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Peter-Ulrich Wendt (Hrsg.): Kritische Soziale Arbeit

Rezensiert von em. Prof. Dr. Süleyman Gögercin, 04.03.2022

Cover Peter-Ulrich Wendt (Hrsg.): Kritische Soziale Arbeit ISBN 978-3-7799-6527-5

Peter-Ulrich Wendt (Hrsg.): Kritische Soziale Arbeit. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2021. 216 Seiten. ISBN 978-3-7799-6527-5. D: 24,95 EUR, A: 25,60 EUR.

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Hintergrund der Veröffentlichung

Die Publikation geht laut Angaben des Herausgebers in der Einleitung auf eine Ringvorlesung für Student*innen der Sozialen Arbeit und angrenzender Studiengänge in Magdeburg und Stendal zurück, die unter dem Titel „Kritische Soziale Arbeit: Was? Wer? Wie? Wozu?“ von der Fachgruppe Soziale Arbeit in Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis Kritische Soziale Arbeit (AKS) Magdeburg und dem Deutschen Berufsverband für Soziale Arbeit e.V. (Junger DBSH Sachsen-Anhalt) veranstaltet wurde.

In der Programmankündigung finden sich Hinweise auf die im Diskurs über Soziale Arbeit konnotierten Charakterisierungen wie „prekäre Arbeitsbedingungen, eine während der Covid-19-Pandemie offenkundig werdende – und umstrittene – Systemrelevanz, die Instrumentalisierung als sozialpolitischer Feuerwehr, aber auch kritische Ambitionen, Einmischung, Widerständigkeit und Emanzipation“ (S. 9). Alles Charakterisierungen, die vom Herausgeber als widersprüchlich bezeichnet werden und daher im Wechselspiel von kritischer Profession und kritischer Disziplin klärungsbedürftig seien, um einen Beitrag im Prozess der Professionalisierung von Student*innen der Sozialen Arbeit zu leisten. Entsprechend finden sich im vorliegenden Sammelband Beiträge von Praktiker*innen der relevanten Arbeitsfelder und von Wissenschaftler*innen, die sich mit diesen Themenzusammenhängen befassen.

Herausgeber

Dr. Peter-Ulrich Wendt ist Professor für Grundlagen und Methoden der Sozialen Arbeit an der Hochschule Magdeburg-Stendal und Landesvorsitzender des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Sachsen-Anhalt.

Aufbau und Inhalt

Der Band enthält mit der Einführung des Herausgebers vierzehn Beiträge.

In seiner Einführung Kritische Soziale Arbeit wieder betrachtet thematisiert Peter-Ulrich Wendt zunächst die gegebenen Verhältnisse, Praxis und Studium der Sozialen Arbeit in Bezug auf die Kritische Soziale Arbeit, wobei er mit dem letzteren zugleich die Ringvorlesung zum Thema als Hintergrund des Sammelbandes und die in diesem Rahmen gehaltenen Vorträge (zugleich weitgehend die Beiträge im Sammelband) erläutert.

Der Beitrag von Frank Bettinger, em. Professor an der Evangelischen Hochschule Darmstadt, trägt den Titel … genau hinsehen, geduldig nachdenken und sich nicht dumm machen lassen! – Reflexivität und Kritik als Haltung kritisch-reflexiver Sozialer Arbeit. Hier geht der Autor auf zwei Modelle von Gesellschaftstheorie sowie auf sozialrechtliche Regulierungen als Deutungsmuster ein, bevor er der Frage Was geht Armut die Soziale Arbeit an? nachgeht und auf die Bedeutung fachwissenschaftlich-befreiungstheoretischen Wissens für eine Kritische Soziale Arbeit hinweist. Seine Schlussfolgerungen fasst er unter den Überschriften Reflexivität und Kritik als Haltung und Bedingung Kritischer Sozialer Arbeit sowie Normativität zusammen.

