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Heinz Cornel, Gabriele Kawamura-Reindl (Hrsg.): Bewährungshilfe

Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 04.02.2022

Cover Heinz Cornel, Gabriele Kawamura-Reindl (Hrsg.): Bewährungshilfe ISBN 978-3-7799-6296-0

Heinz Cornel, Gabriele Kawamura-Reindl (Hrsg.): Bewährungshilfe. Theorie und Praxis eines Handlungsfeldes Sozialer Arbeit. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2021. 340 Seiten. ISBN 978-3-7799-6296-0. D: 39,95 EUR, A: 41,10 EUR.

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Thema

Die Bewährungshilfe ist eines der größten Handlungsfelder im Kontext justiznaher Sozialer Arbeit und leistet mit einer sich über 60 Jahre andauernden Praxisgeschichte einen wichtigen Beitrag zur Resozialisierung, Vermeidung oder Verkürzung von Freiheitsstrafen und zur Sicherstellung der Sicherheitsbedürfnisse der Gesellschaft (Kriminalprävention). Trotz der Bedeutung der Bewährungshilfe als Handlungsfeld Sozialer Arbeit liegt bislang kein zusammenfassendes Grundlagenwerk zum Arbeitsgebiet der Bewährungshilfe, ihrer theoretischen Grundlagen, der Methoden und Arbeitsweisen vor, eine systematische Beschreibung der Praxis findet sich ebenfalls nicht. Die Herausgeber*innen, beide bis zu ihrer Emeritierung mit Schwerpunkten im Bereich der Resozialisierung/​Kriminologie/​Sozialen Arbeit in der Ausbildung von Sozialarbeiter*innen tätig, wollen diese Lücke schließen. Entsprechend gibt das Fachbuch einen Einblick in einige theoretische Bezugspunkte und stellt praktische Themen, teils übergreifend, teils zielgruppenspezifisch vor. Daneben wird der Anspruch formuliert Perspektiven für die Weiterentwicklung der Bewährungshilfe aufzuzeigen.

Herausgebende und AutorInnen

HerausgeberInnen: Prof. Gabriele Kawamura-Reindl, Dipl.-Kriminologin und Dipl.-Sozialarbeiterin, lehrte bis zur Emeritierung im Jahr 2020 Soziale Arbeit mit den Schwerpunkten Resozialisierung und Handlungslehre an der Technischen Hochschule Georg Simon Ohm in Nürnberg. Prof. Dr. Heinz Cornel, Jurist, Pädagoge und Kriminologe, lehrte bis 2019 Jugendrecht, Strafrecht und Kriminologie an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin. Die Einzelbeiträge wurden von PraktikerInnen im Bereich der Bewährungshilfe, bzw. Hochschullehrenden aus Deutschland und der Schweiz verfasst.

Aufbau und Inhalt

Neben einem Vorwort der HerausgeberInnen und dem AutorInnenverzeichnis ist der Band in die fünf Kapitel „Überblick“, „Allgemeine Voraussetzungen, Konzeptionen und Bedingungen der Praxis der Bewährungshilfe“, „Spezifische Zielgruppen und Hilfebedarfe in der Praxis der Bewährungshilfe“, „Besondere Arbeitsweisen und Methoden in der Praxis der Bewährungshilfe“ und „Perspektiven“ gegliedert.

Vorwort

Die Bewährungshilfe ist ein traditionsreiches mit über 60 Jahren Geschichte zentrales Arbeitsfeld der Sozialen Arbeit im Kontext von Delinquenz Jugendlicher, Heranwachsender und Erwachsener. Trotz der fachlichen Bedeutung der Bewährungshilfe liegt bislang kein zusammenfassendes Werk, das die theoretischen Grundlagen, Methoden und Praxisaspekte aufgreift vor, was mit diesem Sammelband nun bewältigt werden soll. Die HerausgeberInnen wollen mit diesem Werk einerseits die Grundlagen, Methoden und praktischen Aspekte der Bewährungshilfe erfassen und weiter „einen Beitrag zur Diskussion um die vielen interessanten und kontroversen Aspekte der Bewährungshilfe, sowie zu deren … Weiterentwicklung“ (10) leisten.

