Carolin Butterwegge, Christoph Butterwegge: Kinder der Ungleichheit
Rezensiert von Dr. Christine Kramer, 26.10.2021
Carolin Butterwegge, Christoph Butterwegge: Kinder der Ungleichheit. Wie sich die Gesellschaft ihrer Zukunft beraubt. Campus Verlag (Frankfurt) 2021. 256 Seiten. ISBN 978-3-593-51483-3. D: 22,95 EUR, A: 23,60 EUR.
Thema
Seit etwa der Jahrtausendwende stellen zahlreichen Studien sowie die Sozialberichterstattung auf Länder- und Bundesebene eine zunehmende Kinderarmut fest, die seit etwa drei Jahren bei rund 2,8 Mio. Betroffenen auf Bundesebene stagniert. Die Entstehung der Kinderarmut ist dabei nicht ausschließlich auf persönliche Lebensumstände zurückzuführen, sie ist das Ergebnis struktureller und politischer Entscheidungen in zahlreichen Feldern, von der Steuer- über die Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik sowie die Sozialsysteme bis hin zum Wohnungsmarkt.
Autorin und Autor
Carolin Butterwegge arbeitet als Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Universität zu Köln. Sie hat ihre Doktorarbeit über die Armut von Kindern mit Migrationshintergrund geschrieben und gehört seit 2005 der WASG/Die Linke an. Im Landesvorstand Nordrhein-Westfalen ist sie sozial- und kinderpolitische Sprecherin.
Christoph Butterwegge lehrte bis 2016 Politikwissenschaften an der Universität zu Köln. Er beschäftigt sich seit über einem Vierteljahrhundert mit Kinderarmut und hat dazu sowohl Forschungsprojekte durchgeführt als auch mehrere Bücher veröffentlicht.
Entstehungshintergrund
Das Thema Kinderarmut beschäftigt den Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge seit rund 25 Jahren. Mit seiner Frau, der Sozialwissenschaftlerin Carolin Butterwegge stellt er das Thema nun in einen größeren Kontext: neben der zunehmenden sozioökonomischen Ungleichheit in Deutschland beleuchten die beiden Autoren auch die intragenerationale Beziehung zwischen privilegierten und benachteiligten Kindern und Jugendlichen. Welche langfristigen Folgen wird wohl eine Generation erleben, die heute mit materiell bedingten Nachteilen etwa in den Bereichen Gesundheit, Wohnen, Bildung und Freizeit aufwächst? Und wenn die Autoren im Vorwort ihres Buches von einer „Rechenschaft“ (12) sprechen, die jene den Kindern und Jugendlichen schulden, die das Phänomen der Kinderarmut haben entstehen lassen und seit rund 20 Jahren hinnehmen, so spielen auch intergenerationale Fragestellungen eine Rolle, die etwa auch die Klimadebatte als Jugendbewegung prägt. Carolin und Christoph Butterwegge geben ihren Ausführungen somit einen moralischen Akzent, der einerseits eine Zuspitzung nicht zuletzt aufgrund der verheerenden Auswirkungen auf die „Generation Corona“ bedeutet, zum anderen sozialwissenschaftlich einen deutlichen Kontrapunkt setzt zum 1997 von Ulrich Beck herausgegebenen Buch „Kinder der Freiheit“: Prognostizierte der Münchner Soziologe damals nämlich, „dass unter Umständen weniger Einkommen und Status, die einhergehen mit mehr Selbstentfaltung- und Selbstgestaltungsangeboten, nicht als Ab- sondern als Aufstieg erlebt, also gesucht werden“ (Beck, zit. n. Butterwegge, 87), so weisen Carolin und Christoph Butterwegge darauf hin, dass Kinder und Jugendliche ohne sozioökonomische Sicherheit von einem solchen Leben nur träumen: „Kinder der Ungleichheit“ können keine „Kinder der Freiheit“ sein. (87)
Aufbau
Das Buch ist sehr übersichtlich aufgebaut. Nach der Einleitung erfolgt eine bei der Komplexität des Phänomens „Kinderarmut“ hilfreiche Definition der zentralen Begriffe Armut, Reichtum und Ungleichheit. Dies ist insofern wichtig, weil Armut und Ungleichheit definitorisch nicht deckungsgleich sind, die Autoren jedoch einen Zusammenhang sehen, wie sie gleich im ersten Satz klarstellen: „Jene sozioökonomische Ungleichheit, die von den benachteiligten Menschen oftmals als soziale Ungerechtigkeit empfunden wird und fast zwangsläufig politische Ungleichheit nach sich zieht, manifestiert sich im Gegensatz von Arm und Reich.“ (14) Diese klassische Ungleichheitsthese vertritt Christoph Butterwegge seit vielen Jahren; seine Forschungen haben demnach ergeben, dass „Ausgangspunkt und Kristallisationspunkt der Ungleichheit die Tatsache [ist], dass sich der Reichtum in den Händen weniger befindet.“ (14)
