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Tilly Miller: Konstruktivismus und Systemtheorie

Rezensiert von Prof. Dr. Christian Philipp Nixdorf, 09.08.2021

Cover Tilly Miller: Konstruktivismus und Systemtheorie ISBN 978-3-7799-3953-5

Tilly Miller: Konstruktivismus und Systemtheorie. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2021. 130 Seiten. ISBN 978-3-7799-3953-5. D: 19,95 EUR, A: 20,60 EUR.
Reihe: Soziale Arbeit und ihre erkenntnistheoretischen Zugänge.

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Autorin

Dr. phil. Tilly Miller, Politikwissenschaftlerin, Sozialpädagogin und Theaterpädagogin, ist Professorin für Sozialarbeit/​Sozialpädagogik und Politikwissenschaft an der Katholischen Stiftungsfachhochschule München. Sie leitet dort das Vertiefungsgebiet Erwachsenenbildung und das Theaterpädagogische Zentrum.

Thema

Systemtheorie und Konstruktivismus sind bedeutende Paradigmen in der Sozialarbeitswissenschaft. Es existieren allerdings nicht nur eine Systemtheorie und nicht nur eine Auffassung vom Konstruktivismus, sondern mehrere. Tilly Miller nimmt sich in Konstruktivismus und Systemtheorie der Frage an, warum die Auseinandersetzung mit Systemtheorie(n) und konstruktivistischen Überzeugungen auch für Sozialarbeiter*innen nützlich sowohl in ihrer Berufspraxis wie auch in der wissenschaftlichen Theoriebildung ist. In Ergänzung zur Beschreibung dessen, was Systemtheorie(n) und Konstruktivismus auszeichnet und für die Soziale Arbeit attraktiv macht, gibt die Autorin Anregungen für die Reflexion des eigenen beruflichen Handelns.

Aufbau und Inhalt

Das Buch ist in 5 Kapitel unterteilt und hat 130 Seiten. Es beginnt mit einer Einleitung (S. 9–12), in der die Autorin darlegt, was Leser*innen im Text erwartet und warum es sich gerade für Studierende der Sozialen Arbeit lohnt, sich mit Konstruktivismus und Systemtheorie zu befassen. Miller macht dabei deutlich, dass nicht nur eine Systemtheorie und eine singuläre Vorstellung des Konstruktivismus existieren, sondern mehrere. Die Autorin betont, „dass es verschiedene Zugänge der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung“ gebe (S. 10). Sie selbst legt den Fokus im Buch primär auf den radikalen und sozialen Konstruktivismus, wie ihn z. B. Paul Watzlawick vertreten hat, sowie auf die soziologische Systemtheorie von Niklas Luhmann. Das tut Tilly Miller, weil beide Theorien (die miteinander eng verwoben sind) sich als praktikabel erwiesen hätten, soziale Phänomene zu erklären, mit denen sich Sozialarbeiter*innen und Sozialarbeitswissenschaftler*innen befassen. Ihr Ziel ist es, den Leser*innen zu ermöglichen, „sich in der Theorielandschaft Ihrer Disziplin besser zurechtzufinden“ (S. 11), die grundlegende Funktionsweise von Wissenschaft zu erfassen und „die Bedeutung von Erkenntnistheorien und Wissenschaftstheorien als Voraussetzung für die Theoriebildung zu verstehen“. Ferner ist es der Autorin ein Anliegen, das Bewusstsein der Leser*innen für „die Bedeutung von konstruktivistischen und systemtheoretischen Zugängen für das professionelle Handeln zu schärfen“ (ebd.).

