Wilfried Hosemann: Systemtheoretische Entwürfe Sozialer Arbeit
Rezensiert von Dr. Antje Flade, 03.01.2022
![Werk bestellen Cover Wilfried Hosemann: Systemtheoretische Entwürfe Sozialer Arbeit ISBN 978-3-7799-6539-8](/images/rezensionen/cover/28482.jpg)
Wilfried Hosemann: Systemtheoretische Entwürfe Sozialer Arbeit. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2021. 210 Seiten. ISBN 978-3-7799-6539-8. D: 34,95 EUR, A: 35,90 EUR.
Thema
Das Buch enthält eine Reihe von Aufsätzen des Autors, in denen er sich mit dem Leitbild der sozialen Gerechtigkeit, mit Theorien und Methoden und dem politischen Kontext, in dem Soziale Arbeit geleistet wird, auseinandersetzt.
Autor
Wilfried Hosemann ist Professor an der Universität Bamberg im Ruhestand. Er ist Vertreter des systemisch-konstruktivistischen Ansatzes in der Sozialen Arbeit und Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft für Systemische Soziale Arbeit.
Inhalt
Es handelt sich um eine Sammlung von neun Aufsätzen des Autors, die drei Teilen zugeordnet wurden.
- Im ersten Teil geht es um Soziale Gerechtigkeit. In drei Aufsätzen wird der Grundfrage nachgegangen, wie in einer Gesellschaft das Zusammenleben geregelt werden sollte und welchen Beitrag die Soziale Arbeit leisten kann, um gerechtere Lebensverhältnisse herzustellen. Soziale Gerechtigkeit bezieht sich auf Verteilungsfragen. Ziele sind die Herstellung von Chancen-, Leistungs-, Bedarfs-, Generationen- und Geschlechtergerechtigkeit. Kategorien, mit denen soziale Gerechtigkeit messbar gemacht wird, sind vor allem Armutsvermeidung, Zugang zu Bildung, Inklusion in den Arbeitsmarkt und Generationengerechtigkeit. Armut wird hierbei nicht wie üblich nur als Mangel an Einkommen, sondern als Mangel an Verwirklichungschancen verstanden. Als Beispiel für eine erfolgreiche politische Mitwirkung der Sozialen Arbeit führt der Autor das Kinder- und Jugendhilfegesetz an. Er konstatiert, dass gesellschaftliche Verteilungsfragen immer Gerechtigkeitsfragen sind. Systemische Strategien setzen nicht auf der individuellen sondern auf der sozial-gesellschaftlichen Ebene an. Die systemische Perspektive beinhaltet ein Aufdecken von Zusammenhängen, was durch eine verbesserte Kooperation von Praxis, Wissenschaft, Ausbildungsstätten und Fachverbänden erreicht werden könnte. Rückkopplungen und Wechselwirkungen sind Strukturmerkmale systemischer Ansätze. Auf die Arbeiten von Thomas Piketty wird hingewiesen, der festgestellt hat, dass der Kapitalismus ökonomische Ungleichheit verstärkt. Das bedeutet, dass die bekannte und beliebte Formel vom Wachstum als Lösung nicht tragfähig ist.
- Der zweite Teil ist überschrieben mit „Systemische Methoden – systemtheoretisch interpretiert“. Doch es geht in den Aufsätzen weniger um Methoden als vielmehr um Grundsätzliches, dass nämlich Soziale Arbeit bei Menschen in einer bestimmten Situation und einer bestimmten Umwelt ansetzen muss, und dass Inklusion eine Form darstellt, in der gesellschaftliche Funktionssysteme Menschen einbeziehen. Ausführlich wird der Lösungsbegriff beleuchtet. Kennzeichnend für ein lösungsorientiertes Vorgehen sind die Zukunftsorientierung anstelle einer Aufarbeitung der Vergangenheit und Ressourcenorientierung anstelle von Defizitbeschreibungen. Betont wird die Freiheit des Klienten, die sich auch auf eine Verweigerung der Mitarbeit erstrecken kann. Auch Störungen gehören dazu.
