Benedikt Hopmann, Eva Marr et al. (Hrsg.): Soziale Arbeit im schulischen Kontext
Rezensiert von Dr. Torsten Mergen, 30.04.2024

Benedikt Hopmann, Eva Marr, Daniela Molnar, Martina Richter, Nina Thieme et al. (Hrsg.): Soziale Arbeit im schulischen Kontext. Zuständigkeit, Macht und Professionalisierung in multiprofessionellen Kooperationen. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2021. 250 Seiten. ISBN 978-3-7799-6455-1. D: 29,95 EUR, A: 30,80 EUR.
Thema
Der Stellenwert der Sozialen Arbeit im Allgemeinen und der Schulsozialarbeit im Besonderen für Lern- und Erziehungsprozesse hat sich in den letzten Jahren deutlich verändert: Die Fachkräfte für Soziale Arbeit werden als Akteure in multiprofessionellen Kooperationen im System Schule vermehrt eingesetzt. Dies wird von der sozialwissenschaftlichen Forschung in Form eines Sammelbandes mit dreizehn Fachbeiträgen aus theoretisch-konzeptioneller und empirischer Perspektive genauer analysiert, indem bisher wenig systematisch diskutierte Fragestellungen wie die (Nicht-)Zuständigkeit, (Ohn-)Macht und (De-)Professionalisierung Sozialer Arbeit in multiprofessionellen Kooperationen im schulischen Kontext versiert untersucht werden.
Herausgeberinnen und Herausgeber
Prof. Dr. Benedikt Hopmann lehrt und forscht als Professor für Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt auf Teilhabe von Menschen mit Behinderungen an der Universität Siegen, u.a. mit den Arbeitsschwerpunkten inklusive Kinder- und Jugendhilfe und multiprofessionelle Kooperationen insbesondere von Kinder- und Jugendhilfe und Schule.
Dr. Eva Marr ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziale Arbeit und Sozialpolitik an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Universität Duisburg-Essen. Im Zentrum ihrer Arbeit steht das Theorie-, Forschungs- und Praxisfeld der Kinder- und Jugendhilfe.
Dr. Daniela Molnar arbeitet als Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie der Universität Siegen. In Forschung und Lehre setzt sie sich insbesondere mit Hilfen für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung und mit dem Handlungsfeld der niedrigschwelligen Drogenhilfe auseinander.
Prof. Dr. Martina Richter lehrt und forscht als Professorin für Schule und Jugendhilfe an der Universität Duisburg-Essen mit den Schwerpunkten qualitative Kinder- und Jugendhilfeforschung, Ganztagsschul- und Familienforschung.
Prof. Dr. Nina Thieme ist Professorin für Sozialpädagogik am Institut für Soziale Arbeit und Sozialpolitik an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Universität Duisburg-Essen. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind u.a. die Kinder- und Jugendhilfe, professions-, professionalisierungs- und professionalitätsbezogene Fragen im Kontext Sozialer Arbeit sowie (Bildungs-)Ungerechtigkeit.
Dr. Meike Wittfeld arbeitet als Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der AG Schule und Jugendhilfe der Universität Duisburg-Essen. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfeforschung, der sozialwissenschaftlichen Forschung zu Gewalt, insbesondere zu sexueller Gewalt in pädagogischen Institutionen, Kinderschutz sowie Kooperation von Jugendhilfe und Schule.
Aufbau und Inhalt
Nach einer ausführlichen Einleitung des Herausgeberteams ist der wissenschaftliche Sammelband in drei Teile gegliedert:
- Zur (Nicht-)Zuständigkeit in multiprofessionellen Kooperationen
- Zur (Ohn-)Macht in multiprofessionellen Kooperationen
- Zur (De-)Professionalisierung in multiprofessionellen Kooperationen
Die Einleitung des Herausgeberteams beleuchtet den Paradigmenwechsel, der momentan im deutschen Bildungssystem geschieht: Durch die Öffnung der Schule entstehe eine neue Arbeits- und Kooperationskultur in Form „einer berufsgruppenübergreifenden Zusammenarbeit von Regelschullehrer*innen, die lange Zeit das schulische Terrain als einzige Berufsgruppe dominierten, und Sozialpädagog*innen/​Sozialarbeiter*innen sowie Sonderpädagog*innen, Schulbegleitungen“ (S. 9). Dies verändere jedoch nicht nur das System und den Arbeitsplatz Schule, sondern auch das Berufsverständnis und die Rolle der beteiligten Berufsgruppen.
