Jessica Lilli Köpcke: Pflegekinder mit Behinderung
Rezensiert von Prof. Stefan Müller-Teusler, 23.07.2021

Jessica Lilli Köpcke: Pflegekinder mit Behinderung. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2021. 216 Seiten. ISBN 978-3-7799-6441-4. D: 24,95 EUR, A: 25,60 EUR.
Thematischer Hintergrund
Innerhalb der in Pflegefamilien untergebrachten Kinder nehmen Kinder mit Behinderungen noch einmal eine besondere Rolle ein, weil es einerseits manchmal einer spezifischen Ausstattung bedarf (Barrieren) und andererseits der Betreuungs- und Förderungsbedarf sich je nach Art der Beeinträchtigungen von anderen Kindern (erheblich) unterscheidet. Daher bedarf es besonders qualifizierter Pflegestellen, die mit den besonderen Herausforderungen kompetent zum Wohl der Kinder umgehen können. Dazu ist dieses Buch als Kompendium aus einem mehrstufigem Sozialforschungsprojekt entstanden.
Die Autor:innen
Jessica Lilli Köpcke ist seit Oktober 2016 als Professorin für Heilpädagogik und Studiengangsleiterin an der Medical School Berlin tätig. Sie hat an der Universität Leipzig promoviert und war dort als Lehrkraft für besondere Aufgaben tätig. Außerdem hat sie diverse Praxiserfahrungen in der Unterstützung für Menschen mit Behinderungen. Sie ist die Herausgeberin des Buches.
Fast alle anderen Autor:en des Buches sind Absolvierende der Medical School Berlin oder haben eine Verbindung (als Lehrbeauftragte) dazu.
Aufbau des Buches
Die Aufsätze des Kompendiums entstanden als mehrstufiges empirisches Sozialforschungsprojekt. Es stellt eine Sammlung von knapp sechzig qualitativen Interviews und quantitativ erhobenen Daten, rund um das Pflegekindersystem in Bezug auf Kinder mit Behinderung, dar (S. 8). Grob lässt sich das Buch in drei Teile unterteilen mit jeweiligen Aufsätzen dazu:
- Teil 1 thematisiert den gesellschaftlichen Kontext von Pflegekindern (Vermittlung, Stellenwert in der Familie, Einbindung in die Gesellschaft),
- Teil 2 greift spezifische Formen von Behinderungen auf und
- Teil 3 nimmt die Pflegeeltern in den Blick.
Das Buch beginnt (Kapitel 1) mit einem einleitenden Text der Herausgeberin Jessica Lilli Köpcke. Sie skizziert darin den Kontext für Pflegekinder mit Behinderungen und die unklaren Zuständigkeiten (SGB IX oder SGB VIII) und zeigt die unterschiedlichen Formen von Pflegeverhältnissen auf. Gerade im Hinblick auf die betroffenen Kinder ist hier häufig eine Odyssee von Unterbringungen zu verzeichnen.
Der Rechtsanwalt Christian Au geht in dem nachfolgenden Beitrag (Kapitel 1.1) auf das Sozialrecht ein. Dieser Beitrag ist mit 3 Seiten der kürzeste im ganzen Buch.
Liza Windus geht in ihrem Beitrag (Kapitel 1.2) der Frage nach, wie die Vermittlung von Kindern mit Behinderung in Pflegefamilien erfolgt. Durch eine Online-Befragung wurden 255 Teilnehmende befragt. Wenig überraschend ergab die Auswertung, dass die Jugendämter längst nicht immer alle Informationen weiterleiten (z.B. über die Behinderungen) oder erforderliche Unterstützungen leisten. Sie betont, „dass Pflegeeltern für die Aufnahme eines Pflegekindes keine Experten sein oder einen speziellen Beruf erlernt haben müssen. Die Kinder brauchen feste Bezugspersonen und Menschen um sich herum, die sie so annehmen, wie sie sind“ (S. 34).
In Kapitel 1.3 geht es um Pflegefamilien als Chance der Einbindung von Kindern mit Behinderung in die Gesellschaft. Dieser Frage wurde von Liza Windus und Marie-Luise Knoop mittels vier leitfadengestützten Interviews nachgegangen, wobei drei Interviews mit Pflegeeltern stattfanden und ein Interview mit einer Mitarbeitenden einer Wohneinrichtung stattfand. Die soziale Eingebundenheit ist sowohl für Pflegeeltern wichtig als auch für die Kinder, die damit Gesellschaft lernen und durch das Engagement ihrer Pflegeeltern in nachfolgende Kontexte geleitet werden können.