Die zweite Bedingung für den Butterwegge‘schen Armutsbegriff ist die Konturierung einer relativen Armut in einem wohlhabenden Land wie der Bundesrepublik – dies, so die Autoren, sei der eigentliche Skandal der derzeitigen bundesweiten Kinderarmutsrisikoquote von 20,5 Prozent. Mit dieser Definition schließt sich Butterwegge der sozialpädagogischen Bestimmung von Kinderarmut (etwa AWO ISS-Studie) an, nach der arm zu sein eine multiple Einschränkung des personalen Lebens bedeute, die insgesamt zu einer strukturell bedingten Benachteiligung in unserer gegenwärtigen Gesellschaft führe:
- „Mittellosigkeit und Ver-/Überschuldung als Folge mangelnder Erwerbsfähigkeit, fehlender Arbeitsmöglichkeiten oder unzureichender Entlohnung;
- Einen dauerhaften Mangel an unentbehrlichen und allgemein für notwendig erachteten Gütern, die es Menschen ermöglichen, ein halbwegs ‚normales‘ Leben zu führen;
- Eine strukturelle Benachteiligung in unterschiedlichen Lebensbereichen wie Arbeit, Wohnen, Mobilität, Freizeit und Sport;
- Der Ausschluss von (guter) Bildung, (Hoch-)Kultur und sozialen Netzwerken, welche für die gesellschaftliche Inklusion nötig sind;
- Eine Vermehrung der Existenzrisiken, Beeinträchtigungen der Gesundheit und eine Verkürzung der Lebenserwartung;
- Einen Verlust an gesellschaftlicher Wertschätzung, öffentlichem Ansehen und damit meist auch individuellem Selbstbewusstsein;
- Macht- und Einflusslosigkeit in allen gesellschaftlichen Schlüsselbereichen (Wirtschaft, Politik, staatliche Verwaltung, Justiz, Wissenschaft und Massenmedien)“ (22).
Diese Definition vorausschickend, fächern Carolin und Christoph Butterwegge in insgesamt neun Kapiteln die wichtigsten Ursachen, Betroffenengruppen, Wirkungsfelder, Argumente und Lösungsansätze auf, resümieren das Thema im Hinblick auf die Corona-Krise und verdichten es so zu einem umfassenden politischen Aktionsfeld, das immer akuter einer entschlossenen Bearbeitung bedarf. Dass die Autoren, vor allem im letzten Kapitel „Ungleichheit bekämpfen, Armut beseitigen und Reichtum begrenzen!“ bekannte Positionen aus ihren zahlreichen Veröffentlichungen wiederholen, kann daher als symptomatisch gesehen werden.
Inhalt
Die Bearbeitung des Themas hebt mit der zunehmenden sozioökonomischen „Schere“ in der Bundesrepublik an, die sich, so die Autoren, seit Jahren immer weiter öffne. Daher sei Armut im oben beschriebenen Sinne kein Phänomen von „Randgruppen“: Die Lohnquote sei seit 2007 zwar kontinuierlich auf über 73 Prozent im vergangenen Jahr angestiegen, gleichzeitig bilde sie jedoch nicht die auf einen Rekordwert gestiegene Anzahl der abhängig Beschäftigten ab. Die Ursache sehen die Autoren in prekären Beschäftigungsverhältnissen und im Niedriglohnsektor.
Das 3. Kapitel ist das zentrale Stück des Buches, in dem die Autoren ihre These darlegen, dass in der Bundesrepublik „die Sozialstruktur zersplittert“ und die „Polarisierung der Lebenslagen“ auf die nachwachsende Generation abfärbt, sodass sich Kindheiten heute zunehmend nach der sozioökonomischen Lage konturieren und sich voneinander entfernen. Hier resümieren die Autoren den Forschungsstand insbesondere zu den sozialen und kulturellen Auswirkungen von Kinderarmut, die von mangelnder Bildung und Teilhabe geprägt sei und rechnen mit dem Bildungs- und Teilhabepaket (BuT-Paket) ab, das sogar das Bundesverfassungsgericht inzwischen für verfassungswidrig erklärt habe (63). Gleichzeitig kontrastieren die Autoren das Wissen über Kinderarmut entsprechend ihrer Argumentationslinie mit den „reichen Kindern“: „Wo und wie sie leben, weiß kaum jemand genau.“ (64) Zielargument dieser Schilderungen ist eine Kritik an der Erlassung der betrieblichen Erbschaftssteuern sowie der erbschaftssteuerlichen Begünstigung wohlhabender Mittelschichtsfamilien.
