Erika Sirsch: Entscheidungsfindung zum Schmerzassessment bei Menschen mit Demenz im Krankenhaus
Rezensiert von Prof. Dr. Carl Heese, 10.08.2021
Erika Sirsch: Entscheidungsfindung zum Schmerzassessment bei Menschen mit Demenz im Krankenhaus. Vom Problem zum Konzept »See-Pain«.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2020.
228 Seiten.
ISBN 978-3-7799-4405-8.
Reihe: Versorgungsstrategien für Menschen mit Demenz. Enthalten in: ISBN: 9783407958600.
Autorin
Erika Sirsch ist Professorin für Akutpflege an der PTH Valendar sowie Mitglied im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft. Sie ist Mitautorin und Koordinatorin der S3-Leitlinie der AWMF „Schmerzassessment bei älteren Menschen in der vollstationären Altenhilfe“.
Entstehungshintergrund
Die Arbeit ist das Ergebnis eines Forschungsprojekts, an dem neben der Autorin auch die Pflegewissenschaftlerinnen Sabine Bartholomeyczik, Margareta Halek und Birgit Panke-Kochinke mitgearbeitet haben.
Aufbau
Das Buch beginnt mit nicht weniger als drei Vorworten, erst ab Seite 35 folgt dann mit der Einleitung und den ersten beiden Kapiteln ein konventioneller Aufbau einer Dissertation. Der weitere Aufbau ist dann am ‚Utrechter Modell‘ zur Entwicklung und Einführung von komplexen Interventionen in der Pflege orientiert, das von Grypdonck entwickelt wurde.
Inhalt
Kapitel 1 beschreibt das Versorgungsproblem bei Menschen im Krankenhaus, die an Schmerzen und an einer Demenz leiden. Der Goldstandard der Selbsteinschätzung von Schmerzen ist bei diesen Patienten nicht ausreichend, Pflegende müssen ihn durch eine Fremdeinschätzung ersetzen bzw. ergänzen. Dabei sind zwar strukturierte Instrumente zur Fremdeinschätzung verfügbar, es fehlt aber eine Entscheidungshilfe wie eine Leitlinie, die den Einsatz der Fremdeinschätzung regeln würde. Die alleinige Diagnose einer Demenz, die in vielen Fällen auch gar nicht vorliegt, invalidiert die Angaben der Patienten zu ihren Schmerzen zunächst nicht. Erst bei einer weit fortgeschrittenen Demenz, wenn das rezeptive und das produktive Sprachvermögen zunehmend zerstört sind, ist eine Fremdeinschätzung klar unabdingbar.
In Kapitel 2 geht es um die ‚Besonderheiten im Schmerzmanagement von Menschen mit Demenz‘. In 2.2 wird die Schmerzäußerung von Patienten in den theoretischen Rahmen von Kommunikationsmodellen gestellt. Die Aufgabe eines professionellen Umgangs mit Schmerzen wird damit als Dekodier-Vorgang verstanden.
2.3 stellt die gebräuchlichen Instrumente der Selbst- und Fremdeinschätzung von Schmerzen bei Demenz zusammen und diskutiert sie. Das Resümee des Kapitels ist dann, dass zwar Erfahrungen mit den Instrumenten in der Altenpflege dokumentiert sind, diese sind aber im Krankenhaus mit seiner anderen Zeittaktung nur wenig hilfreich. Hier stellen sich die noch unbeantworteten Fragen: „Wann ist der Goldstandard – Selbsteinschätzung – nicht mehr ausreichend und wann soll welches Instrument zur Einschätzung von Schmerz bei Menschen ab einer mittelschweren Demenz gewählt werden?“ (S. 60).
Kapitel 3 benennt noch einmal den normativen Rahmen der einschlägigen Expertenstandards in der Pflege, nach denen eine regelhafte Einschätzung von Schmerzen erforderlich ist. Die Forschungsfrage, die sich nun stellt, lautet dann: Welche Kenntnisse und welches Wissen benötigen Pflegende, um zwischen Selbst- und Fremdeinschätzung von Schmerzen bei Menschen mit mittelschwerer Demenz im Krankenhaus entscheiden zu können?