Jana-Aline Brandt, Laura Goldschmitt, Alina Ott und Marcel Steinicke gehen über den Fokus der Kinder hinaus und untersuchen in Kapitel 1.4 die Stellung und Wahrnehmung der Pflegeeltern im familiären Umfeld, dem Freundeskreis und der Gesellschaft mittels acht teilstandardisierter Leitfadeninterviews. Sie konstatieren, dass Inklusion und Teilhabe noch längst nicht als Selbstverständnis in unserem Alltag angekommen sind. Ein noch sehr konventionelles Familienbild fördert die Akzeptanz unterschiedlicher Familienbilder nicht. „Das Miteinander innerhalb der Kernfamilien, der erweiterten Familie und des Freundeskreises zeigt, dass die Annahme eines behinderten Kindes nicht weniger harmonische Moment bereithalten kann als das Familienleben mit nicht behinderten Pflegekindern. Denn Lebensqualität orientiert sich an einer Vielfalt ohne Alternative“ (S. 72).
Das Internet ist auch eine wichtige Quelle für Darstellungen und Informationen geworden. Diesen Aspekt greifen Laura Thill und Sophie Winkler (Kapitel 1.5) in ihrem Beitrag auf: Mediale Darstellung und Vermittlungsprozesse von Pflegekindern mit Behinderung im Ländervergleich Deutschland – USA. In den USA wird sehr viel offensiver mit Bild- und Videomaterial umgegangen, Kinder werden in sog. „Steckbriefen“ dargestellt, was in Deutschland undenkbar ist.
Jugendämter teilen interessierten/​potenziellen Pflegeeltern nicht immer alles über eine/die Behinderung mit (s. Kapitel 1.2). Je nach Art (und Grad) der Behinderung kann das ein zusätzliches Vermittlungshemmnis sein, aber manchmal werden Behinderungen auch erst später in der Pflegefamilie deutlich.
Jessica Lilli Köpcke leitet mit dieser Feststellung Kapitel 2 ein, welches schwerpunktmäßig einzelne Formen von Behinderungen in den Blick nimmt. Hinsichtlich der Unterstützung gilt auch hier: die Vernetzung mit anderen Pflegeeltern von Kindern mit Behinderung und die Beratung durch spezialisierte Vereine und Träger wird von alles befragten Familien als positiv und wichtige Ressource im Alltag erlebt“ (S. 90).
Mindestens muss bei Kindern mit Behinderungen eine Unterscheidung zwischen körperlicher und geistiger Behinderung getroffen werden. Wie sich das auf divergierende Vermittlungschancen von Pflegekindern aufgrund behinderungsspezifischer Unterschiede auswirkt (Kapitel 2.1), der Frage gehen Evelin Baron, Antonia Franke und Florice Leonie Vogel nach. Vier qualitative Interviews bilden hier die Datengrundlage. Kinder mit einer körperlichen Behinderung sind nicht schwerer zu vermitteln als geistig behinderte Kinder (Ausnahme: bauliche Barrieren in den Familien), während ein höherer Schweregrad der Behinderung (das bleibt unklar) ein Vermittlungshindernis darstellt.
Eine große Gruppe von Kindern mit Behinderungen in Pflegeverhältnissen sind Kinder mit FASD. Diese werden auch größer und stellen als Heranwachsende noch einmal eine besondere Herausforderung dar. Diesen Aspekt greifen Franziska Näther, Carla Rauch und Anne-Sofie Falkner auf (Kapitel 2.2). Hier bilden sieben Interviews die Datengrundlage. Das hohe Engagement der interviewten Pflegemütter war meistens ausschlaggebend für die Diagnose, die aber gesellschaftlich (Schule) häufig auf Unverständnis stieß, vielmehr wurde die gleiche Anpassung und Leistung wie bei nichtbehinderten Kindern erwartet. Auffällig ist das hohe Engagement der Pflegemütter.