Überblick

Der erste Abschnitt erfasst in fünf Kapiteln die Entwicklung der Bewährungshilfe seit den 1960er Jahren, die rechtlichen Grundlagen, den Aufgabenbereich der Bewährungshilfe und deren Organisation. Der Schwerpunkt der Hilfen erfolgt in der Bearbeitung der Probleme der ProbandInnen mit den Methoden der Soziale Einzelfallhilfe, soweit die ProbandInnen (wie KlientInnen der Bewährungshilfe genannt werden) diese Hilfe denn annehmen. Der Fokus liegt auf allen Aspekten der Lebensführung, die Leistungen erfolgen in Form von Beratung, Vermittlung bis hin zur persönlichen Unterstützung der Klientel. Bewährungshilfe erfolgt grundsätzlich als ambulanter Sozialer Dienst der Justiz und ist somit staatliche Hoheitsaufgabe.

Bewährungshilfe als Aufgabe der Sozialen Arbeit (so der Titel des zweiten Beitrags) orientiert sich an den fachlichen Grundlagen der Profession, auch wenn der Anlass einer Anordnung durch Richter und Richterinnen gegeben wird, also durch die Soziale Arbeit im Delegationsverfahren erfolgt. Wie (fast) jede Soziale Arbeit unterliegt auch die Bewährungshilfe einem doppelten Handlungsauftrag mit Elementen der Kontrolle und der Hilfe/​Unterstützung, was besondere Qualifikationen in Bezug auf Zugang, Arbeitsbasis und Beziehungsgestaltung erfordert. Weitere Orientierungspunkte sind durch disziplinäre Standards und (berufs-)ethische Aspekte und Grundlagen gesetzt. Aus sozialarbeiterisch-theoretischer Perspektive sind zudem Lebenslage, Lebensführung, Soziale Exklusion/​Teilhabe, Entstigmatisierung und Selbstermächtigung/​Empowerment von zentraler Bedeutung, wobei sich diese Grundlagen als nur bedingt standardisierbar erweisen. Herausgeber Heinz Cornel weist in einem weiteren Beitrag auf die enge Verknüpfung von Bewährungshilfe und Kriminalpolitik hin. Bewährungshilfe als Ermöglichungsprofession hat in dieser Konzeption stark inklusions- und beteiligungsorientierte Funktionen zu übernehmen, in einer staatlichen Kriminalpolitik die, mit Verweis auf den Machtdiskurs bei Foucault, „vor allem der Sicherung von Herrschaft von wenigen über viele Menschen dient“ (43). Gleichsam ist über die gesetzlichen Rahmenbedingungen ein Kontrollauftrag mit dem übergeordneten Ziel der Kriminalprävention definiert.

In dieser Gemengelage aus formalen Rahmenbedingungen, Bezugsdisziplinen (Recht, Kriminologie etc.) und Sozialarbeitswissenschaft weisen die BewährungshelferInnen in der Praxis ein zumeist zwiespältiges Verhältnis zum Wissenschaftsbezug, zu wissenschaftlichen Grundlagen in der Praxis auf. Grundsätzlich hat sich die Bewährungshilfe ein berufliches Selbstverständnis gewählt, das „wissenschaftliches Wissen als konstitutiven Teil des beruflichen Handelns“ (51) begreift. Andererseits, so die Ergebnisse einer in diesem Kapitel vorgestellten Studie, wird Wissenschaft als kontrollierende und beschneidende Instanz erlebt, woraus sich ein -deutliches- Spannungsverhältnis ergibt. Die AutorInnen formulieren hierzu eine -in der Praxis der Bewährungshilfe auffindbare- Haltung, die „Wissenschaft als ‚Big (Br)Other der Praxis“ (59) definiert, mit den enthaltenen Legitimations-, Unsicherheits-, Abgrenzungs- und Zuweisungseffekten (der PraktikerInnen), die sich aus so einer Grundpositionierung ergeben, bzw. einer „notorischen Distanz der Praxis der Sozialen Arbeit zu ihren Wissensgrundlagen“ (63).