Das 4. Kapitel widmen die Autoren den von einem Armutsrisiko besonders betroffenen Alleinerziehenden, Arbeitslosen und Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit sowie kinderreichen Familien. So sei die Armutsrisikoquote bei sog. Ein-Eltern-Familien bis 2019 auf 43 Prozent gestiegen, von den 1,5 Millionen Alleinerziehenden in Deutschland seien 1,3 Millionen Frauen (82). Seit Ende der 1990er-Jahre habe sich die Situation der alleinerziehenden Mütter zunehmend verschlechtert, die Abhängigkeit von staatlichen Transferleistungen entsprechend erhöht (84). Auch Paare mit drei und mehr Kindern seien heute einer Armutsrisikoquote von über 30 Prozent ausgesetzt und hätten auch ein vergleichsweise niedriges Pro-Kopf-Einkommen, was damit zusammenhänge, dass die Kinder zumeist durch die Mütter betreut würden.
Die Autoren tragen auch die Zahlen der Kinder in „SGB-II-Bedarfsgemeinschaften“ zusammen (hier schwanken die Angaben zwischen 1,9 Mio. und 3 Mio., je nachdem welche Familien man konkret dazu zählt und ob man eine Dunkelziffer hinzurechnet, 89), rechnen den Hartz IV-Bezug (der leicht gesunken ist) mit den EU-Kriterien der Armutsrisikoschwelle gegen, was den Anstieg der Armutsrisikoquote in den vergangenen zehn Jahren auf nun über 20 Prozent begründe und werfen ein Schlaglicht auf die zunehmende Segregation insbesondere in Großstädten, wie etwa Köln, wo die Armutsrisikoquote in den 86 Stadtteilen zwischen 0 und 60 Prozent liege (90). Da in den Bildungseinrichtungen zusätzlich aktiv „selektiert“ werde, kämen die Kinder und Jugendlichen nicht zusammen und wachse eine Generation von jungen Menschen auf, die möglicherweise „weniger Empathie, Solidarität und Verständnis für jene Altersgenoss(inn)en entwickeln, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen“ (91).
Hier ist dann auch das Argument zu finden, das dem Buch den Titel gab: Anders als Ulrich Beck 1997 prognostizierte, habe die Spätmoderne eben nicht nur „Kinder der Freiheit“ hervorgebracht, die soziale Werte, Selbstbestimmung und Zeitgewinn gegen Einkommen und Karriere tauschen, sondern ein Fehlen grundlegender materieller Sicherheiten schaffe „Kinder der Ungleichheit“. (87) Der Beck‘schen Perspektive stellen die Autoren die sog. Regelbedarfe des Hartz IV-Satzes gegenüber, der für Kinder je nach Alter zwischen 283 und 373 Euro im Monat liegt. Auch hier, so erläutern die Autoren, hat das Bundesverfassungsgericht Nachbesserungen gefordert, weil es unzulässig sei, vom Regelsatz der Erwachsenen einfach einen Prozentsatz den Kindern zuzubilligen, gestaffelt nach Alter, da Kinder altersspezifische Bedarfe hätten. (92) Die hier ansetzende Debatte um die Kinderrechte und die Anerkennung der Kinder als autonome Subjekte führen die Autoren jedoch nicht aus.
Äußerst heterogen stellt sich die Lage bei Menschen mit Migrationshintergrund sowie Geflüchteten dar. In dem interessanten Kapitel belegen die Autoren nicht nur die Realitätsfremdheit jeglicher Pauschalisierung, sie zeigen anhand der großen Spannbreite der sozioökonomischen Situation zwischen absoluter Armut bei unbegleiteten geflüchteten Kindern bis hin zu Mittelschichtskindern aus wohlhabenden EU-Ländern wie Frankreich oder Großbritannien auch die konsolidierte Lage im Einwanderungs- und Asylland Deutschland auf. Insgesamt kann man aber, so die Autoren, über eine „Ethnisierung der Kinderarmut“ sprechen, wobei hier Kinder aus Syrien, dem Irak, Afghanistan und vom afrikanischen Kontinent erwartungsgemäß am stärksten betroffen seien. Bei den EU-Ländern haben es Familien aus Bulgarien (40 % Armutsrisikoquote) besonders schwer, unter den Drittstaaten sei die Situation der Menschen aus dem Kosovo (37 %) und Serbien (30 %) schwierig.