Um sie beantworten zu können, soll nach einer Literaturanalyse eine teilnehmende Beobachtung und eine Gruppendiskussion mit Pflegenden durchgeführt werden. Da durch die Forschungen auch Patientinnen betroffen sind, werden forschungsethische Überlegungen ergänzt. Um den Menschen mit Demenz gerecht werden zu können, wird der Ethik-Standard des „informed consent“ zum „ongoing consent“ prozessual erweitert, die Betroffenen sollen mehrfach um ihre Zustimmung zu Beobachtungen gebeten werden.
Kapitel 4 beschreibt die Methode und die Ergebnisse der Suche nach vorangegangenen Arbeiten zur Forschungsfrage. Ein gefundenes Tool, das diese Frage beantwortet, adressiert die Altenhilfe und nicht den Kontext der Akutversorgung. Andere Autoren schlagen ein stufenweises Vorgehen vor, das bei der Selbstauskunft von Patienten beginnt und die Frage des (Fremd-)Erkennens von Schmerzen zum Teil offenlässt. Als Resümee bleibt der Mangel eines evidenzbasierten Tools, das hilft, zwischen der Angebrachtheit einer Selbst- oder einer Fremdeinschätzung zu unterscheiden.
Ein weiteres Ergebnis der Literaturanalyse sind die zentralen Dimensionen des Schmerzgeschehens, die als „Schlüsselphänomene“ zur Selbst- und Fremdeinschätzung diskutiert werden. Behandelt werden hier Kognition, Bewusstsein, Fähigkeiten zur Kommunikation, Komorbidität, Mobilität, Bericht durch Dritte und weitere. Die Relevanz dieser Schlüsselphänomene für die Forschungsfrage wird unterstrichen, ihre je eigene Bedeutung sei aber noch nicht wissenschaftlich überprüft (S. 82). So ergebe sich die „generelle Handlungsanweisung“: „Überprüfe die kognitiven Fähigkeiten der betroffenen Personen, beobachte das Verhalten und evaluiere dieses bezogen auf die Schlüsselphänomene“ (ebd.).
Für die Autorin liegt damit eine „unklare Entscheidungslage“ (ebd.) vor, in der das individuell unterschiedliche Wissen der Pflegenden das Vorgehen bestimmt. Ihr schwebt demgegenüber ein Vorgehen vor, bei dem die Entscheidung nach einem umfassenden Assessment auf der Basis eines umfassenden Wissens unter Berücksichtigung der relevanten Schlüsselphänomene geregelt erfolgt.
Kapitel 5 beginnt die „Überprüfung der bestehenden Praxis“ durch eine Sequenz von teilnehmenden Beobachtungen im Pflegealltag. Im Mittelpunkt stehen dabei die schmerzbezogenen Interaktionen von Pflegenden und Patienten auf drei Stationen in zwei Kliniken. Die Beobachtung wurde über elf Tage in Früh-, Spät- und Nachtschichten durchgeführt. Die Ergebnisse (S. 110 f.) wurden zur Validierung mit den Beobachteten diskutiert. Sie zeigen starke Defizite in der individuellen Schmerzeinschätzung, die auf mangelnde Kenntnisse z.B. über Schmerzerfassungsinstrumente, aber auch auf eine ungünstige Arbeitsorganisation (S. 120) zurückgeführt werden. „Ein systematisches Schmerzassessment (…) konnte nicht beobachtet werden“ (S. 115). Das pflegerische Schmerzassessment wurde vor allem als sekundäre Handlung im Rahmen von anderen Handlungen wie Lagerung, Medikamentengabe etc. vorgenommen, es wurde zum Teil auch willkürlich beendet, wenn die primäre Handlung zum Ziel gekommen war. Das Erkennen der Schmerzen war von der Fähigkeit der Patienten abhängig, auf die Wortwahl und allgemein auf die erwarteten Ausdruckformen der Pflegenden einzugehen (S. 118, 121).