In seinem Beitrag Kritische Soziale Arbeit – was könnte das sein? weist Roland Anhorn, Professor an der Evangelischen Hochschule Darmstadt,darauf hin, dass seit geraumer Zeit in Profession und Disziplin Sozialer Arbeit gefordert werde, Verhältnisse, unter denen Soziale Arbeit zu leisten ist, nicht einfach hinzunehmen, sondern kritisch zu hinterfragen und sich zu positionieren. Es müsse geklärt werden, was Kritische Soziale Arbeit eigentlich darstellt. Nach der Erläuterung der Ausgangslage zeigt er sieben Kriterien einer Kritischen Sozialen Arbeit auf.

Juliane Sagebiel, em. Professorin an der Hochschule München, setzt sich mit drei Machttheorien für eine machtvolle Praxis auseinander, und zwar die von Silvia Staub-Bernasconi, Björn Kraus und Saul Alinsky, nachdem sie zunächst der Frage nachgeht: „Was macht die Macht in der Sozialen Arbeit?“ Sie hält fest, dass Soziale Arbeit stets mit Macht und Machtverhältnissen zu tun habe, unter denen Soziale Arbeit zu leisten ist, welche die Sozialarbeiter*innen gegenüber Adressat*innen ausüben sowie Macht, die auch Adressat*innen gegenüber Sozialarbeiter*innen ausüben können.

Nach der Vorstellung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe und den Hinweisen auf deren Rechtsgrundlagen verdeutlicht Werena Rosenke, Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe, in ihrem Beitrag unter dem Titel Wohnungsnotfallhilfe und Kritische Soziale Arbeit, dass die Wohnungslosenhilfe ein Handlungsfeld Sozialer Arbeit darstellt, in dem gesellschaftliche Macht- und Ohnmachtsverhältnisse deutlich erkennbar sind und sich viel von den Dimensionen der Ausgrenzung in der Lebenssituation wohnungsloser oder von Wohnungslosigkeit bedrohter Menschen zeigt, mit denen Soziale Arbeit gewöhnlich konfrontiert ist.

In dem Beitrag von Melissa Manzel, Fachreferentin im Bundesnetzwerk Ombudschaft in der Jugendhilfe e.V., geht es um Ohnmacht in Kampfgeist verwandeln – Die Pandemie als Ausgangspunkt für berufspolitische Arbeit? Manzel hebt hervor, dass zwar zu Beginn der Corona-Pandemie viele Bereiche der Sozialen Arbeit als systemrelevant erklärt wurden, Soziale Arbeit allerdings in der öffentlichen Berichterstattung kaum vorkam. Sie berichtet sodann, dass dieser Zustand zur vom DBSH initiierten Fachkräftekampagne „#dauerhaftsystemrelevant“ führte, was deren Vision, Ziele, Rahmung sowie Arbeitsweise sind, was die bisherigen Aktivitäten waren und was noch kommt.

In seinem Beitrag Die Verantwortung der Sozialen Arbeit in der sozial-ökologischen Transformation thematisiert Kolja Flüger, Sozialarbeiter und Mitbegründer des AK Kritische Soziale Arbeit Braunschweig, den Zusammenhang zwischen Sozialer Arbeit und Klimabewegung. Er geht zunächst auf die Soziale Arbeit und auf die Auswirkungen der globalen Klimakrise ein und bewertet diese als Bedrohung der Lebensgrundlage vieler Menschen. Er hält dann fest, dass auch Soziale Arbeit und ihre Adressat*innen von diesen Folgen betroffen seien, weshalb auch die Frage zu klären sei, welche Handlungsaufträge sich aus der Klimakrise für die Soziale Arbeit ergeben („Es wird Zeit, dass die Soziale Arbeit ihre volle Verantwortung im Sinne eines sozialen Wandels radikal wahrnimmt und so eine sozial-ökologische Transformation aktiv mitgestaltet.“, S. 108).