Der Abschnitt „Überblick“ wird durch die Eröffnung einer internationalen Perspektive, vorwiegend bezogen auf das europäische Ausland, hier mit Schwerpunktsetzung hinsichtlich internationaler Menschenrechtsstandards geschlossen.

Allgemeine Voraussetzungen und Konzeptionen

Das zweite Kapitel fokussiert allgemeine Voraussetzungen, Konzeptionen und Praxisbedingungen der Bewährungshilfe. Deren Praxis ist durch das konzeptionell begründete Spannungsverhältnis von Hilfe und Kontrolle, den durch den gerichtlichen Auftrag begründeten Zwangskontext der ambulanten Dienste und nicht zuletzt die -politisch, juristisch und gesellschaftlich gewollte- Risikoorientierung der Bewährungshilfe gekennzeichnet, die sich aus diesen Aspekten heraus von jeher mit Fragen der Motivationslage ihrer ProbandInnen auseinandersetzen muss. Entsprechend beinhaltet der Abschnitt Texte zur Kontroverse um Risiko- und Ressourcenorientierung, zur Motivierenden Gesprächsführung, zur Implementierung risikoorientierten Fallverstehens, Aspekte einer professionellen Beziehungsgestaltung und den erst in den letzten Jahren breiter rezipierten Ansatz desistanceorientierter Sozialer Arbeit. Deutlich wird dabei: eine einheitliche Situation, ein einheitliches Bild gibt „die Bewährungshilfe“ in Deutschland dabei nicht ab, zu unterschiedlich sind die Strukturen, die Arbeitsmaterialien und diagnostischen Instrumente und die zwischen kriminalpolitscher Risikoorientierung und sozialarbeiterischer Ressourcenorientierung entstehenden Reibungsflächen. Damit fehlt es der Bewährungshilfe als Gesamtarbeitsfeld und der wahrnehmbaren Praxis teilweise an Transparenz, den PraktikerInnen mitunter an fachlichem Selbstbewusstsein, um die Dynamik im scheinbaren Widerstreit von Hilfe und Kontrolle, bzw. Risiko- und Ressourcenorientierung im Alltag gestalten zu können.

Spezifische Zielgruppen und Hilfebedarfe

Die Zielgruppe der Bewährungshilfe ist von starker Heterogenität geprägt, die Alterspanne reicht von Jugendlichen über Heranwachsende bis zu Erwachsenen ProbandInnen, umfasst Frauen und Männer, StraftäterInnen aus Deutschland oder mit Flüchtlingshintergrund. Eine nicht unerhebliche Zahl weist Suchtprobleme auf, psychische Störungen oder Erkrankungen sind mit bis zu 15 % Häufigkeit ebenfalls keine Seltenheit in der Praxis der Bewährungshilfe. Entsprechend unterschiedlich gestalten sich der Hilfebedarf, die Beziehungsgestaltung, der Kontrollauftrag und die Ressourcenlage. Am Beispiel der Arbeit mit psychisch erkrankten ProbandInnen wird deutlich, dass auch diese Gruppe nicht homogen ist, TäterInnen mit einer spezifischen Persönlichkeitsstörung weisen andere Symptome auf als an Schizophrenie Erkrankte, die Deliktdynamik kann sich ebenfalls erheblich unterscheiden, die Anforderungen an die Beziehungsgestaltung sind dementsprechend unterschiedlich anspruchsvoll. Verwiesen wird z.B. auf die Notwendigkeit von interinstitutionellen Fallkonferenzen mit allen Beteiligten Fachstellen und Einzelpersonen, um die unterschiedlichen Fallkonstellationen und Arbeitsansätze zu koordinieren und eine gemeinsame Falleinschätzung zu ermöglichen. Für die Kontaktgestaltung mit PsychosepatientInnen verweist der entsprechende Beitrag auf einfachste Kommunikationsregeln (langsam sprechen, ruhige Gesprächsatmosphäre, Zimmerlautstärke, keine raschen Themenwechsel, Verzicht auf lebhafte Gestik etc.) mit Verweis auf eine Literaturquelle aus dem Jahr 1986.