Im Sinne der Methodentriangulation unternahm Sirsch zum gleichen Thema der Schmerzeinschätzung bei Menschen mit Demenz sieben Gruppendiskussionen mit Pflegenden und anderen Mitarbeitern der Stationen. Ergebnisse waren hier: „Fremdeinschätzungen von Schmerz gehören bei Pflegenden nicht zum Arbeitsalltag“, „Pflegende haben Wissensdefizite in der pflegerischen Differenzialdiagnostik der kognitiven Beeinträchtigungen und zum Schmerz- Assessment“, „Pflegende erleben hemmende und behindernde Rahmenbedingungen, die sie im pflegerischen Alltag verunsicherten“ (ab S. 160, Zusammenfassung ab S. 179 f.).
An dieser Stelle verabschiedet sich die Autorin von ihrer ursprünglichen Idee, Kriterien für den Einsatz des Fremdassessments mit diesem Vorgehen zu erlangen. Die teilnehmende Beobachtung und die Gruppendiskussionen haben vor allem Probleme für den Einsatz erbracht. Für die weitere Arbeit wird die Zielsetzung entsprechend angepasst: „Es wird ein Leitfaden entwickelt, der strukturierte Informationen zum diagnostischen Verständnis Pflegender bei der Entscheidungsfindung zur Schmerzeinschätzung bei Menschen mit Demenz enthält“ (S. 181).
In Kapitel 6 wird auf der Basis einer Diskussion von verschiedenen Entscheidungsfindungsmodellen in der Pflege ein erster Entwurf eines Leitfadens für das jetzt anstehende Thema entwickelt. Der Leitfaden „See-Pain“ soll keine Anleitung dafür geben, wann anstelle einer Selbsteinschätzung die pflegerische Fremdeinschätzung treten soll. Stattdessen unterstützt er die Einschätzung, wann es angebracht sein könnte, ergänzend oder alternativ zu den Äußerungen von Patienten eine Fremdeinschätzung zu treffen. Sirsch schlägt vor bei Patienten über 65 Jahren, die Schmerzen verneinen, mit Hilfe von sechs weiteren Fragen (S. 194) kurz zu reflektieren, ob andere Hinweise auf das Vorliegen von Schmerzen bestehen. Solche Hinweise können beispielsweise ein auffallend entspannter Zustand nach einer veränderten Lagerung oder ein Schmerzverhalten im Widerspruch zu den verbalen Äußerungen sein.
Im Kapitel 7 wird eine zweistufige Delphi-Befragung zu SeePain berichtet, an der 18 Expertinnen beteiligt waren. Die Ergebnisse weisen auf eine hohe Inhaltsvalidität des Leitfadens hin. Die Expertinnen waren sich nur in der Frage nicht einig, ob ein Ermessensspielraum für den Einsatz einer Fremdeinschätzung von Schmerzen gegeben werden soll.
Das letzte Kapitel betont die praktische Relevanz dieser anwendungsbezogenen Forschung und ordnet die Ergebnisse in die zeitgleiche Überarbeitung von pflegerischen Expertenstandards zum Thema ein.
Diskussion
Eine bessere Versorgung von Menschen mit akuten und chronischen Schmerzen ist eine Aufgabe, die in den letzten Jahren an vielen Stellen angegangen wurde, die Versorgungsforschung zu diesem Thema ist hochaktuell. In diesem Rahmen stehen die vorliegenden Untersuchungen. Bei der leitenden Frage nach dem Einsatz eines pflegerischen Fremdassessments für Schmerzen bei Menschen mit einer Demenz scheint es sich um ein Detailproblem zu handeln, aber angesichts der zunehmenden Häufigkeit, mit der diese Patientengruppe im Krankenhaus zu versorgen ist, wird die Relevanz der Thematik deutlich. Der Leitfaden, der schließlich als Ergebnis der Untersuchungen erstellt wird, ist allerdings trivial. Die Mühelosigkeit, mit der die Expertinnen der Delphi-Befragung ihm zustimmen können, unterstreicht das auch.
