Donya Gilan, Isabella Helmreich: Resilienz - die Kunst der Widerstandskraft
Rezensiert von Dipl.-Päd. Ines Polzin, 30.11.2021

Donya Gilan, Isabella Helmreich: Resilienz - die Kunst der Widerstandskraft. Was die Wissenschaft dazu sagt. Verlag Herder GmbH (Freiburg, Basel, Wien) 2021. 208 Seiten. ISBN 978-3-451-60098-2. D: 22,00 EUR, A: 22,70 EUR, CH: 30,90 sFr.
Thema
Die aktuelle Lage der Pandemie hat zu einer regelrechten Explosion der Thematisierung von Resilienz geführt. Das vorliegende Buch bietet wissenschaftlich fundierte Fakten zu den vielfältigen Aspekten des Resilienz-Konzeptes: von den Grundlagen über anschauliche Fallbeispiele bis zu den aktuellen Erkenntnissen der Neurobiologie und die Trainierbarkeit spannt sich der inhaltliche Bogen. Auch eine kritische Würdigung und Diskussion fehlt hierbei nicht. Abschließend erfahren die Leser.innen auch etwas über das gesellschaftliche Immunsystem und Förderungsmöglichkeiten gesellschaftlicher Resilienz!
Autorinnen
Dr. Gilan ist Expertin für psychische Gesundheit und die Bewältigung von Krisen sowie die Anpassung an neue Lebenswelten. Dr. Helmreich ist Expertin für Gesundheitsprävention. Beide leiten am LIR – dem Leibniz-Institut für Resilienzforschung – den Bereich „Resilienz und Gesellschaft“ an der Universität Mainz. Die Arbeit ihres Kollegen, Dr. Omar Hahad, Stressforscher am Zentrum für Kardiologie der Universitätsmedizin Mainz, ist ebenfalls in dieses Buch eingeflossen. Seine Expertise umfasst den Themenbereich umweltbedingte und strukturelle Stressfaktoren.
Entstehungshintergrund
Interessant zu wissen ist, dass das LIR aus dem DRZ – Deutsches Resilienz Zentrum an der Universität Mainz – hervorgegangen ist. Die Resilienzforschung hat in Deutschland in diesem Rahmen erst relativ spät, 2014 dort einen festen Platz bekommen. Das LIR sieht seine Aufgabe darin, das Thema sowohl zu beforschen als auch für die Gesellschaft zu erschließen und handhabbar zu machen. Über öffentlichkeitswirksame Veranstaltungen und Beteiligung an Projekten (z.B. „resilire“ – Resilienz in der Arbeitswelt) wird Kontakt aus der Universität heraus in die Öffentlichkeit hergestellt. Insofern passt auch dieses Buch völlig zum selbstgegebenen Auftrag der Wissensvermittlung und Sensibilisierung. Unter anderem wird zu (neuro)biologischen, psychologischen und sozialen Themen der Resilienz geforscht. Die Veränderung von Arbeits- und Lebenswelten ist ein wesentlicher Ansatz.
Aufbau und Inhalt
Das Buch beinhaltet folgende sechs Kapitel:
- Resilienz – eine Lebenskunst
- Resiliente Menschen – das Geheimnis von Erfolgsgeschichten
- Sind wir Opfer unserer Gene?
- Ist Resilienz trainierbar?