Besondere Arbeitsweisen und Methoden

Die Praxis der Bewährungshilfe ist vorwiegend durch die Soziale Einzelfallhilfe geprägt. Die relativ lange Phase der Begleitung der ProbandInnen, die Vielgestaltigkeit der Problemlagen, zielgruppenspezifischen Bedarfe und Unterschiede in der Ressourcenlage etc. erfordern allerdings ein breites Methodenspektrum, das von der Krisenintervention, das Übergangsmanagement (vorwiegend im Rahmen der Haftentlassung), die speziellen Anforderungen der Führungsaufsicht, die elektronische Überwachung (elektronische Fußfessel), Gruppenarbeit (frauenspezifische Gruppen, Deliktgruppen, Freizeitgruppen, Sucht-/​Motivationsgruppen, Soziale Trainingskurse etc.), die Betreuung von ehrenamtlichen Kräften in der Bewährungshilfe (Schnittstelle zur Freien Straffälligenhilfe), bis hin zu Aspekten der Sozialraumorientierung und Vernetzung reicht. Die genannten Einzelaspekte werden durch je einen Textbeitrag, zumeist von VertreterInnen der Lehre bzw. Verwaltung erörtert. Ausgangsbasis für Methodenwahl und -einsatz sind das Fallverstehen und die reflektierte Praxis der Fachkräfte in der Bewährungshilfe. Der Abschlusstext im vierten Kapitel greift diese beiden Aspekte auf und verknüpft die Anforderungen selbstreflexiver, kontextsensibler und fachkritischer Perspektivik mit der Situation der Probandinnen, die vor dem Hintergrund ihrer Problemlagen und Verhaltensweisen, sowie auf Grund der gesellschaftlich-juristischen Zuschreibungen mit der Diskussion um die „hard-to-reach“-Debatte (Giertz et al. 2021) diskutiert werden. Die Reflektionsebenen professioneller Bewährungshilfe umfassen das „System Bewährungshilfe“ (als Institution mit Doppel-, bzw. Tripleauftrag), die Ebene der Arbeitsbeziehung, das KlientInnensystem (Persönlichkeitsstruktur, Problemverhalten) und ggf. das System bestehender Traumaaspekte.

Perspektiven

Die Praxis der Bewährungshilfe ist geprägt durch unterschiedliche Konzeptionen, Organisationsformen, theoretische Bezugnahmen und regionale Aspekte. Sie trifft auf mannigfaltige Aufgabenstellungen, Bedarfslagen, Erwartungen und beantwortet diese mit einem breiten Spektrum an Methoden und Verfahren. In diesem Kontext weist die Geschichte der Bewährungshilfe in Deutschland zum Teil gut erkennbare Entwicklungsschritte auf, etwa bei der Integration risikoorientierter Falleinschätzung oder zielgruppenspezifischer (Jugendliche, Suchtmittelabhängige etc.) Anforderungen. Als mögliche Themenbereiche für die Weiterentwicklung der Bewährungshilfe benennen die beiden Herausgebenden zwölf Punkte, „die uns für die Weiterentwicklung besonders relevant erscheinen“ (297). Diese sind:

