Karolina Siegert: Lebenswege erzählen
Rezensiert von Prof. Dr. René Börrnert, 03.12.2021

Karolina Siegert: Lebenswege erzählen. Rekonstruktion biographischer Bewältigungsstrategien von Adoleszenten am Übergang Schule-Beruf.
Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung
(Bad Heilbrunn) 2021.
318 Seiten.
ISBN 978-3-7815-2443-9.
D: 46,00 EUR,
A: 47,30 EUR.
Reihe: klinkhardt forschung. Perspektiven sonderpädagogischer Forschung.
Thema
Für die derzeitige Jugendgeneration spielen die eigenen Eltern eine andere Rolle als noch vor einigen Jahrzehnten. Der Nachwuchs wendet sich heute in der Pubertät nicht mehr trotzig von ihren Ahnen ab. Stattdessen gehen die Heranwachsenden heute immer öfter auf die Erwachsenen als Beratende zu, um mit ihnen aktuelle Anforderungen des Lebens zu besprechen. Das gilt auch für Fragen, die sich im Übergang von Schule in Richtung Berufsleben stellen. Forschungsergebnisse zu diesem veränderten Verhalten sind noch rar, stehen aber aktuell im Blick von Psycholog:innen und Sozialwissenschaftler:innen im weitesten Sinne. Insofern ist die vorliegende Studie zu begrüßen. Sie beleuchtet die Komplexität des Prozesses über einen biographischen Zugang. Karolina Siegert erarbeitet mit Blick auf den Übergang von der Schule zum nachhaltigen Leben diese Relevanz des Elternhauses für Adoleszente heraus.
Autorin
Dr.in phil. Karolina Siegert ist Sonderpädagogin und Rehabilitationswissenschaftlerin und aktuell wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sonderpädagogik der Leibniz Universität Hannover.
Aufbau und Inhalt
Das Buch gliedert sich in drei Teile: Theorie – Methodik – Fallbeispiele. Im ersten Teil wird die Zielgruppe der Untersuchung definiert, das sind sogenannte „benachteiligte Jugendliche“. Mit Hilfe der Theorie der Praxis von Bourdieu werden sodann soziale Ungleichheiten erklärt, um anschließend die Lebensphase „Adoleszenz“ in den Blick zu nehmen. Insgesamt bietet der erste Teil eine theoretische Darstellung, die als „sensibilisierendes Konzept verstanden wird und im Prozess der Datenauswertung angereichert und modifiziert worden ist. Die Auswahl, Anordnung und Darstellung ist daher als ein Ergebnis eines Prozesses zu verstehen, der mit der Datenauswertung verwoben ist“ (13).
Im zweiten Teil wird das empirische Vorgehen sehr ausführlich beschrieben (Kapitel 5, 6). Der dritte Teil beinhaltet die Darstellung der Ergebnisse und entsprechende Schlussfolgerungen aus einem Fallvergleich. Anhand der vier Vergleichsdimensionen „Familiales Kapital“, „Institutionalisiertes Kulturkapital“, „Soziales Kapital“ und „Symbolisches Kapital“ zeigt die Autorin sehr lesenswert in den Interviewbezügen die Besinnung der Proband:innen auf das Elternhaus, z.B. „was mich dann doch so n bisschen stolz macht dass ich halt so zeigen kann von was für ner Schule ich komme (…) [und] dass ich dann trotzdem besser verdiene als meine Familie zusammen (282)“. Am Ende formuliert die Autorin biographieorientierte Implikationen auf den Ebenen der Übergangsbetrachtung, der Adoleszenztheorie und der fachpraktischen Nutzbarmachung.
Diskussion
Die Ausbildung einer Identität erscheint für die jungen Menschen der nachwachsenden Generation problematischer denn je, da es eine Unzahl von persönlichen Ausrichtungen gibt, die sie selbst wählen müssen, ohne immer ein Vorbild zu haben. Das gilt auch für die Frage nach dem Beruf. Einerseits sind zahlreiche Ausbildungsstellen verfügbar, die vor einigen Jahren noch rar und begehrt waren. Anderseits steht für viele Jugendliche der Wunsch, die „beste aller Lösungen“ für sich zu finden. In den Entscheidungen sind sie gefordert und nicht selten überfordert. In diesem Zusammenhang gewinnt die Rolle ihrer (leibhaftigen oder sie pflegenden) Eltern eine neue Bedeutung als Beratende und Unterstützende.
Siegert arbeitet in ihrer Dissertation sehr gewissenhaft und kenntnisreich die Facetten der Lebenswelten und entsprechender Bewältigungsstrategien anhand von Fallschilderungen heraus. Gerade im methodologischen und methodischen Abschnitt können hier die am Thema „rekonstruktive Biographieforschung“ Interessierten didaktisch gute Erläuterungen finden. Beachtenswert sind auch ihre Ausführungen zur Subjektivität der forschenden Person im Forschungsprozess (Kap. 6.5). Es gelingt der Autorin, die Fallgeschichten interessant und lesenswert darzustellen. Sowohl offenkundig als auch zwischen den Zeilen ergeben sich zudem Forschungsfragen für weitere Studienarbeiten.
Fazit
Siegerts Studie ist inhaltlich und methodisch empfehlenswert. Im Kern steht die Frage: „Wie erleben und bewältigen Heranwachsende den Übergang von der Schule ins nachhaltige Leben?“. Bei der Beantwortung der Frage erbringt Siegert einen verständlichen Einstieg in das Themenfeld „Adoleszenz“ im biographischen und intergenerativen Kontext. Weiterhin verdeutlicht die Autorin „Bewältigungsstrategien“ anhand von Fallbeispielen. So können Leser:innen auf unterschiedlichen Ebenen in die Lektüre einsteigen und Wissen und Argumente für weitergehende Überlegungen finden.
Rezension von
Prof. Dr. René Börrnert
Fachhochschule des Mittelstands (Rostock)
Mailformular
Es gibt 47 Rezensionen von René Börrnert.