Im 1. Kapitel (S. 13 ff.), das mit Hinführung überschrieben ist, befasst sich Miller mit den philosophischen und physiologischen Grundlagen des Erkennens, was die Voraussetzung für jedwede Formulierung einer Erkenntnistheorie darstellt. Was ist Erkenntnis? Wie können wir erkennen? Wie weit reicht unsere Erkenntnis? Worauf beruht sie und wie wahr ist das, was wir zu erkennen meinen? – so lauten die erkenntnisleidenden Fragen, derer sich die Sozialarbeitswissenschaftlerin in diesem Kapitel annimmt. Sie erläutert, was es mit der Subjekt-Objekt-Trennung in der Erkenntnistheorie auf sich hat (S. 18) und worin sich Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie unterscheiden (S. 19 f.). Miller erklärt, dass Erkenntnisphilosophie an die Philosophie gebunden sei und primär nach menschlichem Erkennen frage, wohingegen sich die Wissenschaftstheorie mit der Methodologie von Erkenntnistheorien befasse. Darüber hinaus befasst sich die Autorin damit, worin sich einzelne Methoden vom Begriff der Methodologie unterscheiden. Sie betont, dass wissenschaftliche Theorieentwicklung stets Wissenschaftstheorie voraussetze. „Theorien werden nicht einfach gemacht“ (S. 21). Sie orientierten sich an Erkenntnistheorien und an deren Methodologien, schreibt Miller. Komplexe Probleme könnten nicht durch eine einfache Theorie erfasst werden, es bedürfe zwecks dessen ebenso komplexer Theorien. Erst mit Hilfe der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorien kann es gelingen, die Einzeltheorien einzuordnen, deren „Schnittstellen und Unvereinbarkeiten zu erkennen und die Reichweite einer Theorie zu reflektieren“, ist die Autorin überzeugt(S. 22).

Im 2. Kapitel (S. 23 ff.) thematisiert Miller die Grundlagen konstruktivistischer Erkenntnistheorien. Sie beleuchtet hier ganz allgemein, was charakteristisch für konstruktivistische Sichtweisen ist und legt bezugnehmend auf das Wirken bekannter Konstruktivisten wie Heinz von Foerster, Ernst von Glasersfeld, Humberto Maturana und Francesco J. Verela den Fokus insbesondere auf den radikalen Konstruktivismus. Diesen zeichne die Überzeugung aus, dass keine objektive ontologische Wirklichkeit existiere, sondern dass diese von jedem Menschen selbst aufgrund der eigenen Erfahrungen und Werte konstruiert werde. „Die Umwelt, so wie wir sie wahrnehmen, ist unsere Erfindung“ zitiert Miller (ebd., S. 25) eine Aussage Heinz von Foersters. Ebenso geht sie auf die fünf Axiome Paul Watzlawicks ein (S. 30) und schildert, welche Kritik seitens welch anderer Erkenntnistheorie-Schulen am radikalen Konstruktivismus geübt wird. Darüber hinaus nimmt sich Miller des sozialen Konstruktivismus (als Teil des radikalen Konstruktivismus) an. Der soziale Konstruktivismus frage danach, erklärt die Autorin „wie Menschen soziale Welt konstruieren, strukturieren uns institutionalisieren und wie sich kulturelle Traditionen und Bedeutungsstrukturen herausbilden“ (S. 34). Als weitere Personen, deren Wirken einen massiven Einfluss auf die konstruktivistische Denkschule hatten, benennt die Sozialarbeitswissenschaftlerin vor allem Niklas Luhmann (S. 32), Kenneth J. Gergen (S. 34 f.), Peter L. Berger & Thomas Luckmann (S. 36 ff.) sowie Michel Foucault (S. 38 f.). Miller beschreibt, wie und warum diese Personen Einfluss auf die konstruktivistische Theoriebildung und auf die wissenschaftliche Erklärung von Wirklichkeit hatten. Auch legt sie zusammenfassend dar, welche Folgerungen für die Wissenschaft dem radikalen und sozialen Konstruktivismus entspringen.

