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Stefan Böckler: Vermintes Gelände

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 28.03.2023

Cover Stefan Böckler: Vermintes Gelände ISBN 978-3-8382-1527-3

Stefan Böckler: Vermintes Gelände. Eine Streitschrift gegen den Mainstream der deutschen Integrationsdebatte. Dogmen, Paradoxien und Fehlschlüsse im aktuellen Integrationsdiskurs. ibidem-Verlag (Hannover) 2021. 124 Seiten. ISBN 978-3-8382-1527-3. D: 19,90 EUR, A: 20,40 EUR, CH: 23,40 sFr.

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BöcklerIntegration

Strukturelle Defizite im Integrationsdiskurs

Deutschland ist ein Einwanderungsland! Diese mittlerweile durchaus im gesellschaftlichen, öffentlichen Bewusstsein angekommene Auffassung ist trotzdem umstritten. Es gibt immer noch viel zu viele Ego-, Ethnozentristen, Rassisten, Fundamentalisten und extreme Populisten, die sich gegen den Zuzug von Fremden in eine autochthone Gesellschaft wenden: „Das Boot ist voll!“. Es ist das notwendige, begrüßenswerte und weiterführende multikulturelle und -ethische Denken, wie es in der Erklärung der Menschenrechte (1948) zum Ausdruck kommt, dass „die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“, das auch Grundlage für Migration und Integration sein muss.

Entstehungshintergrund und Autor

Wie kann in der globalen und entgrenzenden (Einen?) Welt humanes Bewusstsein entstehen? Welche Strategien und Aufklärungsprozesse müssen stattfinden, damit Identitäten gegen Ideologien gestellt werden? Wie können individuell und gesellschaftlich Empathie, Solidarität und Resonanz gefördert werden? (vgl. z.B. dazu auch: Joachim Bauer, Wie wir werden, wer wir sind. 2022).

Der Sozialwissenschaftler Stefan Böckler hat an der italienischen Universität in Trient über Migrations- und Integrationsfragen geforscht und beim städtischen Statistikamt in Duisburg mitgearbeitet. Er legte 2019 die Feldstudie über Zuwanderungsaspekte im Stadtteil Duisburg-Marxloh vor. Mit dem Essay „Vermintes Gelände“ weist er darauf hin, dass die deutschen Auseinandersetzungen zu Fragen von Migration und Integration weniger objektiv und sachorientiert, sondern aufgeregt, unsensibel und unsachlich geführt werden.

Aufbau und Inhalt

Neben den einleitenden Bemerkungen, in denen der Autor begründet und erläutert, warum er die Streitschrift geschrieben hat, wen er damit erreichen will, und welche Anliegen er damit verbindet, gliedert er den Text in zwei Kapitel. Im ersten fragt er: „Does culture matter?“, indem er über Dogmen, Paradoxien und Fehlschlüsse der Kulturalismuskritik reflektiert. Im zweiten setzt er sich auseinander mit Schuldzuschreibungen, Minderheiten- und Mehrheitenpositionen.

Es ist die Standortsbestimmung, die der Autor nach seiner professionellen Hochschultätigkeit als „Ombudsmann für kulturelle Angelegenheiten“ im großstädtischen Duisburg verbrachte, die bei ihm und seinem Umfeld zu erheblichen Irritationen führte: Sind ethnische, kulturelle Unterschiede unüberwindbar? Wenn er dafür das Bild von einem Minenfeld benutzt, bringt er zum Ausdruck, dass Integrationsauseinandersetzungen gefährlich, verletzend, unbegehbar sein können; etwa Analysen über die Zuwanderung von rumänischen Roma-Angehörigen im Stadtteil. Was ist dabei informierend, was diskriminierend? Sind (kulturelle und soziale) Differenzierungsprozesse zielführend oder störend? Wie lassen sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede, Einfalt und Vielfalt unterscheiden? Welche Stereotypen entstehen, wenn Begriffe wie „Migrationshintergrund“ in alltäglichen, gesellschaftlichen Diskussionen, gar in offiziellen Publikationen verwendet werden? Wenn diese Fragen und Meinungsunterschiede nicht populistisch, sondern sozialpolitisch thematisiert werden, bedarf es wissenschaftlicher Instrumente und Methoden, wie z.B. das „Wandelargument“: Veränderung als Mittel für Entwicklung; das „Ambivalenzargument“: Werte und Normen; das „handlungstheoretisch-situative Argument“: Kulturelle Orientierung; das „grenztheoretische Selektionsargument“: Ethnisch-kulturelle Bedingungen; und schließlich das „Hybridisierungsargument“, als Wechselwirkung. Als äußerst schwierig und problematisch erweisen sich die unterschiedlichen Erwartungshaltungen der Autochthonen und der Zugewanderten: „Werdet so wie wir!“ – „Lass mich Ich sein!“. Assimilation oder Integration? Norm- oder abweichendes Verhalten? Arbeits- oder Armutszuwanderung? Fakten oder Fake News?

Diskussion

Der Integrationsdiskurs in Duisburg-Marxloh konzentriert sich auf Fragen von Einstellungen der Mehrheitsbevölkerung zu den zugewanderten Minderheiten der Sinti und Roma. Es ist nicht zu bezweifeln, dass im nachkriegsdeutschen Erinnerungsdiskurs – jedenfalls bei den informierten, verantwortungsbewussten und aufgeklärten Zeitgenossen – ein (relativ) offenes, objektives Bewusstsein der deutschen Täter-Opfer-Geschichte vorhanden ist. Es äußert sich in der Ablehnung von rassistischen Stereotypenbildungen; jedoch: Neuere Untersuchungen und Erhebungen zeigen, dass viel zu viele Deutsche nach wie vor Rassismen und Fremdenfeindlichkeit in sich tragen (siehe z.B. auch: Achim Doerfer, „Irgendjemand musste die Täter ja bestrafen“, 2021). Es sind logisch unstimmige bis falsche Argumentationsmuster, die vorliegende Fakten- und Forschungsergebnisse über das Gelingen oder Misslingen bei der Integration von Minderheiten in die Mehrheitsgesellschaft bewusst negativ auslegen und bewerten. Dogmatische, ego- und ethnozentristische Einstellungen führen immer zu Missverständnissen, Missachtung, Missgunst und Misstrauen.

Fazit

Stefan Böcklers „Plädoyer für komplexe empirische Einzelfallforschung“ bei Fragen zur Migration und Integration von Minderheiten in die deutsche Gesellschaft stieß, wie der Autor in dem Nachwort „Cancel culture oder der Umgang eines renommierten deutschen Wissenschaftsverlags mit unliebsamen Thesen“ ausdrückt, nicht nur auf Zustimmung. Der Rezensent freilich kann den offensichtlichen Einwand, Böcklers Streitschrift liefere „Steilvorlagen für Rechtspopulisten“, er argumentiere „ völkisch“ und „rassistisch“, nicht bestätigen.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1594 Rezensionen von Jos Schnurer.

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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 28.03.2023 zu: Stefan Böckler: Vermintes Gelände. Eine Streitschrift gegen den Mainstream der deutschen Integrationsdebatte. Dogmen, Paradoxien und Fehlschlüsse im aktuellen Integrationsdiskurs. ibidem-Verlag (Hannover) 2021. ISBN 978-3-8382-1527-3. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28442.php, Datum des Zugriffs 28.05.2023.


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