- Resilienz – Kritik und Perspektiven
- Die resiliente Gesellschaft
Kapitel 1 Resilienz – eine Lebenskunst
Den Leser.innen wird ein knapper historischer Abriss vorgestellt, ausgehend von philosophischen Denkschulen über den Paradigmenwechsel von der Krankheitsforschung hin zur Gesundheitsforschung. Es schließen sich die vier Phasen der Resilienzforschung an, mit Fokus auf dem aktuellen Stand der Forschung. Sie hat das Gehirn als „Resilienzorgan“ identifiziert, stellt Resilienzmechanismen in den Vordergrund und lässt das Konzept der Schutzfaktoren etwas in den Hintergrund treten. Nichtinvasive Methoden haben hier immense Forschungsfortschritte ermöglicht. Die Entdeckung der Neuroplastizität des Gehirns war ein bahnbrechender Forschungsbefund: er stellt die lebenslange Veränderungsfähigkeit des Gehirns dar. Auch im fortgeschrittenen Alter können sich immer neue Vernetzungen bilden, was die Fähigkeit zum lebenslangen Lernen beinhaltet. Somit sei auch Resilienz lebenslang veränderbar und förderbar. Und: „Die Tatsache, dass manche Menschen trotz großer seelischer oder körperlicher Belastungen gesund bleiben, lässt vermuten, dass es … auch übergeordnete Schutzmechanismen im Gehirn gibt, die dazu beitragen, gesunde Hirnfunktionen zu stabilisieren und uns gesund zu halten.“ (S. 35). Resilienz sei „ein multikausaler, dynamischer und lebenslanger Prozess.“ (a.a.O.). Die Erforschung übergeordneter Resilienzmechanismen im Gehirn speist sich aus der Idee, dass „sogenannte übergeordnete kognitive und neuronale Resilienzmechanismen im Gehirn existieren.“ (a.a.O.). Exemplarisch für einen solchen Mechanismus wird ein positiver Bewertungsstil genannt, der sich dadurch auszeichnet, auch bei schwierigen Lagen den Fokus auf das Positive zu richten.
Die interessante Frage nach der Messbarkeit von Resilienz wird erörtert – und derzeit wie folgt beantwortet und erklärt: da es kein einheitliches Verständnis von Resilienz gibt, sind auch die Messverfahren sehr unterschiedlich. Die Vergleichbarkeit von Studienergebnissen sei derzeit nicht einfach möglich. Unter anderem schlägt das LIR vor, den Outcome zu messen und dazu einen Resilienz-Score (R-Score) einzusetzen.
Kapitel 3 Sind wir Opfer unserer Gene?
Diese Frage wird verneint. Denn Gene seien „nur eine Grundausstattung … die sich … je nach internen und externen Einflüssen und individuellem Verhalten – verändern, das heißt, an- oder abgeschaltet werden können.“ Sogar problematische Veränderungen in besonders vulnerablen Entwicklungsphasen könnten wieder aufgehoben werden – „sei es durch externe Einflüsse wie das soziale Umfeld, Ernährung, die Gabe von Medikamenten oder auch individuelles Verhalten.“ (S. 107) Dabei hat man herausgefunden „Je früher und zeitnaher die Intervention einsetzt, umso erfolgreicher kann sie sein. Und wir dürfen nicht vergessen, dass uns positive Erfahrungen genauso prägen und unsere Resilienz ebenfalls beeinflussen.“ Die Gene seien wie eine Art Rahmen zu verstehen „in dem wir unser Potenzial und unsere Resilienz lebenslang und sogar generationsübergreifend entfalten können.“ (a.a.O.).
Kapitel 4 Ist Resilienz trainierbar?
