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Judith Haase: Das Kind als Kronzeuge

Rezensiert von Armin Eberli, 04.10.2021

Cover Judith Haase: Das Kind als Kronzeuge ISBN 978-3-7799-6544-2

Judith Haase: Das Kind als Kronzeuge. Professionelle Konstruktionen des Kinderschutzkindes. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2021. 282 Seiten. ISBN 978-3-7799-6544-2. D: 39,95 EUR, A: 41,10 EUR.
Reihe: Koblenzer Schriften zur Pädagogik.

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Thema

Diagnostik im Kinderschutz ist eine komplexe Aufgabe. Die vorliegende Dissertationsstudie untersucht anhand von fast 5000 Fallakten aus den Jahren 1985 bis 2014 die Perspektiven von Fachkräften im Kinderschutz auf die (Kinderschutz)-kinder. Geht also der Frage nach, wie professionelle Konstruktionen von Kindesschutzkinder aussehen. Bislang ist wenig darüber bekannt, wie Fachkräfte des Kinderschutzes Kinder in den Blick nehmen, „auf welche normativen Annahmen, welche professionellen Leitbilder und welche institutionalisierten Wissensbeständen sie dabei rekurrieren“. Ebenfalls wenig erforscht ist die Frage, welche Konsequenzen sich aus solchen Konstruktionen für die betroffenen Kinder und die Kinderschutzverfahren ergeben (Vgl. S. 252).

AutorIn

Judith Hasse, Dipl.-Soz.-Arb./Soz.-Päd., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Pädagogik der Universität Koblenz Landau und Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Katholischen Hochschule NRW, Abteilung Münster. Arbeitsschwerpunkte: Kinder- und Jugendhilfe, Kinderschutz, Kindheitsforschung, rekonstruktive Sozialforschung, Theorien, Konzepte und Methoden der Sozialen Arbeit.

Entstehungshintergrund

Das vorliegende Buch ist ein Band der Koblenzer Schriften zur Pädagogik, herausgegeben von Nicole Hoffmann, Norbert Neumann und Christian Schrapper.

Die Autorin verfügt über Erfahrung als Sozialarbeiterin im Allgemeinen Sozialen Dienst. Im Rahmen dieser Tätigkeit stellte sich für sie die Frage, wie Fachkräfte des Kinderschutzes Kinder wahrnehmen und bewerten, welche Stellung die Kinder in Kinderschutzverfahren haben und welche Handlungsmotive ihrem Handeln zugrunde liegen. Diese Fragestellungen führten zu einer vertieften wissenschaftlichen Auseinandersetzung, welche im Rahmen der vorliegenden Publikation nun dem interessierten Fachpublikum zur Verfügung steht.

Aufbau und Inhalt

Nach einem Vorwort von Doris Bühler-Niederberger und Christian Schrapper erläutert die Autorin in ihrem Vorwort ihre Beweggründe und Motivation, die vorliegende Dissertationsstudie durchzuführen und zu verfassen.

In der Einleitung, welche zugleich das erste Kapitel bildet, setzt sich die Autorin mit der aktuellen Situation im Kinderschutz, der historischen Entwicklung und den relevanten Begrifflichkeiten auseinander. Sie beschreibt den Forschungsgegenstand und das Erkenntnisinteresse und erläutert den Aufbau der Arbeit.

Das zweite Kapitel ist in drei Unterkapitel unterteilt und hat den Forschungsstand im Untersuchungsfeld zum Inhalt. Die Forschung zu Kindkonstruktionen im Kinderschutz wird dargelegt. Die Autorin unterscheidet die folgenden fünf Konstruktionen des Kinderschutzkindes (Kap. 2.1):

  • Die Unsichtbaren (Kap. 2.1.1)
  • Die Bedrohten (Kap. 2.1.2)
  • Die Funktionalisierten (Kap. 2.1.3)
  • Die Devianten (Kap. 2.1.4)
  • Die Aktiven (Kap. 2.1.5)