- In den Aufsätzen im dritten Teil wirft der Autor die Frage auf, wie hoch der Anteil der volkswirtschaftlichen Leistungen sein sollte, der in soziale Leistungen umgewandelt wird. Ein Blick zurück in die Geschichte zeigt, dass die sozialpolitische Gesetzgebung stets eng mit der Etablierung von Bürgerrechten verbunden gewesen ist. Nach Ansicht des Autors haben sich die Konflikte zwischen Kapital und Arbeit erneut verschärft. Die Ungleichheit des Kapitalbesitzes, die durch Erben noch verstärkt wird, steht dem Ziel der sozialen Freiheit entgegen. Hosemann greift hier erneut auf die Überlegungen des Ökonomen Thomas Piketty zurück. Danach sind die Wirkmacht und die Interventions- und Gestaltungsmöglichkeiten der Sozialen Arbeit von der Politik abhängig. Ein zentrales Ziel ist die Steigerung der Konfliktfähigkeit im Bereich der Sozialen Arbeit. Es sei notwendig, ein offenes und positives Verhältnis gegenüber Konflikten zu entwickeln. Die Rede ist von demokratischer Kommunikation, der Mitwirkung an der GestalVerhältnistung politischer Rechte. Schließlich sei es die politische Auseinandersetzung mit Ungleichheit gewesen, der die Soziale Arbeit ihre Existenz verdankt. Soziale Arbeit ist in der Auseinandersetzung mit sozialen Konflikten entstanden. Themen sind Armut, Migration, Bildung, sozialer Ausschluss. Die Leistungen der Sozialen Arbeit sind an normativen Zielen ausgerichtet. Ethische Reflexionen gehören zum Selbstverständnis der Sozialen Arbeit. Doch zugleich spricht der Autor von erschöpfter Ethik, die sich in einer Überdehnung der Ansprüche und Möglichkeiten Sozialer Arbeit manifestiert. So ist der Handlungsspielraum der Sozialen Arbeit durchaus begrenzt. Der Autor kommt kurz auf die Identitätspolitik als einem gesellschaftlich zentralen Thema zu sprechen. Er konstatiert, dass in einer digitalisierten Gesellschaft eine Neubestimmung der Position der Sozialen Arbeit erforderlich sein wird.
Diskussion
Das Buch hat den Charakter eines Readers: Es besteht aus neun Aufsätzen, die nicht, wie es in einem Sachbuch üblich ist, aufeinander aufbauen oder von verschiedenen Autoren und Autorinnen stammen. Sie wurden zwischen 2013 und 2019 allesamt von Hosemann verfasst. Wegen der unvermeidlichen Redundanz hat man nicht selten den Eindruck, auf der Stelle zu treten. Die drei Teile, denen die neun Aufsätze zugeordnet wurden, haben anspruchsvolle Überschriften: soziale Gerechtigkeit, systemische Methoden, politischer Kontext. Es wird jedoch nicht wirklich klar, wie soziale Gerechtigkeit definiert wird, welche Dimensionen mit welchem Gewicht in das Gesamturteil eingehen. Der Anspruch ist eine systemische Perspektive, d.h. ein Aufdecken von Zusammenhängen, was durch eine verbesserte Kooperation von Praxis, Wissenschaft, Ausbildungsstätten und Fachverbänden zu erreichen wäre. Abgesehen davon, dass es eine solche Kooperation längst gibt, stellt der Autor im weiteren Verlauf fest, dass die Soziale Arbeit bereits über genügend Datengrundlagen hinsichtlich sozialer Zusammenhänge und der Effekte von Maßnahmen verfügt. Dazu hätte man gern Genaueres erfahren. Eine konkrete Frage ist hier, wie sich die Kooperation noch weiter verbessern ließe und an welchen Stellen man ansetzen müsste.
Der zweite Teil ist überschrieben mit „Systemische Methoden – systemtheoretisch interpretiert“. Man erwartet eine Darstellung der Methoden, die in der Sozialen Arbeit angewendet werden. Doch eine Konkretisierung bzw. Operationalisierung bleibt aus. Es bleibt beim Grundsätzlicheren. Es wird ein Fallbeispiel: eine Familie mit hochneurotischen Kindern, skizziert, doch es wird nicht berichtet, wie die systemische Soziale Arbeit hier vorgehen würde. Gerade solche Fallbeispiele, an denen exemplarisch demonstriert wird, wie es gemacht wird, sind unbedingt erforderlich, um den Gewinn eines systemischen Vorgehens sichtbar zu machen. Stattdessen legt der Autor immer wieder aufs Neue dar, was es mit den systemtheoretischen Zugängen zur Sozialen Arbeit auf sich hat. Er bleibt der konzeptuellen Ebene verhaftet. So ist von dem Fallbeispiel der Familie mit den hochneurotischen Kindern später keine Rede mehr.