Bei den Asylsuchenden Menschen splittere sich die Lebenslage noch weiter ungünstig auf, wenn die Sprache gelernt werden müsse, die Unterkunft in Wohnheimen über Monate und Jahre einen beengten Wohnraum bedeute und die Unterhaltsleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz unter dem SGB-II-Satz liege, sodass hier ein Leben am Existenzminimum konstatiert werde. Hinzu kämen sehr heterogene Aufenthaltsregelungen, erschwerte Zugängen zu Sprachkursen und zum Arbeitsmarkt aufgrund nicht anerkannter Berufsabschlüsse und geringerem Stundenlohn (8 Euro). Für Kinder stelle die Situation nicht nur eine enorme Herausforderung dar; die Autoren betonen auch noch einmal die immense Bedeutung der Bildungseinrichtungen in Deutschland, die den Kindern durch (Sprach-)Förderung eine reale Chance bieten könnten, im Land anzukommen.
Kapitel 5 widmet sich den Zugängen zu Bildung, Beruf und Gesundheitsleistungen sowie den „infrastrukturellen Ungleichheiten“ im Zusammenhang mit sozialräumlichen Bedingungen. Die Segregation vor allem in Großstädten ist dabei gut untersucht, und die Autoren führen eine Studie aus 77 deutschen Großstädten an, die belege, dass die überproportionale Belastung durch Mieten bis zu 48 Prozent des Nettoeinkommens die Armutsrisikoquote erhöhe. In 36 von 74 untersuchten deutschen Städten liege die Zahl der Kinder, die Sozialleistungen erhielten bei über 50 Prozent. In Ostdeutschland habe die „Segregation von SGB-II-Bezieher(inn)en“ das Niveau „US-amerikanischer Metropolregionen“ erreicht. (109)
Im Hinblick auf die Bildung beklagen die Autoren die „selektiven Strukturen eines mehrgliedrigen Schulsystems“ sowie die daraus folgende Konzentration armutsgefährdeter Kinder auf Haupt- (48,2 % in NRW) und Förderschulen (38,4 %). Bereits an anderer Stelle hat Christoph Butterwegge darauf hingewiesen, dass Armut keine Folge mangelnder Bildung sei, sondern dass Bildungsdefizite zu den Folgen der Armut gerechnet werden müssen. Dabei entstünden die Bildungsnachteile an den Übergängen bei der Einschulung, der weiterführenden Schule, dem Eintritt in die Sekundarstufe II oder in eine Berufsausbildung bzw. ein Studium (123). Die Autoren wiederholen die bekannten Erkenntnisse über die Folgen des gegliederten Bildungssystems in Deutschland, die ungleichen Chancen aufgrund von Herkunft, Migrationshintergrund und Geschlecht sowie die Beständigkeit der bildungsbezogenen Ungleichheit bis in die Hochschulen hinein. Zudem würden Bildungsunterschiede laut den Autoren zu sehr als dispositionelle Differenzen interpretiert, womit die gesellschaftlichen Ursachen „wegdefiniert“ würden (117). Die Zunahme von privaten Bildungseinrichtungen erhöhten die Ungleichheit noch zusätzlich, die Autoren interpretieren dies als Reaktion auf eine „staatliche Austeritätspolitik, durch die das öffentliche Bildungswesen mancherorts in einen katastrophalen Zustand geraten ist.“ (120)
Bei den Lebenserwartungen und dem Gesundheitszustand im Zusammenhang mit Kinderarmut gibt es inzwischen ebenfalls eine Fülle von Studien. Danach sei die Lebenserwartung armutsgefährdeter Männer um 10,8 Jahre, der von Frauen um 8,4 Jahre geringer. Bei den Kindern mit Armutsrisiko sei nicht nur die Fähigkeit, aus materieller Unterversorgung entstehende Belastungen wegzustecken geringer, sondern auch ernährungsbedingte Defizite sowie psychische Belastungen höher. Studien, die dies belegen und darüber hinaus vor den langfristigen Folgen eines Aufwachsens unter den genannten Bedingungen warnen, hätten bisher kaum zu politischen Konsequenzen geführt.
Im 6. Kapitel stellen die Autoren neben den Auslöser von Kinderarmut – d.h. persönliche Bedingungen und Umstände – Ursachen im Feld der gesellschaftlichen Verhältnisse und formulieren eine Kritik am Kapitalismus, Neoliberalismus und politischen Fehlentscheidungen, die von der Bundesregierung bis auf die Ebene kommunaler Verwaltungen reichten. Neoliberalismus halten die Autoren für die „einflussreichste Spielart des Antiegalitarismus“ (136). Demnach sei er eine „Weltanschauung“ „mit [der] Kernforderung nach einer Liberalisierung bzw. Deregulierung der Märkte, einer Privatisierung des öffentlichen Eigentums und der sozialen Risiken, einer Ökonomisierung der zwischen-menschlichen Beziehungen sowie der Kommerzialisierung fast aller Lebensbereiche“ (136).
