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Andreas Thiesen: Subjektivierende Soziale Arbeit

Rezensiert von Prof. Dr. Annemarie Jost, 22.12.2021

Cover Andreas Thiesen: Subjektivierende Soziale Arbeit ISBN 978-3-7799-6489-6

Andreas Thiesen: Subjektivierende Soziale Arbeit. Ein Theorieangebot für Studierende, Praktizierende und Lehrende der Sozialen Arbeit. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2021. 140 Seiten. ISBN 978-3-7799-6489-6. D: 19,95 EUR, A: 20,60 EUR.

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Thema und Zielgruppe

In der Ankündigung heißt es: „Soziale Arbeit betrachtet die Herausforderungen des Alltags, mit denen Menschen konfrontiert sind, nicht als Misere, sondern als Ressourcen. Um einen solchen Blickwinkel auszubilden, müssen Sozialarbeitende jedoch zunächst ihre eigene Herkunft reflektieren. Vor diesem Hintergrund entwickelt Andreas Thiesen eine Theorie Subjektivierender Sozialer Arbeit als Voraussetzung wirklichen Verstehens.“ Ergänzen möchte ich, dass es sich um eine soziologische/​gesellschaftswissenschaftliche Theorie handelt, die die psychologische Herkunftsreflexion mit Ansätzen der humanistischen Psychologie, der Systemischen Therapie und der Tiefenpsychologie kritisch betrachtet. Wie der Untertitel des Buches ausführt, richtet es sich an Studierende, Praktizierende und Lehrende der Sozialen Arbeit.

Autor

Andreas Thiesen ist Professor für Theorien und Methoden Sozialer Arbeit am Fachbereich Sozialwesen der Hochschule RheinMain in Wiesbaden. Er befasst sich unter anderem mit transformativer Sozialraum-, Quartier- und Stadtentwicklung, Partizipation und Diversity Management.

Aufbau 

Das Buch gliedert sich neben Einleitung und Literaturverzeichnis in sechs Kapitel:

  • Theorie und Geschmack,
  • Theorie und Praxis,
  • Praxis als Lüge,
  • Praxis als Wahrheit,
  • Lehre und Geschmack und
  • Subjekt und Theorie.

Inhalt

Andreas Thiesen bezieht sich unter anderem auf Pierre Bourdieu und Didier Eribon, um darzustellen, wie jeder – dies gilt natürlich auch für Sozialarbeitende – durch Gewohnheiten, Gesten, Welt- und Geschmacksurteile die gegebene Gesellschaftsordnung aufrechterhält. Um nicht bei qualitativen Studien oder praktischen Tätigkeiten eine habituelle gesellschaftliche Asymmetrie unreflektiert fortzuführen und bereits in Interviewbeziehungen symbolische Gewalt auszuüben, sei eine tiefgehende, theoretisch fundierte Auseinandersetzung mit der eigenen Subjektivität bereits im Studium von großer Bedeutung. Dies könne nicht auf „theoriefeindliche“ Ratschläge aus der humanistischen Psychologie, wie „einfach zuhören und authentisch sein“ reduziert werden. Die theoretische Fokussierung auf Subjekt und soziale Herkunft der Sozialarbeitenden müsse sich auch mit den geschichtlichen Voraussetzungen und der subjektiven Geschichte als kollektiver Geschichte befassen. In Bezug auf das Studium der Sozialen Arbeit setzt sich der Autor hierbei kritisch mit der Modularisierung und der verstärkten Orientierung an kleinteiligen Vorgaben auseinander. Studierende seien gut trainiert, beliebige Informationen zu Sachverhalten zu recherchieren und diese zu bestimmten Terminen präsent zu halten. Es brauche zusätzlich eine reflexive Seminarkultur, die der Diversität der Studierenden Rechnung trage und zu theoretisch fundierter Selbstreflexion führe. Praxiserfahrungen könnten einerseits zu kommunikativen und interaktiven Räumen führen, welche Subjektivierungsprozesse ermöglichen, andererseits bestünde jedoch auch die Gefahr, sich in neoliberalen Strukturen zu verstricken oder formaljuristisch zu anspruchsvolle (Schein-)Partizipationsprozesse zu veranstalten. 

Andreas Thiesen kritisiert in seinem Buch auch gängige systemische Betrachtungsweisen und fragt nach dem wissenschaftlichen Gehalt „systemischer Begriffshülsen“: „Was soll ein Konzept wie ‘Selbstreferentialität‘ für eine ausgebeutete Arbeiterin in einer asiatischen Textilfabrik bedeuten?“ (S. 52).