Propagiert wird ein lösungsorientiertes Vorgehen, das sich durch eine Zukunftsorientierung anstelle einer Aufarbeitung der Vergangenheit und durch Ressourcenorientierung anstelle von Defizitbeschreibungen auszeichnet. Dieses Vorgehen unterscheidet sich deutlich von psychotherapeutischen insbesondere familientherapeutischen als auch psychoanalytischen Ansätzen, was der Autor überhaupt nicht erwähnt. Unklar bleibt auch, wo eigentlich die Grenze zwischen Sozialer Arbeit und psychotherapeutischen Verfahren verläuft und wann was angebracht wäre. Die Verweigerung des Klienten, bei der Problemlösung mitzumachen, wird zwar als Störung bezeichnet, doch die Antwort, wie in einem solchen Fall Soziale Arbeit überhaupt geleistet werden kann, bleibt der Autor schuldig.
Die Konfliktfähigkeit Sozialer Arbeit soll gesteigert werden. Doch es ist euphemistisch, Konflikte ausschließlich positiv und als Ziel führend zu deuten, denn es dürfte hier wesentlich auf die Kommunikationskompetenz der Beteiligten ankommen. Die Frage, die hier zu stellen wäre, ist, inwieweit und auf welche Weise diese Kompetenz gefördert werden kann.
Der Begriff der Theorie wird großzügig verwendet. So spricht Hosemann von der Beobachter-, der Interventions- und der Reflexionstheorie. Er spricht aber nicht von einer Haltungs-Theorie, obwohl er ausführlich auf Haltungen als Grundorientierung eingeht und Aspekte aufzeigt wie z.B., dass Haltungen eine Reduktion von Komplexität ermöglichen.
Obwohl der Autor klar macht, dass es nicht allein um die Beseitigung von Armut geht, sondern dass das Ziel ist, Verwirklichungs- bzw. Handlungsmöglichkeiten zu schaffen, wird die soziale Ungleichheit in erster Linie ökonomisch gedeutet. Der Zusammenhang zwischen Ökonomie (Armut) und Verwirklichungsmöglichkeiten wird nicht ausreichend analysiert. Wer arm ist, hat einfach weniger Möglichkeiten. Hier wäre ein Blick auf das Thema „Sozialkapital“, das sich in Gemeinschaften herausbildet, lohnend gewesen. Wie verhält sich dieses in Gruppen erzeugte soziale Kapitel zur professionellen Sozialen Arbeit? Ließe sich nicht beides gewinnbringend verbinden? Im abschließenden Teil mit der Überschrift „Politischer Kontext“ wäre eine Bezugnahme auf das Konzept der politischen Gleichheit der Politikwissenschaftlerin Danielle Allen bereichernd gewesen. Ihrer Ansicht nach ist politische Gleichheit das Kernelement von Gerechtigkeit.
Fazit
Das Buch enthält eine Sammlung von Aufsätzen des Autors zur Sozialen Arbeit. Die zwischen 2013 und 2019 veröffentlichten neun Aufsätze sind den Themen soziale Gerechtigkeit, systemische Methoden der Sozialen Arbeit und politischer Kontext zugeordnet. Sie kreisen um die Grundfrage, wie demokratische Gesellschaften mit sozialer Ungerechtigkeit umgehen. Kennzeichnend für systemische Strategien ist, dass sie nicht beim Individuum, sondern beim Individuum in einer bestimmten Situation und einer bestimmten Umwelt und demzufolge auch auf der sozial-gesellschaftlichen Ebene ansetzen. Themen wie Armut, Migration, Bildung und sozialer Ausschluss sind hochaktuell. Die systemische Soziale Arbeit liefert einen Lösungsansatz.
Rezension von
Dr. Antje Flade
Psychologin, Sachbuchautorin
Mailformular
Es gibt 55 Rezensionen von Antje Flade.
Zitiervorschlag
Antje Flade. Rezension vom 03.01.2022 zu:
Wilfried Hosemann: Systemtheoretische Entwürfe Sozialer Arbeit. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2021.
ISBN 978-3-7799-6539-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28482.php, Datum des Zugriffs 26.01.2025.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.