Diese Frage wird klar bejaht: Neurobiologische und psychologische Studienergebnisse liefern fortwährend neue Ansatzpunkte, wie die Resilienz und damit Stressresistenz gestärkt werden können. Betont wird „Der erprobteste und bisher nachhaltigste Weg ist jedoch, am eigenen Verhalten anzusetzen und Strategien zu erlernen, gut mit Stress umzugehen.“ (S. 125). Dies erfolge z.B. in Trainings zur Veränderung der eigenen Denk- und Verhaltensmuster. Dies ist allen mit der Materie vertrauten und im Feld tätigen Expert.innen schließlich Basis ihres Tuns und bekannt. Hinzu kommen spannende Erkenntnisse zu Beeinflussungsmöglichkeiten der Gehirnstrukturen über technische Verfahren, wie z.B. Neurofeedback. Die „Darm-Hirnachse“ sei über gesunde Ernährung beeinflussbar und schließlich wird auf die bereits genannten Wechselwirkungen zwischen Umwelt und Genausstattung erneut hingewiesen. Die Autorinnen charakterisieren aufgrund der vorgestellten Sach- und Studienlage Resilienz zum multidimensionalen und dynamischen Prozess. Sie zeigen eine zukünftige Perspektive auf, bei der in Medizin und Psychologie die Tendenz entstehen kann, wesentlich personalisierter und damit individualisierter Menschen zu unterstützen hinsichtlich ihrer Resilienz. Der Mensch trete als Individuum in den Vordergrund, es werde ihm ein optimal passendes Behandlungsangebot gemacht werden können, das optimal zu seinen genetischen, biologischen, psychologischen, physiologischen und sozialen Voraussetzungen passen werde. Die Prävention steht eindeutig im Fokus der Beeinflussbarkeit von Resilienz. In jeder Biografie gelte: „Resilienz ist ein lebenslanger Prozess, der Fort- und Rückschritte beinhaltet.“ (S. 166)
Kapitel 5 Resilienz – Kritik und Perspektiven
Resilienzangebote finden sich zunehmend. Es ist ein unübersichtlicher Markt entstanden. Die Autorinnen weisen auf den Trend zum „Modebegriff“ (S. 176) hin. Vereinfachend würde der Eindruck vermittelt, Resilienz sei einfach zu erlangen. Sie erwähnen eine Art „Machbarkeitswahn“ (S. 175), sodass der Eindruck entstehen könne, alles sei immer bewältigbar. Abgesehen von konzeptionellen Defiziten (z.B. keine Berücksichtigung sozialer und ethisch-philosophischer Fragen) sei zu berücksichtigen „Bestimmte Situationen wie Kriege, klimabedingte Katastrophen, Migrationsströme oder wirtschaftliche Dauerkrisen sind selbst für höchst resiliente Menschen nicht ohne Weiteres zu bewältigen. Resilienzförderung stellt eine mehrdimensionale und institutionelle Aufgabe dar, Gesellschaft und Politik können nicht aus der Verpflichtung entlassen werden.“ (S. 179).
Gleichzeitig thematisieren die Autorinnen den Sinn und Nutzen präventiver Angebote – besonders für Kinder und Jugendliche für das pädagogische Setting.
Kapitel 6 Die resiliente Gesellschaft
Hier findet das „gesellschaftliche Immunsystem“ (S. 187) seinen Platz – am Beispiel unserer aktuellen Pandemie-Lage. Sie findet gleichzeitig mit den Herausforderungen der Themen globale Migration, Klimawandel, Naturkatastrophen und Urbanisierung statt. Eine zentrale Rolle wird folgenden Faktoren zugeschrieben: Gemeinwohlorientierung, prosoziales Verhalten, kollektives Verantwortungsbewusstsein, Vertrauen in Politik und Institutionen. Mit der Pandemie als Krise sind die Herausforderungen und Missstände (Schwächen im Gesundheitssystem, Schwierigkeiten bei der Umsetzung von Digitalisierungsmaßnahmen, gruppenbezogene Diskriminierung, Verstärkung sozialer Ungleichheit) deutlich spürbar geworden. Die genannten Problemlagen bedürfen der Lösung – und können auch Wachstum und Fortschritt bewirken, sodass langfristig eine verbesserte Gesellschaftsstruktur Einzug hält. Dies erfolge über die Lernfähigkeit. Krise sei somit ebenfalls Chance („Bounce forward“, S. 188), die Transformationsprozesse anstößt. Nach einer Krise zeige sich aber erst die tatsächliche Wirksamkeit von Maßnahmen. Der Impetus der Maßnahmen solle nicht die Wiederherstellung des vorpandemischen Zustandes anstreben, sondern Weitsicht und Nachhaltigkeit als richtungsweisend deklarieren. Für die kollektive Resilienz gilt: „Eine konsensuelle Forschungsdefinition … konnte bisher noch nicht erreicht werden.“ Und: „Auch hinsichtlich konkreter Resilienzfaktoren auf kollektiver Ebene ist an vielen Stellen kein klarer Forschungskonsens erkennbar, wobei jedoch viele Ideen existieren.“ (S. 190).
