher Wandel könne letztlich nur gelingen, wenn er von breiten Teilen der Bevölkerung mitgetragen wird (S. 32).

Nach diesem ausführlichen politischen Vorwort versammelt der erste Teil „Für eine andere Globalisierung (2016-2017)“ Kolumnen, die sich unter anderem mit dem IWF, den Gehaltsunterschieden zwischen den Geschlechtern und der Produktivität in Deutschland und Frankreich beschäftigen. Letzteres Thema war damals, ist jedoch auch heute mit Blick auf nationalistisch gefärbte Debatten über ein vermeintlich produktiveres Deutschland, das seine Hausaufgaben gemacht hat, hochaktuell. Piketty weist nach, dass diese auf falschen Prämissen beruhen: Tatsächlich unterscheidet sich die Produktivität, gemessen am BIP pro Arbeitsstunde, zwischen den beiden Ländern kaum (S. 54). Die Differenz liegt primär in der Nutzung derselbigen: „In den letzten Jahren konsumierte und investierte Frankreich jedes Mal, wenn 100 Einheiten von Waren und Dienstleistungen produziert wurden, zwischen 101 und 102 Einheiten auf dem eigenen Territorium. Wenn Deutschland 100 Einheiten produzierte, konsumierte und investierte es nur 92 Einheiten“ (S. 71). So entstehen im Laufe der Jahre große Ungleichgewichte, „die Europa heute vor eine Zerreißprobe“ (ebd.) stellen. Um dieser drohenden Spaltung entgegenzuwirken, müsste Deutschland den hinsichtlich Dauer und Größe des Landes historisch einmaligen Handelsbilanzüberschuss durch eine andere Politik dringend abbauen. Davon unabhängig wäre es jedoch mit Blick auf den Indikator „Produktivität“ und seiner Fallstricke auch notwendig, dass wir uns nicht länger „in fortschrittshemmenden falschen Vergleichen verlieren“ (S. 73).

Einige der Kolumnen im zweiten Teil Reagan hoch zehn (2017-2018)“ stehen unter dem Eindruck der Trumpschen Präsidentschaft und seiner Wirtschaftspolitik. Ein weiteres Kernthema stellt angesichts der damaligen Erfolge der Rechtspopulisten auch in der Europäischen Union und der Debatte um Migration eine mögliche Reform der Europäischen Union sowie der Eurozone dar.

Dieses Sujet dominiert auch den dritten Teil „Wer Europa liebt, muss es verändern (2018-2021)“. Dabei wird deutlich, dass sich seine Kritik vor allem auf zwei Punkte richtet, nämlich die rechtspopulistischen Bewegungen, die gegen Migranten hetzen sowie auch auf andere Parteien, die in ihrem Selbstverständnis zwar pro-europäisch sind, jedoch „den extremen Liberalismus und den Wettbewerb aller gegen alle (Staaten, Unternehmen, Regionen, Einzelpersonen) für eine hinreichende politische Vision“ (S. 146) halten.

Der Ökonom sieht zwischen den beiden einen genuinen Zusammenhang, der in der öffentlichen Debatte stärker in den Blick genommen werden muss, als lediglich die unteren Schichten, die in Wahlen mehrheitlich gegen die EU stimmen, schlicht als „nationalistisch und fremdenfeindlich, wenn nicht gar rückständig“ (S. 169) abzustempeln. Stattdessen müsse man erkennen, dass die EU „gemäß ihrer Konstruktion der letzten Jahrzehnte auf dem allgemeinen Wettbewerb zwischen den Regionen, auf Steuer- und Sozialdumping zugunsten der mobilsten Wirtschaftsakteure“ (S. 169) beruht und damit „objektiv die obersten Schichten“ begünstigt (ebd.). Angesichts dessen ist eine fundamentale, strukturelle Reform der Eurozone und der EU notwendig, um beide langfristig gegen die starke gegenläufige Stimmung erhalten zu können. „Wer Europa liebt, muss es verändern“ stellt also nicht nur die Überschrift über den dritten Teil des Werkes dar, sondern kann zugleich als eigentliches Leitmotiv seiner politischen Interventionen gelten.