Im zweiten Unterkapitel beschäftigt sich die Autorin mit der Forschung zu den Anforderungen im Kinderschutz (Kap. 2.2). Dabei fokussiert sie fünf Perspektiven:

  • Dominanz erwachsenen- und familienzentrierter Perspektiven (Kap. 2.2.1)
  • Systemdruck als organisationale Rahmung (Kap. 2.2.2)
  • Defizite in Wissen und Können (Kap. 2.2.3)
  • Kinderschutz als Gemeinschaftsaufgabe (Kap. 2.2.4)
  • Interaktionsherausforderungen und Rationalitätsdefizite (Kap. 2.2.5)

Die theoretischen Zugänge zum Feld sind Inhalt des dritten Kapitels. Darin setzt sich die Autorin mit Grundannahmen und Begriffsklärungen zum Sozialkonstruktivismus und und Kinderschutzkindheit auseinander (Kap. 3.1). Kinderrechte, Elternrechte und das staatliche Wächteramt sind Inhalte des Kapitels 3.2. Nachfolgend thematisiert die Autorin die „Konstruktionen im Verhältnis von Generationalität, Vulnerabilität und Agency“ (Kap. 3.3) und erläutert das von ihr erarbeitete „Drei-Ebenen-Modell“ (Kap. 3.4) zu Kindkonstruktionen im Kinderschutz (vgl. S. 77). Herausforderungen und Machtkonstellationen im Kinderschutz bilden die Inhalte des Kapitels 3.5.

Kapitel 4 „Untersuchungsdesign, empirisches Feld und Instrumente“ beschäftigt sich mit der Herleitung der Forschungsfrage (Kap. 4.1), der Beschreibung des empirischen Materials (Kap. 4.2), der methodologischen Rahmungen (Kap. 4.3), den Forschungsphasen und -methoden (Kap. 4.4.) und den Gütekriterien (Kap. 4.5).

Die Ergebnisse des Forschungsvorhabens werden in den Kapiteln 5 „Ergebnisse I: Deskriptive-statistische Beschreibungen“ und 6 „Ergebnisse II: Qualitativ-explorative Analysen“ dargestellt. Kapitel 5 ist in drei Unterkapitel unterteilt:

  1. Das Kinderschutzkind im Kontext zeitgeschichtlicher Konjunkturen (Kap. 5.1)
  2. Hypothesen und sensibilisierende Konzepte (Kap. 5.2)
  3. Leitfragen für eine Theorieentwicklung zum Kinderschutz

Kapitel 6 stellt vier Kernkategorien dar, welche anschließend in die Metapher des „Kind als Kronzeuge“ (Kap. 6.5) mündet. Die vier Kernkategorien, welche in jeweiligen Unterkapiteln präzisiert werden, lauten:

  • Das Kind zum Fall machen (Kap. 6.1)
  • Das Kind zum Sprechen bringen (Kap. 6.2)
  • Das Kind beurteilen (Kap. 6.3)
  • Das Kind in den Fokus rücken (Kap. 6.4)

Im Kapitel 7 „Zusammenfassung, Diskussion und Ausblick“ werden die empirischen Befunde zusammengefasst (Kap. 7.1), die Ergebnisse interpretiert (Kap. 7.2) das theoretische Modell „Das Kind als Kronzeuge“ als Diagramm dargestellt (Kap. 7.3).

Abgeschlossen wird das Buch mit den „Fazit“ betitelten Kapitel 8. Darin werden die Forschungsfragen beantwortet (Kap. 8.1) und auf die Aspekte des Kinderschutzes als Balance von Schutz und kindlicher Autonomie (Kap. 8.2), der „Limitationen, Relevanz und Originalität“ (Kap. 8.3) und die „Implikationen für Forschung, Theorieentwicklung und Praxis“ (Kap. 8.4) eingegangen.

Ganz am Schluss sind ein ausführliches Literatur- und Internetquellenverzeichnis zu finden.