An einigen Stellen thematisiert der Autor die aktuellen Veränderungen durch die Pandemiesituation: Er befasst sich kurz mit digitalen Lehrformaten, nimmt auf eine bereits vollumfänglich digitalisierte Generation von Studierenden Bezug und beklagt, dass neue Videokonferenz-Formate zu einer Renaissance autoritärer Lehrvorstellungen beitragen könnten. Hier endet seine Analyse mit der Betonung der Notwendigkeit, transformative Partizipationsprozesse im Hinblick auf Videokonferenzen neu zu konzeptionalisieren. Zugleich macht er deutlich, dass disziplinäres Traditionswissen transdisziplinär zu hinterfragen sei. Hierbei lobt er den „renommierten Virologen“ Christian Drosten, der sich um reflexive Transparentmachung der jeder wissenschaftlichen Erkenntnis innewohnenden Unzulänglichkeit bemühe (S. 67).

Diskussion

Vorweg muss ich als Rezensentin anmerken, dass ich mich nach der Buchankündigung zu einer Rezension entschloss, da ich mehr Anschlussstellen zu meinen eigenen tiefenpsychologisch und psychiatrisch geprägten didaktischen Ansätzen zur Unterstützung der Selbstreflexion von Studierenden der Sozialen Arbeit erwartete. Nun bin ich mit einem völlig anderen Ansatz konfrontiert, der den Authentizitätsbegriff aus der humanistischen Psychologie und auch systemische Ansätze in fast schon polemischer Art und Weise kritisiert. Ich sehe die gesellschaftswissenschaftliche Sichtweise gerade in den aktuellen gesellschaftlichen Umbrüchen als enorme Bereicherung, zugleich hat mich jedoch ein Unbehagen befallen, dass gerade in der jetzigen Pandemiemaßnahmensituation in dem vorliegenden Buch die Reflexion der gesellschaftlichen Umbrüche merkwürdig blass bleibt, abgesehen von einigen Aspekten zur Digitalisierung des Studiums und einer Passage zur Vereinnahmung des Authentizitätsbegriffs durch die neurechten völkischen Bewegungen.

Das Fazit „dass sich ein noch zu bestimmender gesellschaftlicher Ort nur als Resultat der aus dem Eigensinn Sozialer Bewegungen ableitbaren ‚anschlussfähigen Differenzen‘ entwickeln“ könne und dass die Profession und Disziplin der Sozialen Arbeit zum Gegenstand vielfältiger subjektivierender Utopien erklärt werden könne, klingt ansprechend, braucht jedoch meiner Meinung nach nun konkretere Unterfütterung. Das Buch enthält zwar einige interessante Aufgabenstellungen, die der Autor in der Seminararbeit einsetzt, es hätte jedoch davon profitiert, wenn Prozesse der soziologischen Selbstreflexion in seinen Seminaren genauer dargestellt und analysiert worden wären.

Hier und da streut der Autor ein, welche Vorlieben, Praxiserfahrungen und Autor*innen ihn selber in seinem Werdegang beeinflusst haben; und er äußert sich ehrlich zu dem manchmal im Vergleich zu anderen Kolleg*innen überschaubaren Andrang von Studierenden auf seine Wahlpflichtseminare. Dies alles erfüllt jedoch auch nicht den Anspruch einer umfassenden theoretischen Reflexion der eigenen Subjektivität. Aber vielleicht rezensiere ich ja dieses Buch zu sehr mit einer „therapeutisch geprägten Brille“ und reagiere auf die vom Autor etwas polemisch formulierte Kritik an der humanistischen Psychologie als theoriefeindlich.

Möglicherweise wären vergleichende und detaillierte Darstellungen von Reflexionsprozessen angehender Fachkräfte aus Sicht der Soziologie und der Psychologie sehr bereichernd.

Fazit

Die notwendige Re-Politisierung Sozialer Arbeit kann durch das vorliegende Theorieangebot der Subjektivierung Sozialer Arbeit eine große Bereicherung erfahren. Hierfür ist es jedoch unerlässlich, die aktuellen gesellschaftlichen Umbrüche mit Hilfe eines sich selbst kritisch reflektierenden Einlassens auf unterschiedliche Zielgruppen genauer zu analysieren und dabei eine „soziologische Bewusstseinserweiterung“ voranzutreiben.

Rezension von
Prof. Dr. Annemarie Jost
Professorin für Sozialpsychiatrie an der Fakultät 4 der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg
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Es gibt 143 Rezensionen von Annemarie Jost.

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Zitiervorschlag
Annemarie Jost. Rezension vom 22.12.2021 zu: Andreas Thiesen: Subjektivierende Soziale Arbeit. Ein Theorieangebot für Studierende, Praktizierende und Lehrende der Sozialen Arbeit. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2021. ISBN 978-3-7799-6489-6. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28485.php, Datum des Zugriffs 11.10.2024.


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