Im ersten Teil des Sammelbandes werden unter der Überschrift „Zur (Nicht-)Zuständigkeit in multiprofessionellen Kooperationen“ fünf Beiträge versammelt, die untersuchen, wie sich die Zuständigkeit bzw. Nicht-Zuständigkeit von Professionen gegenwärtig gestaltet und wie das Verhältnis der verschiedenen Professionen zueinander zu bestimmen ist. In der Folge werden Formen der multiprofessionellen Kooperation sowohl aus theoretischer als auch in empirischer Herangehensweise beleuchtet. Der Beitrag von Katharina Maier und Mirjana Zipperle untersucht die (Nicht-)Zuständigkeit von Schulsozialarbeit im multiprofessionellen Handlungsfeld Schule und arbeitet das Konstrukt einer doppelten (Nicht-)Zuständigkeitsdiffusität der Schulsozialarbeit heraus. Der Beitrag von Albrecht Rohrmann und Hanna Weinbach ist der Organisation von Schulbegleitung als personenbezogener sozialer Dienstleistung und Teil der Inklusion gewidmet und zeigt, inwieweit hierbei von einen tendenziell prekären Status von Schulbegleitungen im Schulgeschehen auszugehen ist. Emanuela Chiapparini verlässt Deutschland und widmet sich dem Bildungsbeitrag sozialpädagogischer Fachkräfte in multiprofessionell organisierten Tagesschulen in der Schweiz. Auf deutsche Verhältnisse, genauer auf die Kooperationen zwischen Schule und außerschulischen Partnern in Ganztags- und Halbtagsschulen, gehen Markus Sauerwein und Stefan Schipolowski ein. Sie zeigen, dass nicht nur Ganztags-, sondern auch Halbtagsschulen mit den Herausforderungen der Kooperation und Zuständigkeit konfrontiert sind. Im letzten Beitrag dieses Teils untersuchen Daniela Molnar, Eva Marr und Nina Thieme sowohl theoretisch als auch empirisch, wie Zuständigkeitsfragen in Bezug auf Fallbearbeitungen im multiprofessionellen Kooperationskontext schulischer und außerschulischer Erziehungs- und Eingliederungshilfen gestaltet sind.
Der zweite Teil des Sammelbandes beleuchtet mit vier Beiträgen das Thema „Zur (Ohn-)Macht in multiprofessionellen Kooperationen“, die sich latent oder manifest in Kooperationen zwischen verschiedenen Professionen immer wieder einstelle, wenngleich sie auch oftmals nicht offen von den Beteiligten thematisiert werde, was sich etwa in Fragen nach Handlungsmacht und Führungsrolle zeige. Dabei geht es zunächst um Aspekte fachlicher Souveränität (Susanne Maurer) bei der Kooperation von Berufsgruppen mit unterschiedlicher fachlicher Expertise und divergenten Zuständigkeiten. Der zweite Beitrag (Christiane Faller) beschäftigt sich kritisch mit der Polarisierung von Macht und Ohnmacht als Antagonismen in der Ganztagsschulorganisatiion. Jennifer Buchna und Pia Rother betrachten auf der Basis der rekonstruktiven Sozialforschung machtanalytische Perspektiven im Kooperationsverhältnis von Lehrkräften und weiteren pädagogischen Akteur*innen in Ganztagsschulen. Der vierte Beitrag in diesem Teil des Sammelbandes zeigt, dass sich auf der Basis des Bildungs- und Teilhaberechts in der Kooperation von Schule und Jugendhilfe eine Institutionalisierung inklusiver Strukturen erkennen lässt, wie Martina Richter und Katharina Sufryd schwerpunktmäßig mit Fokus auf die Positionierung bzw. Rolle von Kindern und Eltern im Kontext dieses inklusiven, zugleich aber ‚machtvoll‘ strukturierten Settings nachweisen.
Die vier Studien des dritten Teils betrachten die „(De-)Professionalisierung in multiprofessionellen Kooperationen“ und damit Fragen nach aktuell beschreibbaren und virulenten Professionalisierungs- und Deprofessionalisierungsprozessen. Julian Sehmer, Svenja Marks und Werner Thole untersuchen in ihrem Beitrag, inwiefern sich sozialpädagogische Professionalität weiterhin solitär aus dem Bereich der Sozialen Arbeit herleiten lässt. Gunther Graßhoff und Till-Sebastian Idel richten den Blick auf die Ganztagsschulen. Dort beleuchten sie die Gruppe an Personal ohne pädagogische Qualifikation, „etwa Übungsleiter*innen und Künstler*innen […], aber auch Mütter und Väter, die etwas gut können“ (S. 176). Diese pädagogischen Laien werden als Blindstelle der bisherigen Analysen betrachtet und es wird dafür plädiert, deren non-professionelle Handlungsspielräume als Teil einer Verantwortungsgemeinschaft stärker zu fokussieren. Vicki Täubigs Beitrag thematisiert die Kooperationen zwischen Hilfen zur Erziehung und Schule. Sie weist diverse Schwierigkeiten und Asymmetrien nach. Dieser Befund gilt auch für die Ergebnisse von Tobias Franzheld, der sich dem juristischen Konstrukt des Kindeswohls bzw. seiner Gefährdung zuwendet. Hierbei ergeben sich kooperative Spannungsfelder zwischen Schule und Jugendhilfe, die im Interesse der Kinderschutzpraxis besser aufeinander abzustimmen seien.