  • eine konsequente Beschränkung der Fallzahlen (eine hohe Fallzahlenbelastung beschränkt die Wirksamkeit der Bewährungshilfe);
  • die Umsetzung des Transparenzgebots gegenüber den ProbandInnen (hinsichtlich des doppelten Mandats);
  • Entkoppelung der Leitungsebene der Bewährungshilfe vom Justizsystem;
  • Besinnung auf den Wesenskern Sozialer Arbeit, der durch Lebenslageverbesserung und Ressourcenorientierung gekennzeichnet ist und durch den Aspekt der Risikoorientierung nicht verdrängt werden darf;
  • die Klärung der Frage nach Freiheit der Methodenwahl bei Vereinbarung verbindlicher Standards (Klärung der Frage nach evidenzbasierter Praxis);
  • Ausbau jugendspezifischer Angebote;
  • Ausbau frauenspezifischer Angebote und Entwicklung einer gendersensiblen Praxis;
  • Ausbau und Entwicklung interkultureller Kompetenzen der Fachkräfte, die der Heterogenität der Zielgruppe(n) besser gerecht werden;
  • Bedarfsangemessene Aus- und Weiterbildung der Fachkräfte;
  • Entwicklung und Anwendung geeigneter Evaluationsinstrumente zum Wirksamkeits- und Effektivitätsnachweis der Bewährungshilfe und
  • kriminalpolitische Öffentlichkeitsarbeit.

Zielgruppe des Buches

Mitarbeitende der Bewährungshilfe, Studierende und Lehrende in Studiengängen der Sozialen Arbeit.

Diskussion

Das Fehlen eines Fachbuchs zur Bewährungshilfe wurde in Fachkreisen lange bemängelt, die zu schließende Lücke ist zu einem fast unübersehbaren Tal angewachsen, die Herausforderung, ein solches Buch zu konzipieren, geeignete AutorInnen zu finden war entsprechend groß. Gabriele Kawamura-Reindl und Heinz Cornel gebührt Dank aus Wissenschaft und Praxis, dieses Projekt angenommen zu haben und ein erstes Fachbuch Bewährungshilfe zusammengestellt zu haben. Beide haben über Jahrzehnte den Diskurs um die Bewährungshilfe in Hochschule und Fachverbänden, in der grundständigen Ausbildung und in der Fortbildung der Praxis mitgeprägt. Der vorliegende Band ist von daher auch ein „Vermächtnis“ der beiden mittlerweile emeritierten HerausgeberInnen.

Bei der Lektüre des Werks fällt zunächst die Bandbreite der Themen, die Entwicklungslinien der Profession, die thematischen Cluster, die unterschiedlichen Ebenen der Praxis, der Zielgruppe(n) und der Hilfebedarfe auf. Breit angelegt sind in den einzelnen Kapiteln die Reflektion und Lösungsvorschläge für den Umfang mit Doppel- bzw. Triplemandat, der Diskurs zu Risiko- vs. Ressourcenorientierung -der hier in einem integrativen Ansatz zusammengeführt wird und mit sozialarbeitswissenschaftlicher Perspektive (knapp) zusammengeführt wird. Die jüngeren Debatten und fachlichen Bezugnahmen werden teilweise breit (z.B. zu desistanceorientierter Sozialer Arbeit), manchmal nur sehr knapp (z.B. der Ertrag des Good-Lives-Model) aufgegriffen und als konzeptionelle Grundlagen eingeführt. Bei der Auswahl der erfassten Zielgruppen im entsprechenden Kapitel fällt auf, dass es hier nicht um Vollständigkeit ging, sondern um eine Auswahl von Subgruppen mit je spezifischen Merkmalen und Bedarfslagen, bzw. auch Risikomerkmalen: Jugendliche, Frauen, suchtmittelabhängige ProbandInnen, psychisch kranke StraftäterInnen, oder ProbandInnen mit Fluchthintergrund. Damit sind sicher die wichtigsten Teilgruppen berücksichtigt, es stellt sich allerdings die Frage, warum die Gruppe der SexualstraftäterInnen hier unberücksichtigt bleibt, ebenso Probanden aus dem Maßregelvollzug, oder lebensältere TäterInnen. Der Anspruch ein „Handbuch“ (S. 8) und ein „Nachschlagewerk“ (S. 10) anzubieten wird so nicht erfüllt, bzw. bleibt dies späteren, erweiterten Auflagen -die unbedingt wünschenswert sind- vorbehalten.