Kinder mit Schütteltrauma haben irreversible lebenslange Schäden. Das Ausmaß des Traumas wird häufig erst nach vielen Jahren ersichtlich. Sofie Stahlbaum und Maria Wittkowski interviewten fünf Pflegeeltern aus unterschiedlichen Bundesländern zu diesem Thema (Kapitel 2.3). Wie auch in anderen Zusammenhängen dieses Themas müssen Pflegeeltern hier häufig um Hilfsmittel und Therapien kämpfen. Positiv ist das hohe Engagement der Pflegeeltern sowie ihre Leidenschaft für die Kinder hervorzuheben.
Timo Köpcke fragt in Kapitel 2.4 nach den Vermittlungschancen von Kindern mit Spina bifida in Pflegefamilien. Mittels acht leitfadengestützter Interviews wurden Expert:en der Behindertenhilfe befragt, die entsprechende Pflegeeltern betreuen. Auch hier wird deutlich, dass vieles nur durch das hohe Engagement der Pflegeeltern geschieht, teilweise sogar gegen Institutionen wie Jugendamt, die eigentlich unterstützend wirken sollten. Aufgrund des umfangreichen Betreuungsaufwandes für Kinder mit Spina bifida lassen sich nicht leicht Pflegeeltern finden, aber es gibt auch diese. Daraus leitet sich ein Forschungsdesiderat ab: „Insbesondere in Bezug auf die anwaltliche Rolle, die Pflegeeltern und Verbände für Pflegekinder einnehmen, ist eine gute Forschungsgrundlage wünschenswert, um im Sinne der Kinder über ein Leben in Familie zu entscheiden“ (S. 144).
Anna Maria Müller und Josephine Kneist greifen die Frage der Unterbringung von Kindern mit progredienten Erkrankungen auf (Kapitel 2.5). Auch hier wurden qualitative Interviews geführt (wie viele mit wem?). Die Auswertung ergab, dass es durchaus auch Pflegefamilien für diese speziellen Fälle gibt, allerdings meistens nicht wohnortnah zur Herkunftsfamilie. Die Hilfsorganisationen sind unterstützend in diesem Prozess tätig.
Wie schon aus der bisherigen Rezension deutlich wird (und aus vielen anderen Publikationen) nehmen die Pflegeeltern eine zentrale Rolle ein. Jessica Lilli Köpcke beginnt daher den dritten Abschnitt des Buches mit Doing Family – die Rolle der Pflegeeltern. Wie sie aus anderen Studien aufzeigt, haben die meisten Pflegeltern das Bestreben, ihren Pflegekindern einen normalen, gelingenden Familienalltag zu bieten.
Ob es typische Pflegeeltern gibt – das fragen Laura Kamke und Isabel Piskol in ihrem Beitrag (Kapitel 3.1). Hier liegen 60 Fragebögen zugrunde und es erfolgt ein Vergleich mit einer früheren Studie. Häufig sind es Menschen aus sozialen/​pflegerischen Berufen, die sich für Pflegekinder entscheiden, viele auch mit eigenen Kindern. Es lassen sich nur sehr bedingt „Prototypen“ von Pflegeeltern ausmachen.
Anna Berthold und Dana Helmecke untersuchen, inwieweit es einem Mann gelingt, sich als Pflegevater für ein Kind mit Behinderung zu identifizieren. Hierzu wurden vier qualitative Interviews durchgeführt. Es gab keine eindeutigen Ergebnisse, denn die Väter fanden sich unterschiedlich in ihre Rolle ein.
Den Prozess der Bindungsentwicklung zwischen Pflegeeltern und ihren beeinträchtigten Kindern untersuchen Alina Haubrock, Merve Uysal, Nathalie Jakubovski und Marcel Riemer (Kapitel 3.3). Acht geführte Interviews bilden hier die Datengrundlage. Es zeigte sich, dass sich die Eingewöhnung als langwierig gestaltet und auch der Bindungsaufbau (teilweise) sehr zögerlich erfolgt.
Stephanie Allgeier und Svenja Bergmeier schließen dieses Buch ab mit ihrem Beitrag (Kapitel 3.4) über die Wohnsituation von volljährigen Pflegekindern mit Behinderungen. Hier wurden 3 (ehemalige) Pflegeeltern interviewt. Die Pflegeeltern haben hier die gesetzliche Betreuung übernommen. Wie zu erwarten war, leben alle 3 Personen nicht eigenständig, sondern sind in unterschiedlichen Kontexten auf Betreuung angewiesen.