Das 3. Kapitel (S. 47 ff.) widmet Miller der Soziologischen Systemtheorie von Niklas Luhmann. Bezugnehmend auf das Wirken u.a. von Ludwig von Bertalanffy, Heinz von Foerster, Humberto Maturana und Talcott Parsons erläutert sie zunächst die Vorläufertheorien, derer sich Luhmann bei der Ausarbeitung der soziologischen Systemtheorie bediente. Als erkenntnisleitende Frage, mit denen sich Luhmann bei der Ausarbeitung seiner Theorie befasste, benennt Miller (S. 51) die folgenden: „Wie lässt sich die moderne Gesellschaft in ihrer Strukturiertheit beschreiben und erklären? Wie funktioniert diese Gesellschaft? Wie funktionieren Systeme in Differenz zu ihrer Umwelt?“ (Anmerkung des Rezensenten: Antworten auf diese Fragen gibt Luhmann u.a. in seinem 2018 von Johannes Schmidt und André Kieserling herausgegebenen Werk Systemtheorie der Gesellschaft). Als essenziell für Luhmanns Vorstellung einer Systemtheorie der Gesellschaft benennt Miller, dass Systeme wie die Familie, die Justiz, die Wirtschaft, die Politik, die Massenmedien, die Wissenschaft, der Sport etc. funktional differenziert seien. Sie grenzten sich von anderen Systemen ab und folgten ihren eigenen Systemlogiken. Solche Funktionssysteme operierten „mit Hilfe von Kommunikation und mit Hilfe eines symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums damit einhergehender Codes, Programme, Strukturen und Prozesse mit einer Grenze zur Umwelt, die immer wieder kommunikativ herzustellen ist“, erklärt Miller (S. 53). Im weiteren Verlauf des Kapitels (S. 62 ff.) erläutert sie, was es mit den Begriffen Autopoiesis, Emergenz, Komplexität und Kontingenz, Inklusion und Exklusion auf sich hat und warum diese Begriffe für das Verständnis dessen relevant sind, wie Systeme funktionieren, wie sie sich (nicht) beeinflussen/​irritieren lassen, wie sie sich von anderen abgrenzen/​unterscheiden und wie sie sich selbst am Leben halten. Insgesamt geht es der Autorin in diesem Textabschnitt darum, den Bogen von konstruktivistischen Ansätzen zur Systemtheorie zu spannen, also den Fokus von den individuellen Menschen hin auf das System zu richten (S. 80).

Im 4. Kapitel (S. 82 ff.) setzt Tilly Miller sich mit der Bedeutung des Konstruktivismus und der Systemtheorie für die Wissenschaft der Sozialen Arbeit auseinander. Während in den vorangestellten Kapiteln relativ allgemein auf die genannten Phänomene eingegangen wurde, nimmt sich die Autorin dieser nun aus einer genuin sozialarbeitswissenschaftlichen Perspektive an. Sie macht dabei gleich am Anfang des Kapitels deutlich, dass es ihr nicht um eine Grundsatzdiskussion der Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Sozialen Arbeit gehe. Darüber sei in den letzten 35 Jahren hinreichend diskutiert worden. Für die Autorin ist eindeutig, dass es sich bei Sozialer Arbeit um eine anerkannte Disziplin und Wissenschaft handelt. Deren Aufgabe sei, so schreibt Miller (S. 83) bezugnehmend auf Kraus (2012) Forschung, Wissenschaftsmoderation, (Weiter-)Entwicklung der Lehre, Profilentwicklung des professionellen Selbstverständnisses, Theorieentwicklung sowie Aufarbeitung und Einordnung vorhandener Theorien. Die Sozialarbeitswissenschaftlerin macht deutlich, dass in der Sozialarbeitswissenschaft unterschiedliche Vorstellungen dessen vorherrschten, was Theorien zu leisten hätten. Manche Wissenschaftler*innen (die teils auch Praktiker*innen sind), vertreten die Auffassung, dass Theorien praxisrelevant sein sollten. Eine der bekanntesten Sozialarbeitswissenschaftler*innen im deutschsprachigen Raum, Silvia Staub-Bernasconi, die Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession versteht, spricht von Sozialer Arbeit denn auch explizit als Handlungswissenschaft.

Andere Wissenschaftler*innen betonten indes, so beschreibt Miller (S. 85), dass es unzureichend sei, „die Theorieentwicklung in der Sozialen Arbeit nahezu ausschließlich auf eine praktische Anwendungs- und Handlungsorientierung hin zu fokussieren und nicht auch auf die Grundlagenforschung (vgl. Birgmeier 2014)“. Im weiteren Verlauf des Kapitels nimmt sich Miller der Frage an, welchen Beitrag „die systemtheoretisch-konstruktivistische Erkenntnistheorie in dem hier vorgelegten Zuschnitt für die Wissenschaft der Sozialen Arbeit und damit für die Forschung und Theoriebildung leisten“ könne (S. 86). Sie kommt zum Ergebnis, dass Konstruktivismus und Systemtheorie impulsgebend insbesondere für die Bestimmung der Sozialen Arbeit als Funktionssystem der Gesellschaft, für die Gegenstandsbestimmung und auch für die Inklusionsdiskussion seien (S. 97). Die System-Umwelt-Differenzierung ermögliche es, Gegebenheiten auf unterschiedlichen Systemebenen zu verorten und dort entsprechend zu analysieren. Gleichwohl sei es angezeigt, betont die Autorin, wissenschaftliche Bescheidenheit an den Tag zu legen, da jedwede Erkenntnistheorie „nichts mit endgültiger Wahrheit zu tun“ habe (S. 98). Theorien seien „vorläufig, unfertig, möglicherweise einseitig“ (ebd.). Wenn man sich auf eine Theorie versteife, sei die Gefahr einer Anmaßung des Wissens gegeben, bei der man sich der eigenen blinden Flecke ggf. nicht gewahr werde. Die Relativierung dessen, was wirklich ist, finde, so erklärt Miller, daher auch selbstreferenziell im Konstruktivismus statt. 