Diskussion

Beim vorliegenden Werk handelt es sich um eine sehr wichtige Forschungsarbeit zu bisher eher vernachlässigten Aspekten des Kinderschutzes. Die Autorin hat fast 5000 Fallakten aus den Jahren 1985 bis 2014 mittels einem Mixed-Methods-Design ausgewertet. Der Schwerpunkt bildet die qualitativ-rekonstruktive Analyse von 28 Fallakten.

Die Autorin geht richtiger- und wichtigerweise von der Annahme aus, dass „Verlauf und Ausgang von Kinderschutzverfahren und damit von Entwicklungschancen von Kindern (…) wesentlich von eigenen Annahmen kindlicher Vulnerabilität und Handlungsfähigkeit und biografisch geprägten Kindheitsentwürfen der Fachkräfte abhängig“ ist (S. 20). Es ist der große Verdienst der Autorin, mittels der vorliegenden Dissertationsstudie den Fokus auf dieses „weitgehend unbeleuchtete Feld“ zu legen.

Die Erkenntnisse durch die Forschungsarbeit der Autorin leisten einen wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung professioneller Handlungsressourcen im Kinderschutz. Die herausgearbeiteten kritischen Befunde weisen in Bezug zu den untersuchten Fallakten nicht auf wenig qualifizierte Kinderschutzarbeit hin, sie verweisen im Gegenteil „auf die besondere Qualität der diagnostischen Fallarbeit, insbesondere auf eine differenzierte Dokumentation in sorgfältig und umfangreich geführten Fallakten. Gerade deshalb können die Befunde deutlich machen, dass Erwachsene, die ihrer Verantwortung nachkommen, zu entscheiden, was Kinder benötigen und diese zu schützen, gleichzeitig riskieren, diese Kinder zu objektivieren. Es bleibt daher zu resümieren, dass Kinderschutz sich nicht nur historisch, sondern aktueller denn je, in unausweichlichen Interessenkonflikten bewegt und daher vertieften selbstkritischen Reflexionswissens und entwickelter professioneller Handlungsressourcen bedarf.“ (S. 256). 

Der Autorin ist ein sehr gut und spannend lesbares, umfangreiches und sehr fundiertes Werk gelungen. Die Lektüre hat mich zur Reflexion meiner eigenen, jahrelangen und bereits länger zurückliegenden Tätigkeit im Kinderschutz, angeregt. Ich empfehle allen Fachleuten im Kinderschutz, sich mit den Inhalten dieses Buches auseinanderzusetzen und sich auf einen Reflexionsprozess zugunsten des Kindeswohls einzulassen.

Fazit

Diagnostik im Kinderschutz ist eine komplexe Aufgabe. Die vorliegende Dissertationsstudie untersucht anhand von fast 5000 Fallakten aus den Jahren 1985 bis 2014 und der schwerpunktmäßigen qualitativ-rekonstruktiven Analyse von 28 Fallakten die Perspektiven von Fachkräften im Kinderschutz auf die (Kinderschutz)-kinder. Geht also der Frage nach, wie professionelle Konstruktionen von Kindesschutzkinder aussehen. Bislang ist wenig darüber bekannt, wie Fachkräfte des Kinderschutzes Kinder in den Blick nehmen, „auf welche normativen Annahmen, welche professionellen Leitbilder und welche institutionalisierten Wissensbeständen sie dabei rekurrieren“. Ebenfalls wenig erforscht ist die Frage, welche Konsequenzen sich aus solchen Konstruktionen für die betroffenen Kinder und die Kinderschutzverfahren ergeben (vgl. S. 252).

Die Autorin entwickelt ein theoretisches Modell zur Konstruktion von Kinderschutzkindern vor dem Hintergrund einer mehrdimensionalen Betrachtung (vgl. S. 11).

Rezension von
Armin Eberli
dipl. Sozialpädagoge/Sozialarbeiter, MAS Leadership und Change-Management. Dozent, Standortleiter Zürich und Mitglied Leitung HF von Agogis, www.agogis.ch
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Es gibt 15 Rezensionen von Armin Eberli.

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ISSN 2190-9245