Michael Bertram, Sozialarbeiter in der Arbeit mit geflüchteten Menschen, geht in seinem Beitrag „Wann einmischen?“ – Kritik und Einmischung als Aspekte professionellen Alltags in der Sozialen Arbeit den Fragen nach der politischen Aktions- und Leistungsfähigkeit und politischen Handlungsperspektiven Kritischer Sozialer Arbeit nach und stellt Kritik als Element professionellen Alltags und professionelles Einmischen als Fachkonzept zur Diskussion.

Cynthia Zimmermann vom Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt beschreibt in ihrem Beitrag Soziale Arbeit mit fluchterfahrenen Menschen in Sachsen-Anhalt. Was können Hilfeleistung und Empowerment von Adressat*innen? die Rahmenbedingungen Sozialer Arbeit im Bereich Flucht und Asyl in Sachsen-Anhalt sowie die Praxis der Sozialen Arbeit in der Betreuung und Beratung, bevor sie Empowerment und eine kritische, verändernde Soziale Arbeit als eine weitere Dimension der Diskussion über Kritische Soziale Arbeit hinzufügt.

Be A Radical – zu Formen sozialen Widerstands ist der Titel des Beitrags von Peter-Ulrich Wendt, in dem er sich mit Gedanken einer Re-Politisierung der Sozialen Arbeit und ihrem (Selbst-)Anspruch der Systemrelevanz sowie mit der Frage auseinandersetzt, weshalb mit sozialem Widerstand ein Strategiewechsel erforderlich sei, wobei er unter sozialem Widerstand Formen der Auseinandersetzung meint, „die Soziale Arbeit einschränken und behindern“ (S. 241). Er zeigt am Beispiel der Praxis des DPWV in Sachsen-Anhalt, wie der öffentliche Streit und systematische Konflikt zum Mittel einer Kritischen Sozialen Arbeit gemacht werden kann.

Friedhelm Peters, em. Professor an der Fachhochschule Erfurt, thematisiert in seinem Beitrag die Geschlossene Unterbringung und Kritische Soziale Arbeit. Strategien gegen geschlossene Unterbringung (GU) in der Kinder- und Jugendhilfe. Es werden Merkmale Geschlossener Unterbringung bzw. freiheitsentziehender Maßnahmen sowie die soziale Konstruktion der „Schwierigen“ und die Rehabilitierung von Zwang, Grenzen-Setzen und Durchgreifen thematisiert und schlussgefolgert, der Rückblick auf die Entwicklung geschlossener Unterbringung in der Kinder- und Jugendhilfe und der sie begründenden Diskurse offenbare, dass die Geschlossene Unterbringung untauglich sei und „die ‚besonders Schwierigen‘ in geschlossenen Gruppen nicht erfolgreicher betreut (werden) als in anderen Hilfeformen“. Zudem verstoße die GU gegen die UN-Kinderrechtskonvention. Die Alternative zur GU sei „eine insgesamt responsive Jugendhilfe“ (S. 168).

Matthias Stein, Sozialpädagoge im Allgemeinen Sozialdienst, richtet den Blick auf die Kinder- und Jugendhilfe in seinem Beitrag „Konstruktive Kritik“- Die angepasste Profession der Sozialen Arbeit im Handlungsfeld der Allgemeinen Sozialen Dienste als Komponente der Hamburger Bezirksämter. In seinem Fokus stehen dabei neben den gegenwärtigen Entwicklungen der Hamburger Kinder- und Jugendhilfepraxis die Anteile der Fach- und Leitungskräfte im Kontext des „Steuerungsoptimismus“ der öffentlichen Träger der Kinder- und Jugendhilfe. Die Weiterentwicklung wird kritisch gewürdigt und mit Aufzeigen von zwei Gegenwehrpraxen unterschiedlicher Gruppierungen abgeschlossen.