Das 5. Kapitel (S. 99 ff.) baut direkt auf die Darlegungen im 4. Kapitel auf. Hier werden die Bedeutung des Konstruktivismus und der Systemtheorie für die Handlungskonzepte und -methoden der Sozialen Arbeit als Profession thematisiert. Miller beleuchtet, „welche Bedeutung die herangezogenen Erkenntnistheorien für die Praxis der Sozialen Arbeit“ haben (S. 99). Es geht ihr dabei nicht darum, „in die einzelnen Methoden und Techniken einzusteigen“, die für konstruktivistische und systemtheoretische Denkmodelle charakteristisch sind, sondern vielmehr darum, auf einer übergeordneten Ebene „Wesentliches herauszuarbeiten, wie die systemtheoretisch-konstruktivistische Erkenntnistheorie die Praxis Sozialer Arbeit unterstützen kann“ (S. 100). Miller erklärt, dass systemtheoretisch-konstruktivistisches Denken deshalb gut geeignet sei, der Komplexität dessen gerecht zu werden, wie vermeintliche Wirklichkeit sich in unterschiedlichen Systemen konstituiere, weil es monokausale Erklärungen für komplexe Phänomene vermeide. Die operative Geschlossenheit von Systemen zeigte, dass sich Systeme von außen nicht steuern, wohl aber irritieren ließen. Das Konzept der Selbstreferenz wiederum fordere von Professionellen im Sozialwesen, ihr eigenes Denken und (Be-)Werten selbstkritisch zu reflektieren und sich davor zu hüten, zu glauben, etwas vollends durchschaut und eine einzige richtige Erklärung gefunden zu haben. Das Autopoiesis-Konzept könne zudem „gegen überhöhte Veränderungsanspräche an Personen und Systeme wappnen“ und ein etwaiges Resignieren oder Ausbrennen unwahrscheinlicher machen (S. 105). Es eigne sich zudem, vor irrationalen „Rettungsphantasien und Aktionismus“ zu schützen und helfe dadurch, Veränderungserwartungen realistisch zu formulieren.

Darüber hinaus sei ein systemtheoretisch-konstruktivistisches Erklärungsmodell für die Praxis der Sozialen Arbeit nützlich, ist Miller überzeugt, weil dann, „wenn Konstruktionen lediglich subjektive oder systemspezifische Wahrheiten darstellen“ und keine absoluten Wahrheiten, „mit Hilfe von Allparteilichkeit und Neutralität ein Problemverständnis aufgebaut“ und vor diesem Hintergrund Hilfe angebotenen werden könne, die Klient*innen nichts vorgebe oder aufzwinge. Nicht zuletzt sind systemtheoretisch-konstruktivistisches Erklärungsmodelle gemäß der Autorin in der Sozialen Arbeit hilfreich, weil sie es erleichtern, professionelle Beziehungen zu gestalten. Essenziell für diese sei es, „die Logiken, Kommunikations- und Handlungsroutinen der verschiedenen Systeme grundsätzlich zu verstehen und gleichzeitig offen zu sein, wie sich die Systemrepräsentanten tatsächlich zeigen, welche Erwartungshaltungen sie kommunizieren, welches Problemverständnis gegeben ist und ob offen oder geschlossen argumentiert wird (S. 112). Summa summarum helfe der systemtheoretisch-konstruktivistische Ansatz dabei, Beziehungskompetenz auf intra- und interpersoneller, kultureller, organisationaler- und Netzwerkebene sowie auf Gesellschafts- und Funktionssystemebene, auf ökologische und virtueller wie auch auf professioneller Ebene auszuprägen und zu reflektieren. Wie das gelingen kann, warum das wichtig ist und was konkret damit gemeint ist, erläutert Miller im Text.