Diskussion
Der von Benedikt Hopmann, Eva Marr, Daniela Molnar, Martina Richter, Nina Thieme und Meike Wittfeld herausgegebene Sammelband besticht zunächst durch eine klare und deutliche Strukturierung sowie eine gute Lesbarkeit für an der Thematik Interessierte. Die einzelnen Beiträge sind thematisch einschlägig, wissenschaftlich fundiert und methodisch sorgfältig erarbeitet, sie beleuchten diverse Facetten einer Entwicklung, die mit dem Begriff bzw. Konzept der multiprofessionellen Kooperation wenig spektakulär umschrieben ist – versteht man darunter prima vista eine vermeintlich „berufsgruppen- bzw. professionsübergreifende Zusammenarbeit in ihrer voraussetzungslosesten und offensten Form“ (S. 11). Wie die einzelnen Beiträge systematisch zeigen, ist dies auf den zweiten Blick eine immense Herausforderung, die im Beitrag von Julian Sehmer, Svenja Marks und Werner Thole professionsethisch prägnant auf den Punkt gebracht wird: Die Anforderungen an die Fachkräfte für Soziale Arbeit lassen sich „als komplexes Spannungsgefüge gegensätzlicher Erwartungen zwischen den Anforderungen an Begründung und Aushandlung von Entscheidungen auf den einen und den Werten, Deutungen und Moralvorstellungen der Fachkräfte als singuläre Arbeitssubjekte auf der anderen Seite charakterisieren.“ (S. 168)
Zudem sind mit Zuständigkeiten, Machtordnungen und Professionalisierungsfragen die Bereiche identifiziert, die aktuell mit der wachsenden Bedeutsamkeit und neuen Allgegenwart der Schulsozialarbeit als Sozialer Arbeit am Ort Schule korrespondieren. Dass spätestens durch die Novellierung des Achten Buchs des Sozialgesetzbuchs vor wenigen Jahren formalrechtlich die Schulsozialarbeit als Teil der Kinder- und Jugendhilfe bundesweit kodifiziert wurde, stützt die Wahrnehmung des Herausgeberteams, dass vor Ort, an den Schulen, zu prüfen ist, wie weit sich die „Zuständigkeitsdiffusität der pädagogischen Berufsgruppen“ (S. 12) entwickelt hat.
Und zuletzt begründet das Herausgeberteam aus wissenschaftlicher Expertise plausibel, dass die Dreiteilung des Sammelbandes analytische Gründe hat, seien doch (Nicht-)Zuständigkeiten, (Ohn-)Macht und (De-)Professionalisierung in realo interdependent-zirkuläre Strukturen, Prozesse und Phänomene: „So ist Zuständigkeit immer abhängig von Machtverhältnissen und Professionalität, ebenso wie Machtverhältnisse durch die reklamierte Zuständigkeit der eigenen Profession beeinflusst werden“ (S. 18). Dies systematisch und kritisch beleuchtet zu haben, ist sicherlich eine herausragende Leistung des Sammelbandes.
Fazit
Die dreizehn Beiträge des Sammelbands „Soziale Arbeit im schulischen Kontext“ zeigen einerseits aus theoretisch-konzeptioneller und andererseits aus empirischer Perspektive den gewandelten Stellenwert der Sozialen Arbeit im Schulsystem. Besonders die anwachsende Multiprofessionalität respektive Notwendigkeit multiprofessioneller Kooperation von Lehrkräften, Fachkräften für Schulsozialarbeit, Integrationskräften sowie Mitgliedern des Schulpsychologischen Dienstes im Bildungsbereich wird im Sammelband zum Anlass genommen, über dadurch evozierte Chancen und Herausforderungen zu reflektieren. Besonders Fragekomplexe zu (Nicht-)Zuständigkeitsbereichen, (Ohn-)Macht der Akteure vor Ort sowie (De-)Professionalisierung Sozialer Arbeit im Geflecht der heterogenen und zum Teil widersprüchlichen Erwartungen werden in vielfältiger Weise thematisiert und methodisch überzeugend analysiert.
Rezension von
Dr. Torsten Mergen
Universität des Saarlandes, Fachrichtung 4.1
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