Weitere Themen des Kapitels sind die von Christoph Butterwegge bereits mehrfach publizierte Kritik an Hartz IV, eine Reform, unter der vor allem die Kinder leiden würden, die Entwicklung am Wohnungsmarkt sowie die Familien- und Steuerpolitik. Hartz IV, „die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe“ (140), und das Ende des Bismarck’schen Sozialstaats mit seinem „Prinzip der Lebensstandardsicherung“ (ebd.) übersteige nicht das Niveau der Sozialhilfe. Stattdessen seien „Bedarfsgemeinschaften“ geschaffen worden, die bei der Bedarfsprüfung zusammengesehen würden, wenn sie eine Wohnung teilten. Der Druck auf die Empfänger dieser neuen Sozialhilfe führe dazu, dass sie Arbeitsstellen im Niedriglohnsektor annähmen, und dies, so die Autoren, war das Ziel der Arbeitsmarktreform. Der inzwischen sprichwörtliche Paternostereffekt trat ein: die einen verdienten immer mehr, die anderen weniger oder anders gesagt: die Unternehmen und Aktionäre strichen höhere Gewinne ein, während Löhne und Gehälter sanken.
Fatal wirke sich diese Entwicklung am Wohnungsmarkt aus, es „besteht ein antagonistischer Widerspruch, der sich innerhalb des kapitalistischen Wirtschaftssystems nicht auflösen lässt“, denn der Arbeitsmarkt federe die steigenden Mieten nicht ab, weil Arbeit und Wohnen laut den Autoren den gleichen Systemen angehörten: die größten deutschen Immobilienunternehmen, Vonovia und Deutsche Wohnen, sind Dax-Konzerne. Ein weiteres Übel am Wohnungsmarkt sei das US-Internetportal Airbnb, das zu einer „spürbaren Reduktion des Wohnungsbestandes“ geführt habe. Gleichzeitig sei die Zahl der öffentlich geförderten Wohneinheiten von 2,5 Mio. zu Jahrtausendwende zurückgegangen auf 1,14 Mio. im Jahr 2019.
Für die Autoren ist jedoch in erster Linie das „Abdrängen der Langzeiterwerbslosen […] in den Fürsorgebereich“ verantwortlich für die Verdoppelung der Kinderarmut seit Einführung der Hartz-Reformen. Zusatzleistungen und Beihilfen seien ersetzt worden durch Regelbedarfe, die auch unter der Merkel-Regierung nicht signifikant angehoben wurden.
In der Familienpolitik hätten steuerliche Kinderfreibeträge für einkommensstarke Familien und geringeres Kindergeld bei einkommensschwachen Familien sowie die erschwerte Vereinbarkeit von qualifizierter Erwerbsarbeit und Kinderbetreuung vor allem für Alleinerziehende und Geringverdienende dafür gesorgt, dass eine Leistungsgerechtigkeit die Bedarfsgerechtigkeit abgelöst habe: Kinder bezeichnete die Bundesregierung in ihrem 5. Familienbericht als „Humanvermögen“ und belohne, so die Autoren, Eltern, die ihre Kinder selbst betreuen und erziehen. Auch unter Familienministerin von der Leyen wurden, so die Autoren, Familien über die steuerliche Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten unterstützt, während Familien, die keine Steuern zahlten, weil ihr Verdienst zu gering sei, keine Förderung erhielten. Auch das 2007 eingeführte Elterngeld bevorzuge die „Besserverdienenden“, so die Autoren (158). Die Erhöhung des Kindergelds zwischen 2019 und 2021 wurde als „zusätzliches Familieneinkommen auf die Transferleistung“ angerechnet, womit die Bezieher*innen von Hartz IV-Leistungen erneut nicht profitierten. Die Autoren diskutieren außerdem das „Gute-Kita-Gesetz“ („Tropfen auf den heißen Stein“, 160) sowie das „Starke-Familien-Gesetz“ mit der Einführung des Kinderzuschlags („Beantragung und Berechnung kompliziert bzw. aufwendig“, ebd.) und kommen erneut auf ihr Argument zurück, dass diese Gesetze dazu dienen „statistische Erfolge im Kampf gegen die Familienarmut zu erzielen“ während sich an der „Sozialen Benachteiligung“ nichts ändere (161). Die Steuerpolitik, so das schon an anderer Stelle publizierte Argument von Christoph Butterwegge, erfolge nach dem „Matthäus-Prinzip“ (162) Vor allem zwischen 2008 und 2014 habe die Bundesregierung zu einer Vergrößerung der Armut beigetragen, weil, so ein zitierter Bericht der EU-Kommission, „die bedarfsabhängigen Leistungen real und im Verhältnis zur Einkommensentwicklung gesunken sind.“ (165) Die Autoren sehen diese Entwicklung in der Abschaffung der Vermögenssteuer 1997, der Absenkung des Einkommensspitzensteuersatzes von 53 % auf heute 42 %, die Einführung einer pauschalen Abgeltungssteuer auf Kapitalerträge, der Erhöhung der Mehrwertsteuer sowie der schrittweisen Abschaffung des Solidaritätszuschlags.