Im Beitrag Make Kritische Soziale Arbeit A Threat Again! Anhaltspunkte einer gesellschaftsverändernden Renaissance geht Christopher Grobys, Sozialarbeiter und politischer Aktivist, der folgenden Frage nach: „Welche Anhaltspunkte könnten einer Kritischen Sozialen Arbeit (wieder) an (sic!) Durchschlagskraft verleihen?“ (S. 190) Seine Antwort erfolgt in Bezug auf folgende Punkte: Kritischer Materialismus als ein analytischer und subversiver Kompass, „um die gesellschaftlichen Verhältnisse und die eigene Praxis grundlegend zu reflektieren, Bündnispotenziale mit ihren Adressat:innen offenzulegen sowie nach Möglichkeiten radikalen Eingreifens zu suchen“ (S. 200); kritisch Forschen zum diskursiven Eingreifen, kritische Modifikation von Methoden sowie soziale Bewegungen als Chance solidarische Bündnisse zu bilden und so „die eigene Durchschlagskraft zu stärken und eine gemeinsame zu generieren.“ (ebd.).

Christopher Grobys und Tilman Kloss, Sozialarbeiter in der offenen und verbandlichen Jugendarbeit, diskutieren im abschließenden studentischen Beitrag die Perspektiven für die Soziale Arbeit – eine Bilanz anhand von fünf „Thesen für eine Besinnung auf kritische Veränderungen“ und nehmen dabei insbesondere die Bedeutung des Diskurses für angehende Praktiker*innen in den Blick.

Diskussion

Seit den „1968ern“ wurde mit der Gesellschaftskritik, der Kritik an Bürokratie, Expertentum und Repression das Fundament für die Kritische Soziale Arbeit gelegt. Durch die Neugründung des Arbeitskreises Kritische Soziale Arbeit (AKS) Ende 2005 wurde eine neue Phase eingeleitet, wobei die Hochschullehrenden als Initiator*innen dieser Neugründung bewusst an die Traditionen des AKS im Kontext der 1968er-Bewegung anknüpften, indem sie das Anliegen verfolgten, die kritisch-materialistische Theorie-Tradition angepasst an die aktuellen gesellschaftlichen und beruflichen Gegebenheiten fortzuschreiben. Selbstredend kann die Kritische Soziale Arbeit heute nicht auf eine breite soziale Bewegung zurückgreifen und ist auch daher weder ideologisch noch organisatorisch und motivational homogen. Auch wenn konzeptionelle und theoretische Überlegungen der letzten Jahre zur Kritischen Sozialen Arbeit vom „sozialpolitischen Paradigmenwechsel“ vom sog. „versorgenden“ zum „aktivierenden“ Sozialstaat beeinflusst sind, diagnostizieren Anhorn und Stehr (Anhorn, R./Stehr, J. (2018): Kritische Soziale Arbeit. In: Graßhoff, G./Renker, A./Schröer, W. (Hrsg.): Soziale Arbeit: eine elementare Einführung. Wiesbaden, 341–355) vielmehr ein „pluralistisches Allerlei“ (S. 343). In dem vorliegenden Sammelband findet sich davon eine Auswahl.

Fazit

Die Beiträge zeigen ein vielfältiges Bild einer Kritischen Sozialen Arbeit in der Gegenwart. Sie betrachten die Bedingungen, die Erfahrungen der Autor*innen sowie die Möglichkeiten und Grenzen einer kritischen Praxis der Sozialen Arbeit. Für daran interessierte Personen ist dieses Buch eine lohnende Lektüre. Denn der Sammelband ist insbesondere aufgrund seines starken Bezugs zur Praxis vom Interesse und bietet zahlreiche Anregungen und Anschlussmöglichkeiten für die Praxis einer Kritischen Sozialen Arbeit, deren Erprobung und Umsetzung zu wünschen wäre.

Rezension von
em. Prof. Dr. Süleyman Gögercin
Duale Hochschule BW Villingen-Schwenningen, Fakultät für Sozialwesen
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Zitiervorschlag
Süleyman Gögercin. Rezension vom 04.03.2022 zu: Peter-Ulrich Wendt (Hrsg.): Kritische Soziale Arbeit. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2021. ISBN 978-3-7799-6527-5. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28486.php, Datum des Zugriffs 13.09.2024.


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