Das Buch endet mit einem Nachwort (S. 118 ff.), in dem die Sozialarbeitswissenschaftlerin zusammenfasst, was sie mit ihrem Buch beabsichtigt hat und warum es gerade auch für Sozialarbeiter*innen, die nicht wissenschaftlich an Hochschulen arbeiten, sondern im Feld mit Klient*innen interagieren, notwendig ist, auf ein Repertoire an Theorien zurückgreifen zu können. Diese helfen nämlich, die Praxis (in Teilen) zu erklären, zu kontextualisieren und zu deuten. Miller erläutert diesen Nutzen anhand der Metapher des Jonglierens mit Bällen. Systemtheorie und Konstruktivismus könnten, so schreibt sie, als Bälle angesehen werden, mit denen sich jonglieren lassen. Ein Ball allein (eine Theorie) reiche nicht aus, um die Wirklichkeit zu erklären. Um eine komplexe, widersprüchliche und ambivalent Welt zu begreifen und zu bearbeiten, bedürfe es unterschiedlicher Theorien (Bälle), die unterschiedlich groß sein können und je nach Fall mal mehr und mal weniger intensiv rezipiert werden können. Ihre Überzeugung fasst die Autorin so zusammen: „Als Professionelle/r brauchen Sie neben Methodenwissen ebenso disziplinäres und bezugswissenschaftliches Theoriewissen, das Sie erst mit Hilfe von Erkenntnis- und Wissenschaftstheorien einordnen können. Daraus ergibt sich dann ihr persönliches theoretisches Jonglierset für die Praxis, das sie bewusst zusammenstellen“ (S. 120). Tilly Miller will mit ihrem Buch eine Hilfestellung bei der möglichen Zusammenstellung geben.

Diskussion

Was lässt sich zu dem Buch nur schreiben? Wer profitiert von der Lektüre und wie ist das Werk im Fachdiskurs zu verorten? Diese Fragen kann der Rezensent wie folgt beantworten: Das Buch ist flüssig geschrieben liest sich daher sehr angenehm. Das Werk kommt ganz ohne Abbildungen und Fußzeilen aus. Der Umfang von 111 Seiten inhaltlicher Darlegungen (bei 130 Seiten Gesamtumfang) macht es möglich, das Buch an einem Tag durchzulesen. Es ist dem Text aufgrund der zahlreichen Bezugnahmen und Verweise auf Sekundärquellen und auf bedeutende Persönlichkeiten anzumerken, dass sich die Autorin seit geraumer Zeit intensiv mit systemtheoretischen und konstruktivistischen Ansätzen sowie mit deren Bedeutung für die Praxis und Wissenschaft der Soziale Arbeit befasst. Trotz dessen, dass Miller sich damit zwei Themenkomplexe herausgesucht hat, die ungemein komplex sind, gelingt es ihr gut, diese Komplexität so adäquat zu reduzieren, dass auch Studienanfänger*innen ihr folgen können, ohne dass dabei zu sehr vereinfacht wird. Erleichtert wird das dadurch, dass zentrale Erkenntnisse, die die Autorin vermitteln will, im Text gesondert abgesetzt und grau hinterlegt sind. Diese Absätze dienen als Zusammenfassungen der Erkenntnisse aus dem Fließtext. Dadurch, aber auch aufgrund dessen, dass sie so verständlich schreibt, ist das Einführungswerk Konstruktivismus und Systemtheorie (2021) von Tilly Miller deutlich leichter zugänglich als die Einführung in Systemtheorie und Konstruktivismus (2020) von Fritz B. Simon. Letztere ist zwar ebenfalls sehr lesenswert, es besteht aber die Gefahr, dass Leser*innen ohne Vorerfahrungen den Darlegungen Simons aufgrund deren Komplexität und Dichte nicht folgen können. Das ist in Millers Werk anders, weshalb potenziellen Leser*innen, die mit Konstruktivismus und Systemtheorie(n) noch nicht vertraut sind, ihr Buch vor dem von Simon lesen sollten.