Diskussion

Die im Werk versammelten Kolumnen decken eine Vielzahl an gesellschaftspolitisch relevanten Themen ab, deren Aktualitätsgrad differiert. Besonders lesenswert scheinen seine Analysen, die das internationale Geschehen und die Möglichkeiten einer gerechteren Globalisierung in den Blick nehmen. Dass Piketty überhaupt auch diese Perspektive einnimmt, ist für einen Sozialwissenschaftler aus dem Globalen Norden alles andere als selbstverständlich.

Angesichts der Nachrichten über steigende Spreads und einer drohenden neuen Krise in der Eurozone sind vor allem auch die Kolumnen über eine Reform der Eurozone erhellend und brandaktuell. Piketty gelingt es dabei, auch für Nicht-Ökonomen komplexe Sachverhalte an den je tagesaktuellen Fällen verständlich aufzubereiten. Wie am Beispiel des Vergleichs des Produktivitätsniveaus von Deutschland und Frankreich dargestellt, können aus dem richtigen Verständnis ökonomischer Sachverhalte wichtige Erkenntnisse für die breitere Debatte abgeleitet werden. Dass der Fortbestand der Europäischen Union einen seiner zentralen Sorgegegenstände darstellt, macht er hierbei immer wieder deutlich. Seine Kernbotschaft zur Europäischen Union fasst er in einen der Kolumnen wie folgt zusammen: „Unser heutiges Europa muss nicht zwangsläufig von Hayeks Vision geprägt sein. Europa dient gewissen Akteuren gegenwärtig als Flagge, unter der sie ihre Klassenpolitik durchsetzen. Doch wir müssen uns daran erinnern, dass Europa auch anders organisiert sein könnte“ (S. 170).

Als kleiner Kritikpunkt sei angeführt, dass Pikettys Vorschläge partiell äußerst idealistisch und darin an manchen Stellen widersprüchlich anmuten, wenn er beispielsweise angesichts der Zerreißprobe der Europäischen Union für eine Demokratisierung derselbigen wirbt, obwohl er zugleich die populistischen Wahlerfolge kritisiert (S. 145 ff.) – immerhin werfen diese die Frage auf, welche Richtung die Europäische Union bei einer Ausweitung der partizipativen Elemente einschlagen würde.

Insgesamt jedoch sind die Kolumnen als Denkanstöße äußerst lesenswert, wobei vor allem auch das Vorwort hervorzuheben ist. Dieses scheint äußerst aufschlussreich hinsichtlich der politischen Programmatik seines gesamten Werkes. Jedoch hätte sich die Leserin auch hier partiell mehr argumentative Unterfütterung der manchmal etwas im apodiktischen Stil gehaltenen Ausführungen zu den Elementen des partizipativen Sozialismus gewünscht.

Fazit

Piketty ist ein engagierter Intellektueller, der seine wissenschaftlichen Erkenntnisse für eine breite Öffentlichkeit aufbereiten und damit den gesellschaftlichen Diskurs beeinflussen möchte; diesen Anspruch bringt er klar zum Ausdruck: „Die Texte sind nicht mehr als der unvollkommene Versuch eines Sozialwissenschaftlers, aus seinem Elfenbeinturm und seinen tausendseitigen Büchern hinabzusteigen, um sich im politischen Tagesgeschehen einzubringen“ (S. 11 f.). Dies ist ihm mit den hier vorliegenden Interventionen hervorragend gelungen. Seine Kolumnen regen zum Nach- und Weiterdenken an und insofern muss man nicht im Einzelnen mit all seinen Analysen und Vorschlägen zur Umgestaltung der Gesellschaft übereinstimmen, um durch die Lektüre wertvolle Anregungen zu gewinnen.

Rezension von

Professorin für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Sozialpolitik an der OTH Regensburg
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ISSN 2190-9245