Im 7. Kapitel fassen die Autoren die Entwicklungen seit Beginn der Corona-Pandemie im Winter 2020 zusammen. Sie wollen belegen, dass das Virus nicht zu Ungleichheiten geführt, sondern die schon bestehenden ungleichen Bedingungen im Bereich Gesundheit, Lebenslage, Einkommens-, Vermögens- und Wohnverhältnisse aufgezeigt und verschärft habe (170). Die Autoren vergleichen auch die finanziellen Kompensationen für Arbeitnehmer, Langzeitarbeitslose, Hartz IV-Bezieher, Kommunen und Unternehmen. Vor allem an den Informationen zu Home-Office, Sorgearbeit vor allem von Frauen, die finanzielle Situation von Alleinerziehenden und Eltern zeigen die Autoren auf, dass erneut die gleichen Anspruchsgruppen vom Staat unterstützt wurden, wie vor der Pandemie.
Ferner unterstützen die Autoren das Schlagwort von der „Generation Corona“, weil aufgrund der bekannten Nachteile für Kinder und Jugendliche im Bildungssystem – von der Kita bis zu Hochschule und Ausbildungsplatz – das Aufwachsen „erheblich beeinträchtigt und die Pandemie als biografische Zäsur gewirkt“ habe (182). Gleichzeitig halten sie das Schlagwort von der „Generation Corona“ zum Teil für eine Inszenierung, die aus den „soziökonomischen Interessengegensätzen“ einen Generationenkonflikt gemacht habe, der eigentlich ein Konflikt von „Klassen und Schichten“ sei.
Die Krise beleuchten die Autoren anhand der Situation der Schulen und ziehen Bilanz für eine „Krise der Kindheit“ sowie „Kinder der Krise“ (209) an den Eckmarken der digitalen Ausstattung, der wohnlichen und familiären Bedingungen im Homeschooling, der Mediennutzung sowie den Nachbesserungen für Hartz IV-Empfänger. Sie stellen die Situation der Kinder und Jugendlichen nicht zuletzt in einen Zusammenhang mit elementaren Schutz-, Fürsorge- und Beteiligungsrechten. Dass die Regierung alle „gesundheits-, wirtschafts- und sozialpolitischen Maßnahmen“ ohne Einbeziehung von Kindern und Jugendlichen durchgeführt habe, bewerten die Autoren kritisch, da Deutschland der UN-Kinderrechtskonvention zugestimmt habe. Erst im Frühjahr 2021 gab es ein Hearing der damaligen Bundesjugendministerin zu „Corona, Jugend und die Folgen“; wenig später wurde das Ministerium der zurückgetretenen Franziska Giffey dem Bundesjustizministerium zugeschlagen, anstatt die Position neu zu besetzen. Eine in den Augen der Autoren „fatales Signal“ (210). Fatal auch, dass die Systeme der sozialen Arbeit weitgehend handlungsunfähig waren in einer Situation, „die Armutslagen verfestigt, Bildungsbenachteiligung durch Schulschließungen verstärkt, sowie Heranwachsende mit ihren Ängsten auf sich selbst und ihre Familien zurückgeworfen hat“ (211). Zahlreiche Studien, die die Autoren zitieren, belegten die hohe Belastung der Schüler*innen während der Krise.
