Lothar Böhnisch: Zwischenwelten
Rezensiert von Moritz Tebbe, 29.06.2021

Lothar Böhnisch: Zwischenwelten. Eine Gesellschaftstheorie für die Soziale Arbeit.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2021.
208 Seiten.
ISBN 978-3-7799-6329-5.
D: 16,95 EUR,
A: 17,50 EUR.
Reihe: Zukünfte.
Thema
Lothar Böhnisch legt mit der Theorie der „Zwischenwelten“ in engem Bezug an die Soziale Arbeit gesellschaftstheoretische Impulse und Diskussionen dar, welche auf dem theoretischen Fundament der„Zivilisationstheorie“ nach Norbert Elias und dem Gegenstand der „Informalisierung“ nach Cas Wouters geführt werden. Die zentrale These Böhnischs ist, dass durch eine kapitalistische Gesellschaft psychosoziale und soziale Probleme in sogenannte „Zwischenwelten“ abgespalten werden, welche der Sozialen Arbeit zur Bearbeitung auferlegt werden. Böhnisch argumentiert für die Angewiesenheit des Kapitalismus auf die sozialen und ökologischen Probleme, welche durch die kapitalistische Gesellschaft ausgelöst wurde.
Autor
Prof. Dr. rer. soc. habil. Lothar Böhnisch (* 17. Juni 1944) war bis 2009 Professor für Sozialpädagogik und Sozialisation der Lebensalter an der Technischen Universität Dresden und ist darüber hinaus aktuell Professor an der Freien Universität Bozen. Zu seinen Arbeits- und Forschungsschwerpunkten zählen unter anderem die Jugendarbeit, die männliche Sozialisation(-sforschung), Generations- und Geschlechterfragen und die zentrale Herausforderung der Lebensbewältigung.
Aufbau und Inhalt
Das Werk ist ganz grundsätzlich in zwei Teile untergliedert. In einem ersten Teil arbeitet Böhnisch auf dem Fundament der Zivilisationstheorie zentrale Konzepte für die eigene gesellschaftskritische Theorie aus. Böhnisch übernimmt insgesamt drei zentrale Elemente von Elias und Wouters, welche „in Wechselwirkung zueinanderstehen: der Prozess der Individualisierung, der Machtzuwachs des Staates, der in der Moderne zum Sozialstaat geworden ist und die gesellschaftliche Arbeitsteilung.“ (S. 13).
Teil I: Das gesellschaftstheoretische Modell der Zwischenwelten
In einem darauffolgenden Schritt wird die Argumentationslogik erläutert, welche im weiteren Verlauf des Buches analytisch und mittels weiterer Theoriebezüge ausgearbeitet wird. Der generelle Impetus des Buches lautet wie folgt: Aufgrund eines zunehmenden und sich beschleunigenden „Selbstbestimmungszwangs“ (S. 20), welcher aufgrund einem höheren Risiko einer Überforderung zu subjektiven Bewältigungsdilemmata (S. 26) einerseits und durch die Momente der Entgrenzung (S. 22) und der Entbettung (S. 24) zu gesellschaftlichen Integrationsdilemmata andererseits führt, werden die Phänomene, welche nicht integriert werden können, in sogenannte „Zwischenwelten“ abgedrängt.
Die grundsätzliche Kritik Böhnischs ist auf einer gesellschaftsstrukturellen Ebene zu verordnen. Der gesellschaftliche Abspaltungsmodus beschreibt „die ‘Hilflosigkeit‘ des ökonomisch-gesellschaftlichen Systems, das bestimmte soziale Probleme nicht integrieren kann und deshalb unter Abspaltungszwang gerät.“ (S. 33).
Im weiteren Verlauf werden die Integrations- und Bewältigungsdilemmata weiter spezifiziert. Aus den Integrationsdilemmata gehen gesellschaftliche Abspaltungsformen (bspw. Externalisierungszwang, Abspaltung des Wertes der Sorge, Entfremdung, u.v.m) hervor, aus den Bewältigungsdilemmata wiederum emotionale Abspaltungsformen (bswp. Schuld & Hass, Angst, Depression, Sucht, u.v.m.). Allen ist gemeinsam, dass sie durch ihre Abspaltungsdynamik in „Zwischenwelten“ zunächst abgedrängt und daraufhin unter anderem durch Soziale Arbeit „bearbeitet“ werden.
Die, um in der Terminologie Böhnischs zu bleiben, abgespaltenen Phänomene werden zum zentralen Handlungsgegenstand Sozialer Arbeit. „Abspaltungen wie „Externalisierungszwang“, „Prekarisierung“und „Ethnisierung“durchziehen die Räume der Sozialen Arbeit, und binden sie, verlangen von ihr Befriedung; Wachstumseuphorie leugnet den Externalisierungszwang, der Prekarisierung wird die gesellschaftliche Reichweite, den Migrant*innen ein sozialpolitischer Status abgesprochen. Diese Leugnungen werden in „Zwischenwelten“ verschoben. Indem die Soziale Arbeit diese Leugnungen hinnehmen und ihre Folgen befrieden soll, gerät sie selbst unter Abspaltungsdruck.“ (S. 99).
In einem letzten Schritt werden die vielfältigen Abspaltungsphänomene strukturiert, Zusammenhänge werden aufgezeigt und geläufige Handlungsreaktionen Sozialer Arbeit der Modellierung der substrukturellen Konfiguration (S. 99) subsumiert.