Hinsichtlich der erfassten theoretischen Grundlagen, deren Bedeutung angemessen als hoch eingeschätzt wird, deren Verfügbarkeit in der Praxis bestenfalls ausbaubar erscheint verwundert, dass die sozialarbeitswissenschaftlichen Beiträge, etwa Lebensbewältigungsansatz, Lebensführungskonzept, Capability Approach, das biopsychosoziale Konzept (um nur eine Auswahl zu nennen) fast gänzlich unbeachtet blieben. Der -in einzelnen Beiträgen- formulierte fehlende Theorieanschluss der Praxis hätte sich in einem „Handbuch“ gut schließen lassen, bzw. hätte geschlossen werden müssen. Ebenso verzichteten die HerausgeberInnen auf einen breiteren Anschluss an Konzept und Grundlagen der Resozialisierung (auch wenn hier ein gesondertes hervorragendes Werk der beiden HerausgeberInnen (Cornel et al. 2018) vorliegt und Ende 2022 in Neuauflage zur Verfügung stehen wird. Hier wäre dann auch die Diskussion um die konzeptionelle Neuausrichtung der Bewährungshilfe im Kontext des Qualitätsmanagements ab dem Anfang der 2000er Jahre mit starker Betonung der öffentlichen Sicherheit und Opferschutzaspekten und der programmatischen Unterordnung des Resozialisierungsgedankens unter diesen Sicherheitsaspekten zu führen gewesen. Eine Leerstelle ist auch zu Methoden, Verfahren und Techniken sozialer und psychosozialer Diagnostik auszumachen. Außer einem Beitrag auf die in den einzelnen Bundesländern erarbeiteten Instrumente zur Risikoerfassung fehlen die Erkenntnisse aus 20 Jahren Diagnostikdebatte und Fachentwicklung (Buttner et al. 2018; Buttner et al. 2020), die in ein „Handbuch“ und „Nachschlagewerk“ unbedingt hätten aufgenommen werden müssen.

Gelungen ist der Mix hinsichtlich AutorInnenauswahl. Hier sind VertreterInnen aus Praxis und Hochschule vertreten, jüngere AutorInnen neben erfahrenen PublizistInnen, sodass die Staffelübergabe zumindest angelegt zu sein scheint. Allerdings geht dies z.T. zu Lasten der Qualität der einzelnen Beiträge hinsichtlich Tiefe und Aktualität. Im Abschnitt zum „Umgang mit psychisch erkrankten Proband_innen in der Bewährungshilfe“ wirken die fast ausschließlich an der Psychopathologie der Störungsbilder orientierten Ausführungen eher scherenschnittartig. Die Erweiterung auf psychosoziale und interaktionsspezifische Aspekte wäre hier notwendig gewesen. Die Bezugnahme auf eine Literaturstelle (im Kontext der Gesprächsführung) aus dem Jahr 1986 in diesem Textbeitrag irritiert allerdings besonders, da dadurch die Methodenentwicklung der Sozialpsychiatrie (Hammer & Plößl, 2020) in den vergangenen 35 Jahren schlichtweg ausgeblendet, bzw. übersehen wird. Der Beitrag der Sozialen Arbeit in psychiatrischen Arbeitsfeldern und deren Schnittstelle zur Bewährungshilfe wird ebenfalls nicht einbezogen, hier hätte wenigstens ein Hinweis auf weiterführende Basisliteratur erfolgen müssen, ebenso ein Verweis auf Inhalt und Struktur der Fachambulanzen für psychisch kranke StraftäterInnen (Forensische Ambulanz), sowie Sexual- und GewaltstraftäterInnen (Psychotherapeutische Fachambulanzen).