Eine Vision von Gleichheit und Solidarität entwickeln Carolin und Christoph Butterwegge in Kapitel 8. Die Autoren plädieren für eine klare Umverteilungspolitik und mahnen an, die Gesellschaft benötige „mehr Sensibilität für Prozesse, die zu Prekarisierung, Marginalisierung und Pauperisierung führen“. Damit müsse das Thema Kinderarmut von den unmittelbar betroffenen Familien, den Beschäftigten im Bildungs- und Sozialsektor auf die Ebene konkreter staatlicher Interventionen gehoben werden. Insbesondere kritisieren die Autoren die Auffassung, die Wirtschaft müsse gestärkt werden, damit in die Sozialsysteme eingezahlt werde. Umgekehrt meinen sie, dass es die soziökonomische Kluft zwischen „arm und reich“ sei, die eine Volkswirtschaft belaste, weil sie das Wirtschaftswachstum ausbremse. Was hier in den Augen der Autoren nötig sei, erläutern sie im abschließenden 9. Kapitel.
Zu den zentralen Forderungen gehört, dass die Ungleichheit insbesondere unter Kindern und Jugendlichen innerhalb der staatlichen Systeme bearbeitet werden müsse und nicht einer „Privatisierung des Sozialen“ unterworfen werden sollte, weil dadurch „die dem Problem zugrundeliegenden Strukturen nicht infrage gestellt und die sozioökonomischen Entstehungsursachen der Armut möglicherweise sogar zementiert werden.“ (241)
Die nun wieder vermehrt diskutierte Kindergrundsicherung sehen die Autoren kritisch, da sie enorme Kosten verursache, die Familien in Armutslebenslagen jedoch zu wenig unterstütze. Vor die Wahl gestellt zwischen eine pauschale Kindergrundsicherung und einen massiven Ausbau der Sozial- sowie Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur – beides sei schließlich nicht bezahlbar – ziehen die Autoren zur Bekämpfung der Familienarmut letzteres vor. Dies habe den Vorteil, dass die Betroffenen gezielt unterstützt werden könnten, anstatt alle gleich zu behandeln, wie es die Kindegrundsicherung vorsieht. Arbeitsmarktpolitisch sehen die Autoren Chancen in der Angleichung der EU-Armutsrisikoschwelle von 60 % des Medianeinkommens an den Mindestlohn, der dann in Deutschland bei 12 Euro liegen würde. Zu Verringerung der Erwerbslosigkeit schlagen die Autoren eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit sowie ein „gesetzliches Verbot bezahlter Überstunden“ vor; dazu die Steigerung der Erwerbstätigkeit von Frauen und die Anhebung der Löhne und Gehälter in „typischerweise von Frauen ausgeübten Berufen“. (254)
Eine Benachteiligung sehen die Autoren auch in der steuerpolitischen Förderung der Ehe anstatt der Elternschaft, weil verheiratete Paare auch dann Vergünstigungen erhalten, wenn sie keine Kinder hätten, während Paare mit Kindern benachteiligt würden, sofern sie nicht verheiratet seien. (255). Dies spiegele, so die Autoren, nicht mehr „die veränderten Lebens- und Liebesformen im 21. Jahrhundert“ wider. (255) Das „Ehegattensplitting“ müsse gegen eine Individualbesteuerung oder ein Familiensplitting ausgetauscht werden. Ziel müsse sein, dass der Kinderfreibetrag bei Spitzenverdienern ins Verhältnis gesetzt werde zum Kindergeldsatz einer „Normalverdienerin“, weil die Kluft zwischen beiden „mit dem Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes nicht vereinbar sei“. (256)
Die Stärkung der sozialen Infrastruktur sei ein weiteres zentrales Element, um mehr Gerechtigkeit zu schaffen. Dies betreffe insbesondere die kommunalen Strukturen mit entsprechender personaler Ausstattung sowie „öffentlich finanzierten (kostenfreien), gut ausgestatteten und attraktiven kinder-, jugend- und familienbezogenen Infrastruktur als Alternative zu kommerziellen Angeboten der Kinder- und Jugendfreizeit, die ausschließlich für kaufkräftige Minderjährige infrage kommen.“ (259 f.)
Ferner erwarten sie eine Stärkung der Kitas, sowohl was die Ausstattung mit Kita-Plätzen als auch die Bezahlung der Erzieher*innen angeht, um die unterbesetzten öffentlichen Einrichtungen zu fördern. Die Gebührenordnung auf kommunaler, länderspezifischer und gänzlich privater Trägerschaft müsse überdacht werden, weil sie zwischen kostenfreien Angeboten und Gebühren von mehreren hundert Euro schwanke (263).
In der Bildungspolitik beklagen die Autoren das mehrgliedrige Schulsystem, wenn sie auch eine Zweigliederung und den Ausbau der Gesamtschulen begrüßen und fordern die Abschaffung von Klassenwiederholungen.