Teil II: Jenseits der Abspaltungen – Eine Gesellschaftstheorie der Sorge
In einem zweiten Teil spricht sich der Autor für eine Dialektik der Angewiesenheit (S. 124 f.) aus. Ein Fortbestehen der menschlichen Existenz kann nur unter dem Eingeständnis der Angewiesenheit sowohl, aktuell gesellschaftspolitisch von hoher Priorität, ökologisch- wie auch sozialthematischen Bedingungen gelingen. Dabei geht es Böhnisch nicht um einen radikal-antikapitalistischen Affront. Das Ziel liegt in der Inkludierung, der in Teil I beschriebenen Abspaltungen, mittels der Hervorbringung gesellschaftlicher Räume, „in denen die Menschen erfahren können, dass sie nicht unbedingt marktfähig sein müssen, um Selbstwert und Anerkennung“ (S. 123) zu erleben. Eine, wenn auch anders graduierte, grundsätzlich kapitalistisch ausgerichtete Gesellschaft ist nach Umsetzung der Forderungen nach Meinung Böhnischs erwartbar.
Um eine Vergesellschaftlichung der Abspaltungsphänomene einerseits und des Care-Sektors andererseits zu ermöglichen, wird eine Gleichstellung von Care-Arbeit und Erwerbsarbeit gefordert. Diese Forderung wird mittels feministischer Theorien angereichert. Es geht dabei um eine Reflexion der sozialen Geschlechter(-verhältnisse) und aus ihr entstandenen regressive Geschlechtszuschreibungen und dysfunktionale soziale Konstruktionen aufzulösen (S. 140). Die sozialökologische Transformation des Kapitalismus zielt dabei auf eine Veränderung der Arbeit ab. Alle Gegenstände der „Triade der Arbeit“, hierunter sind Erwerbsarbeit, Bürgerarbeit und Sorgearbeit zu subsumieren, sollen dabei gleichberechtigt und sozial gerecht nebeneinander bestehen (S. 154). Über die Basiskategorie der Sorge wird das Gemeinwohl schließlich zu der zentralen Maßeinheit.
Im Hinblick auf die Soziale Arbeit fordert Böhnisch eine Abwendung von der starken sozialstaatlichen Steuerungspolitik und kritisiert, dass Soziale Arbeit aktuell der Wirtschaftlichkeit zugunsten in einem managerialistischen Habitus agiert (S. 170).
In einem letzten Schritt wird darauf hingewiesen, die „Theorie der Zwischenwelten“ als eine relationale Theorie zu verorten. Hierunter zu verstehen ist, dass einerseits der „Marktsektor eine gemeinwohlverpflichtende Rahmung“ (S. 199) erhalten muss und andererseits die soziale Angewiesenheit der Menschen untereinander als konstitutives Element von Gesellschaft erkannt werden sollte.
Diskussion
Böhnisch gelingt es mit der Theorie der „Zwischenwelten“ wichtige und zentrale Elemente einer Gesellschaftstheorie für die Soziale Arbeit pointiert zu erläutern. Manche Aspekte dürfen und müssen in hoffentlich folgenden Beiträgen diskutiert werden. Das grundsätzliche Plädoyer, sich als Care-Sektor in die kapitalistische Gesellschaft integrieren zu lassen und auf eine Transformation des Kapitalismus zu hoffen, ist aus Sicht des Rezensenten diskussionsbedürftig. Böhnisch weist darauf hin, dass auch nach einer gesellschaftlichen Umsetzung der in dem Buch diskutierten und geforderten Transformationsprozesse eine kapitalistisch-ausgerichtete Gesellschaft fortbestehen wird. Dies klingt so interessant wie ernüchternd, es liest sich aber dennoch realistisch. Böhnisch macht hiermit klar, was eben genau nicht eintreten wird und hierin liegt eine besondere Stärke des Buches.
Des Weiteren ist hervorzuheben, dass durch Anreicherung mittels diversen Beispiele aus der sozialpädagogischen Theorie und Praxis der Transfer von reiner Gesellschaftstheorie in die Profession der Sozialen Arbeit angenehm zu verstehen ist. Der geforderten Transformation obliegt kein radikaler Charakter, er ist vielmehr als ein demokratischer Kompromiss zu fassen. Im Zuge dessen sollte weiter diskutiert werden, ob Soziale Arbeit sich zu den erwartbaren Vor- und Nachteilen integrieren lassen will, um so auf eine Transformation des Kapitalismus zu hoffen, demnach eine Koalition eingeht, oder aber standfest in der Opposition verbleiben will.
Fazit
Das rezensierte Werk Böhnischs eignet sich einwandfrei, um gedanklich in ein gesellschaftstheoretisches Fundament einzusteigen und sich inspirieren zu lassen. Die Theorie der „Zwischenwelten“ ist nicht als eine geschlossene Theorie zu verstehen und bleibt daher für weitere theoretische Ideen anschlussfähig. Da Böhnisch diesen Anspruch für seine Theorie nicht erhebt, ist es bedingungslos weiterzuempfehlen.
Rezension von
Moritz Tebbe
Sozialpädagoge /-arbeiter B.A., Studierender der Sozialen Arbeit M.A.
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Zitiervorschlag
Moritz Tebbe. Rezension vom 29.06.2021 zu:
Lothar Böhnisch: Zwischenwelten. Eine Gesellschaftstheorie für die Soziale Arbeit. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2021.
ISBN 978-3-7799-6329-5.
Reihe: Zukünfte.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28456.php, Datum des Zugriffs 23.09.2023.
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