Dem geht voraus, dass die ursprüngliche Fragestellung im Zuge der Untersuchungen abgeändert werden musste. Die spannenden Ergebnisse sind dann auch die, die gar nicht intendiert waren. Das Highlight der Untersuchung ist der Einblick in den pflegerischen Alltag der Versorgung von Schmerzen bei Menschen mit Demenz mit seinen individuellen, aber auch organisatorischen Defiziten. Vor diesen Ergebnissen stellt sich nicht so sehr die Frage nach einem evidenzbasierten Leitfaden für den Einsatz eines Fremdassessments, sondern die Frage nach einer adäquaten Umsetzung von pflegerischem Know-how. Eine pflegewissenschaftliche Handlungsforschung mit dem Ziel der Qualitätsentwicklung in Krankenhausorganisationen erscheint hier sehr viel dringender als die EBM-orientierte Sicherung von Wissen, das bei den erfahrenen Praktikern ohnehin vorhanden ist.
Der methodologische Aufwand, der in dieser Untersuchung betrieben wird, kontrastiert dann auch scharf mit dem Resultat. Für methodologisch Interessierte ist die Studie sehr befriedigend. Die Theoriebasierung, die Begründung, der Einsatz und die Auswertung der teilnehmenden Beobachtung, der Gruppendiskussionen und der Delphi-Befragung sind vorbildlich expliziert. Nur ist beinahe der gesamte eindrucksvolle Methodenapparat an einer Frage orientiert, die bei einer Pflegewissenschaftlerin geradezu szenenfremd wirkt – so fremd wie die Memo-diktierende Forscherin auf Station (ein Vorgehen, von dem in der Literatur auch abgeraten wird), die ein Befremden in ihrer Umgebung wahrnimmt (S. 101). Die Umorientierung der Untersuchung ist dann aber konsequent und natürlich ein legitimes Vorgehen. Unterm Strich bleiben sechs literaturbasierte Fragen, die eine kritische Einschätzung von Patienten über 65 Jahren anleiten, die auf die Frage nach Schmerzen mit Nein antworten. Das ist nicht viel mehr, als das schon bekannte Wissen darum, dass Senioren hier nicht selten zur Beschwichtigung neigen.
Das Problem des Buches ist, dass es wohl so etwas wie eine Pflichtveröffentlichung im Rahmen einer Promotion ist. Als Dissertation ist es die akkurate Dokumentation eines Forschungsprozesses, der nicht so geradlinig verlaufen ist, wie anfangs geplant. Das ist für eine Dissertation völlig in Ordnung, nur als Buchveröffentlichung geht so eine Schrift eigentlich nicht. Sie wäre besser in elektronischen Archiven aufgehoben, denn sie dient nur als Nachweis einer wissenschaftlichen Leistung, sie dient aber nicht den Lesern. So bleibt im Text auch ganz deutlich offen, wer die intendierte Leserschaft sein soll. Das zeigt sich daran, dass zum einen auch die einfachsten englischen Zitate übersetzt und Grundbegriffe aus der Pflegeausbildung wie der ‚secondary baby talk‘ (S. 112) erläutert werden, während auf der anderen Seite die methodologischen und konzeptuellen Inhalte klar jenseits des Bachelor-Niveaus liegen. Dem Verlag wird die Aufnahme in das Programm nützlich erschienen sein, weil er mit den drei Vorworten gleich vier aktive Pflegewissenschaftlerinnen einbinden konnte, aber eigentlich sollte man der Öffentlichkeit keine Bücher präsentieren, wo kleine Aufsätze ausreichen.
Fazit
Umständlicher Forschungsbericht, der zum Thema Menschen mit Demenz und Schmerzen im Krankenhaus nur wenig Ertrag bietet.
Rezension von
Prof. Dr. Carl Heese
Professur für Rehabilitation an der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg
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Zitiervorschlag
Carl Heese. Rezension vom 10.08.2021 zu:
Erika Sirsch: Entscheidungsfindung zum Schmerzassessment bei Menschen mit Demenz im Krankenhaus. Vom Problem zum Konzept »See-Pain«. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2020.
ISBN 978-3-7799-4405-8.
Reihe: Versorgungsstrategien für Menschen mit Demenz. Enthalten in: ISBN: 9783407958600.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28458.php, Datum des Zugriffs 16.01.2025.
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