Von der Lektüre profitieren sowohl interessierte Laien wie auch Studierende der Sozialen Arbeit, die daran interessiert sind, mehr über die wissenschaftlichen Grundlagen dessen zu erfahren, wie Erkenntnisse in der Sozialarbeitswissenschaft (und auch generell in den Sozialwissenschaften) gewonnen, reflektiert, weitergedacht, konvergiert und im Bedarfsfall wieder verworfen werden. Der Rezensent war selbst lange genug als Sozialarbeiter tätig, um zu wissen, dass Sozialarbeiter*innen in erster Linie praktisch tätig sein wollen. Sie sehen sich ihrem professionellen Selbstverständnis nach als Praktiker*innen. Um ein professionelles Selbstverständnis ausprägen zu können, bedarf es indes der Auseinandersetzung mit Theorien. Diese sind, wenn man sie versteht, hinterfragt, verknüpft und aktiv für die Praxis nutzt, die besten Werkzeuge. Eine professionelle Praxis, die über das hinausgeht, was auch engagierte Laien leisten können, lässt sich nicht bewerkstelligen, wenn man nicht über hinreichend theoretisches Rüstzeug verfügt, mittels dessen man erklären kann, warum man (nicht) so handelt, wie man (nicht) handelt und weshalb man etwas (nicht) so wahrnimmt, wie man es (nicht) tut. Tilly Miller macht deutlich, worin für Praktiker*innen der Gewinn darin liegt, sich mit dem oft als „trocken“ diskreditierten Thema Wissenschafts- und Erkenntnistheorie sowie speziell mit Konstruktivismus und Systemtheorie zu befassen. Wer sich damit weiter befassen will, dem/der sei insbesondere der Sammelband Die Sozialarbeitswissenschaft und ihre Theorie(n) von Bernd Birgmeier & Eric Mührel (2009) empfohlen, in dem Miller ebenfalls mit einem Text über Soziale Arbeit als Wissenschaft von Entwicklungsprozessen zu Wort kommt.

Angenehm ist die Lektüre des Textes nicht zuletzt auch, weil Tilly Miller wissenschaftliche Zurückhaltung an den Tag legt und hervorhebt, dass sie zwar vom potenziellen Nutzen von Systemtheorie und Konstruktivismus für die Erklärung und Bearbeitung sozialer Probleme überzeugt ist, dass das aber keineswegs bedeute, dass beides besser sei als andere Wissenschaftstheorien. Es geht der Autorin darum, Deutungsangebote zu machen und deren Vorteile herauszustellen, ohne (angehenden) Sozialarbeiter*innen eine Theorie als die vermeintlich Beste vorzugeben. „Alle, die sich ernsthaft mit Wissenschaft beschäftigen, werden ihr eigenes theoretisches Jonglierset zusammenstellen, das sich im Laufe der Zeit wieder verändern kann“ – schreibt Miller (S. 118). Ihr Buch ist ein Angebot an die Leser*innen, damit anzufangen bzw. es weiterzuführen. Sie schildert gut verständlich, was es mit Systemtheorie und Konstruktivismus wie auch ganz allgemein mit Erkenntnis- und Wissenschaftstheorien auf sich hat. Das macht das Buch lesenswert.

Fazit

Tilly Miller legt mit Konstruktivismus und Systemtheorie ein verständlich geschriebenes, gut zugängliches Einführungswerk vor. Sie nimmt sich einer komplexen Thematik an, die sie für die Leser*innen adäquat vereinfacht, ohne zu sehr zu vereinfachen. Die Autorin macht deutlich, warum es auch für Praktiker*innen der Sozialen Arbeit nötig und erkenntnisreich ist, sich mit Wissenschaftstheorien sowie im Speziellen mit Konstruktivismus und Systemtheorie zu befassen. Das Buch eignet sich gut als Einstiegslektüre für Studierende der Sozialen Arbeit. Von der Lektüre können aber auch berufserfahrene Sozialarbeiter*innen profitieren, die sich mit den angesprochenen Thematiken näher vertraut machen oder ihr bestehendes Wissen aktualisieren wollen.

Rezension von
Prof. Dr. Christian Philipp Nixdorf
Sozialwissenschaftler, Diplom-Sozialarbeiter/-pädagoge (FH), Sozial- und Organisationspädagoge M. A., Case Management-Ausbilder (DGCC), Systemischer Berater (DGSF), zertifizierter Mediator, lehrt Soziale Arbeit und Integrationsmanagement an der Hochschule der Wirtschaft für Management (HdWM) in Mannheim.
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Zitiervorschlag
Christian Philipp Nixdorf. Rezension vom 09.08.2021 zu: Tilly Miller: Konstruktivismus und Systemtheorie. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2021. ISBN 978-3-7799-3953-5. Reihe: Soziale Arbeit und ihre erkenntnistheoretischen Zugänge. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28492.php, Datum des Zugriffs 06.12.2023.


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