Diskussion
Oft wird bei Veröffentlichungen zum Thema Resilienz auf bestimmte Teilbereiche fokussiert – wie die individuelle Resilienz, die Resilienz in bestimmten Kontexten, wie den der Unternehmensführung. Durch diese Fokussierung kommt meist zu kurz, wie weit das Feld der Resilienz aufgespannt ist. Außerdem gibt es natürlich auch Veröffentlichungen – die dem „Hype“ folgen und nicht wirklich Neues fundiert kommunizieren. Mit der Thematik Resilienz vertraute Leser.innen, die die Entwicklung über die Jahre verfolgt haben, finden hier kompakte Zusammenfassungen des aktuellen Forschungsstands und in den Literaturverzeichnissen weiterführende Quellen. Für die, denen das Thema neu ist, sind interessante Informationen aus vertrauenswürdiger Quelle gut nachvollziehbar dargestellt. Besonders hervorzuheben sind die Aspekte der letzten beiden Kapitel – die kritische Würdigung des Konzeptes und seine Relevanz für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung. Letzteres wird meist nicht in der Form berücksichtigt.
Das breite Spektrum weist auf die noch zu entdeckenden Potenziale von Resilienz hin. Gerade beim Aspekt des biopsychosozialen Modells zur Behandlung, stellt sich ergänzend die Frage der Finanzierung des potentiellen Vorgehens – ausgehend vom aktuellen politisch-sozialen Status Quo. Dies ist insofern spannend, da die Autorinnen an vielen Stellen im Buch die soziale Tragweite und Relevanz des Resilienzansatzes erfreulichweise nicht vernachlässigen. So wird auf potentielle „Nebenwirkungen“ bzw. das „besondere Risiko“ des Konzeptes eingegangen: Es könne im Umkehrschluss dazu kommen, erkrankten Personen ihren Zustand als individuelles Versagen zuzuschreiben – in dem die strukturellen Voraussetzungen und Risiken außer Acht gelassen würden. In Kapitel 5 beziehen die Autorinnen klar Position und grenzen sich deutlich ab von einem neoliberalistischen Verständnis, das mit einer Reduktion von Resilienz auf eine genetische oder persönlichkeitsmerkmalgebundene Ressource einhergeht. Aus der Praxis ist bekannt, dass man z.B. Mitarbeiter.innen nicht resilienter „machen“ kann. Das kann nicht – zum Glück! -„verordnet“ werden. Insofern ist die obige Warnung sicher ernstzunehmen, ausgehend von einem systemischen Verständnis, ist gleichzeitig klar: es braucht immer auch den Fokus auf die strukturellen Voraussetzungen. Ansonsten fände z.B. ein Training in einer Art Blase statt. Ein relevantes Training innerhalb des Arbeitskontextes kommt zwangsläufig auf die strukturellen Voraussetzungen zurück. Das Potenzial der Resilienzförderung – besonders für Kinder und Jugendliche – im pädagogischen Bereich wird in der Praxis eindeutig noch zu wenig ausgeschöpft. Es zeigt: es gibt gute tragfähige Ansätze (Stichwort „Projekt der Grünen Liste“) – oft chronisch unterfinanziert und vor allem in den Schlüsselinstitutionen nicht konzeptionell verankert… Das ist sehr komplex. Hier helfen u.a. Zuversicht und sogenannte quick wins: Fokus setzen, Verbündete finden, kleine Schritte im eigenen Einflussbereich gehen.
Fazit
Ein überaus empfehlenswertes Buch: Kompakt, wissenschaftlich fundiert, bietet es eine solide Orientierung in der Fülle der vorliegenden Veröffentlichungen. Es kann helfen, die „Spreu vom Weizen zu trennen“. Dazu tragen auch die kapitelbezogenen Literaturhinweise bei, will man tiefer einsteigen. Der aktuelle wissenschaftliche Kenntnisstand wird sehr gut verständlich vermittelt, ohne die Komplexität unangemessen zu reduzieren.
Rezension von
Dipl.-Päd. Ines Polzin
Autorisierte INQA-Coach (Initiative Neue Qualität für die Arbeit), Resilienzcoach und –Trainerin (zert. nach den Standards des Resilienzzentrums Osnabrück), zert. Mediatorin
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