Wie anspruchsvoll die Tätigkeit der Bewährungshilfe in der Praxis ist, zeigt sich durch die jeweiligen Fragestellungen und Aufgaben, die Dynamik in diesem Arbeitsfeld zwischen Hilfe und Kontrolle, eigener Fachlichkeit, Risiko- und Ressourcenorientierung. Die von Johannes Lohner im Abschluss des vierten Abschnitts (Arbeitsweisen und Methoden) definierten Reflektionsebenen professioneller Sozialer Arbeit in der Bewährungshilfe bieten einen sehr guten Orientierungsrahmen für Fallverstehen und fachlicher Selbstreflexion. Zu ergänzen wäre dieser Ansatz um die Ebene der Helferpersönlichkeit, etwa bestehende Macht- und Kontrollbedürfnisse, Gegenübertragungseffekte, Risikobereitschaft vs. Ängstlichkeit und natürlich den immer mit zu denkenden Aspekt von Abneigungen, Ekel und damit verbundenen möglichen Abwertungsprozessen.

Als wegweisend erweisen sich die im Kapitel „Perspektiven“ formulierten Entwicklungsaspekte, welche, konsequent verfolgt, zur weiteren Professionalisierung der Bewährungshilfe führen können. Dem Rezensenten fehlt hier allerdings eine tiefergehende Perspektivenentwicklung, z.B. im Entwurf einer Fachsozialarbeit (Forensische Soziale Arbeit), welche die besonderen fachlichen Anforderungen, Spezialkenntnisse und die Methodenvielfalt aus Sozialer Arbeit, Kriminologie, Forensischer Psychiatrie, Rechtswesen und Rechtspsychologie bündelt und systematisch gliedert.

Fazit

Das Buch schließt eine seit langem bestehende Lücke in der systematischen Erschließung und Darstellung der theoretischen Grundlagen, Methoden und der Praxis des Handlungsfeldes Bewährungshilfe. Die HerausgeberInnen Gabriele Kawamura-Reindl und Heinz Cornel hinterlassen nach Jahrzehnten in der Hochschulbildung mit diesem ersten Entwurf eines Handbuchs den Grundstein für die Weiterentwicklung der Profession im Bereich der justiznahen Sozialen Arbeit.

Literatur

Buttner, P., Gahleitner, S. B., Hochuli Freund, U. & Röh, D. (2018) (Hrsg.). Handbuch Soziale Diagnostik. Perspektiven für die Soziale Arbeit. Berlin: Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V.

Buttner, P., Gahleitner, S. B., Hochuli Freund, U. & Röh, D. (2020) (Hrsg.). Soziale Diagnostik in den Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit. Berlin: Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V.

Cornel, H., Kawamura-Reindl, G. & Sonnen, B.-R. (20184) (Hrsg.). Resozialisierung. Handbuch. Baden-Baden: Nomos

Giertz, K., Große, L. & Gahleitner, S. B. (2021) (Hrsg.). Hard to reach: schwer erreichbare Klientel unterstützen. Köln: Psychiatrie Verlag

Hammer, M. & Plößl, I. (2020). Irre verständlich: Methodenschätze. Wirksame Ansätze für die Arbeit mit psychisch erkrankten Menschen (https://www.socialnet.de/rezensionen/​27397.php)

Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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Zitiervorschlag
Gernot Hahn. Rezension vom 04.02.2022 zu: Heinz Cornel, Gabriele Kawamura-Reindl (Hrsg.): Bewährungshilfe. Theorie und Praxis eines Handlungsfeldes Sozialer Arbeit. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2021. ISBN 978-3-7799-6296-0. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28479.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.


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