Diskussion
Wie die Herausgeberin im Vorwort schreibt, handelt es sich um ein Kompendium, was auf einem mehrstufigem empirischen Sozialforschungsprojekt beruht. Es hat den Anschein, als ob es Projektarbeiten aus dem Studium sind, die hier in einem Buch zusammengefasst wurden. Dabei fällt die jeweils knappe Datenlage auf, was meistens auch dazu führt, dass die Verfassenden am Ende ihres Beitrages konstatieren, dass es weiterer Forschungen bedarf. Die meisten Beiträge stellen nicht nur vor, mit welchen Forschungsmethoden gearbeitet wurde, sondern das Prinzip der Methode wird wie in einer Haus-/​Seminararbeit im Bachelorstudium noch einmal erläutert (Vorzüge der Methode, Vorgehensweise), wobei sehr häufig Gläser und Laudel (2010) für die Sozialforschung an sich und Mayring (2002) für das spezifische Vorgehen zitiert werden. Das wiederholt sich mehrfach (und ist überflüssig). In jüngerer Zeit sind einige Publikationen zu Pflegekindern oder Pflegeeltern bzw. Pflegeverhältnissen erschienen, die -soweit ich das überblicken kann- leider nicht immer berücksichtigt wurden, denn dann wäre manche Fragestellung eher beantwortet. Manche Untersuchungen greifen auch einfach zu kurz: der Prozess der Bindungsentwicklung ist sehr viel komplexer, als es sich auf 15 Seiten abbilden lässt, zumal die Ausgangslagen der Kinder (wann unter welchen Umständen Herausnahme aus der Familie, Zwischenstationen vor den Pflegeeltern, biographische Zusammenhänge) unsichtbar bleiben. Natürlich ist es schön, dass es das Persönliche Budget als Möglichkeit gibt (Wohnen für volljährige Pflegekinder), aber die Gewährung ist -je nach Bundesland und Kreis/​Stadt- sehr schwierig bis fast unmöglich und für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf ist es eigentlich unerreichbar. Das ist kein Argument gegen das Persönliche Budget, macht aber deutlich, wo der Anspruch der Untersuchung und vermeintlicher Ausweg und die Praxis leider deutlich auseinanderklaffen. Ein medialer Vergleich zwischen den USA und Deutschland taucht unvermittelt im Buch auf, hier wäre eine Begründung (außer verfügbarer Internetseiten) sinnvoll gewesen, denn USA und Deutschland sind im Pflegekinderwesen kaum vergleichbar. Letztlich wäre es schön, wenn es am Schluss des Buches eine Art Zusammenfassung der wesentlichen Erkenntnisse oder Empfehlungen für die Jugendämter und Pflegeeltern gegeben hätte, so obliegt es jedem/r selber.
Fazit
Das Buch greift ein wichtiges Thema auf, kann aber den Anspruch eines Kompendiums nicht erfüllen – dafür ist die Datenlage zu gering und die Erkenntnisse dementsprechend nicht sonderlich umfassend. Es ist eher eine Bestätigung über das hohe Engagement der Pflegeeltern (wie auch in anderen Publikationen zu diesem Thema) und die mehrfache Erkenntnis, dass eigentlich von der Aufgabe her eher unterstützende Institutionen wie Jugendämter und Krankenkassen manchmal als Gegner erscheinen. Die aufgeworfenen Fragestellungen (Überschriften der jeweiligen Kapitel) sind meistens gut und relevant, die Ergebnisse dagegen nicht. Inhaltlich bietet das Buch nichts neues, sondern greift die Ur-Erkenntnis auf, dass intensive, herzliche, emotionale und stabile Zuwendungen das beste Moment sein können, was Pflegekinder erfahren.
Rezension von
Prof. Stefan Müller-Teusler
Website
Mailformular
Es gibt 82 Rezensionen von Stefan Müller-Teusler.
Zitiervorschlag
Stefan Müller-Teusler. Rezension vom 23.07.2021 zu:
Jessica Lilli Köpcke: Pflegekinder mit Behinderung. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2021.
ISBN 978-3-7799-6441-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28496.php, Datum des Zugriffs 20.03.2023.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.