In der Wohnungspolitik werfen die Autoren sogar das Thema „grundlegende Kurskorrektur in der Raumordnungs-, Stadtentwicklungs- und Wohnungspolitik“ (274) auf. Dazu gehöre eine Verankerung eines „Grundrechts auf Wohnraum“ in der Verfassung (276) sowie eine „Wiederbelebung des sozialen Wohnungsbaus“ (278).
Als letzten Punkt wiederholen die Autoren ihre Forderung nach einer stärkeren Besteuerung von „Reichen und Hyperreichen“ (279). Dazu gehöre die Wiedereinführung der Vermögenssteuer, die das Bundesverfassungsgericht 1997 als verfassungswidrig eingestuft hat. Am Ende, so resümieren die Autoren, müsse „die Frage erlaubt sein, wie durch Staatseingriffe unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit dafür gesorgt werden kann, dass Armut, statt nachträglich verringert oder beseitigt zu werden, erst gar nicht entsteht.“ (283)
Diskussion
Carolin und Christoph Butterwegge gelingt es in ihrem Buch, die komplexen Einflüsse und Aspekte, die zu einer höheren Kinderarmutsrisikoquote und zu mehr Ungleichheit geführt haben, verdichtet darzustellen und die Fülle der Publikationen zum Thema zu einer gut lesbaren, interessanten sozialpolitischen Lektüre zusammenzuführen.
Insbesondere in der Zusammenschau der zahlreichen Probleme – etwa in der Steuer-, Bildungs-, Sozialpolitik – die seit Jahren bekannt sind, ohne dass sich etwas grundlegend geändert hätte, wird deutlich, dass Kinderarmut das Ergebnis einer eher systematischen Schieflage ist. Und die langfristigen Folgen der Corona-Krise insbesondere für Kinder und Jugendliche sind nicht absehbar. Diese Gemengelage in den Status eines „Generationenkonflikts“ bzw. eines neuen Generationenvertrags zu stellen, scheint durchaus berechtigt.
Solidarität, so wünschenswert sie als gemeinschaftlicher Wert ist, wird da ganz sicher nicht reichen. Hinzu kommt, dass soziale Probleme zunehmend innerhalb des von den Autoren kritisierten kapitalistischen Systems bearbeitet werden anstatt von staatlicher Seite; dies gehört eben auch zu den gesellschaftlichen ökonomischen Wandlungen der vergangenen Jahre. Längst sind zentrale Angebote im Bereich des Sozialen, der Bildung und Kultur ohne privatwirtschaftliches Engagement nicht mehr denkbar. Gleichwohl sind staatliche Eingriffe in der sozialen Grundversorgung wie Wohnen, Energie, Schulbildung, Jugendarbeit unverzichtbar, um die gesellschaftspolitischen Folgen des europaweit höchsten deutschen Niedriglohnsektors nachhaltig zu bearbeiten.
Fazit
Das Thema Kinderarmut beschäftigt den Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge seit rund 25 Jahren. Mit seiner Frau, der Sozialwissenschaftlerin Carolin Butterwegge stellt er das Thema nun in einen größeren Kontext. Seit etwa der Jahrtausendwende gibt es Deutschland eine zunehmende Kinderarmut. Die Entstehung der Kinderarmut ist u.a. das Ergebnis struktureller und politischer Entscheidungen auf zahlreichen Feldern, von der Steuer- über die Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik sowie die Sozialsysteme bis hin zum Wohnungsmarkt. Zahlreiche Wissenschaftler und Verbände haben vorgerechnet, wie die Kinderarmut durch beherzte politische Maßnahmen verringert, wohlmöglich sogar beseitigt werden könnte. Geschehen ist allerdings wenig. Rechtzeitig zur neuen Legislaturperiode fassen Carolin und Christoph Butterwegge Debatten, Ursachen und Reformvorschläge zum Thema zusammen und formulieren Lösungsvorschläge im Bereich Arbeits- und Wohnungsmarkt, Steuer-, Sozial- und Bildungspolitik.
Rezension von
Dr. Christine Kramer
Studium der Angewandten Kulturwissenschaften Uni Lüneburg, Promotion Uni GH Essen. Derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Bielefeld. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Kulturwissenschaften; Kultursoziologie; Interkulturalität; Identität; Digitalität und Ungleichheit.
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Zitiervorschlag
Christine Kramer. Rezension vom 26.10.2021 zu:
Carolin Butterwegge, Christoph Butterwegge: Kinder der Ungleichheit. Wie sich die Gesellschaft ihrer Zukunft beraubt. Campus Verlag
(Frankfurt) 2021.
ISBN 978-3-593-51483-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28453.php, Datum des Zugriffs 13.01.2025.
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