Felix Billhardt, Timo Storck: Wahrnehmung und Gedächtnis
Rezensiert von Prof. Dr. Manfred Gerspach, 09.09.2022

Felix Billhardt, Timo Storck: Wahrnehmung und Gedächtnis. Psychoanalyse und Allgemeine Psychologie.
Verlag W. Kohlhammer
(Stuttgart) 2021.
200 Seiten.
ISBN 978-3-17-022271-7.
36,00 EUR.
Reihe: Psychoanalyse im 21. Jahrhundert.
Thema
Der Band verknüpft die Betrachtungsweisen von Psychoanalyse und Allgemeiner Psychologie bezüglich der Bereiche Wahrnehmung und Gedächtnis. Den Hintergrund für diesen Diskurs bildet in erster Linie die Bedeutung dieser beiden Wege menschlicher Erkenntnisbildung für die klinischen wie auch außer-klinischen Anwendungsfelder der Psychoanalyse. Ausgehend etwa von Freuds Vorstellungen von Erinnerungsspuren wird die Frage nach deren valider Konsolidierung aufgeworfen. Wie lässt sich das Konzept der Verdrängung als einem Prozess gestörter Erinnerungsleistungen mit einer gedächtnispsychologischen Theorie in Zusammenhang bringen? Beide theoretischen Ansätze kommen zu Wort, und gleichzeitig wird nach einer Möglichkeit zum Austausch und Dialog gesucht.
Autoren
Felix Billhardt besitzt einen Master of Science in Psychologe und ist Psychologischer Psychotherapeut und Verhaltenstherapeut. Seine Forschungsinteressen betreffen die Kognitionspsychologie und den interdisziplinären Vergleich von kognitionspsychologischer Forschung und psychoanalytischer Theorie.
Prof. Dr. Timo Storck ist Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, Psychoanalytiker und Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Psychologischen Hochschule Berlin. Er ist Mitherausgeber der Zeitschriften Psychoanalyse – Texte zur Sozialforschung sowie Forum der Psychoanalyse. Zudem ist er Mitglied des Herausgeberbeirats der Buchreihe Internationale Psychoanalyse. Seine Forschungsschwerpunkte sind u.a. psychoanalytische Theorie und Methodologie sowie konzeptvergleichende Psychotherapieforschung.
Aufbau und Inhalt
Bereits im Vorwort wird die Absicht hervorgehoben, mit diesem Band auf argumentative und nicht apodiktische Weise zu einer Abklärung der zeitgenössischen Relevanz psychoanalytischen Denkens beitragen zu wollen. Also mit Freud über Freud hinauszugehen, psychoanalytisches Denken nicht isoliert darzustellen oder einem falschen Verständnis seiner Eigenständigkeit zu folgen. Es steht zu hoffen, dass dieser ernst zu nehmende und am Ende als gelungen zu bezeichnende Vorsatz seinen Beitrag dazu leisten wird, die in großen Teilen verstaubte Dichotomie von Allgemeiner Psychologie und Psychoanalyse überwinden zu helfen. Das ist sicher kein leichtes Unterfangen. Die aktuelle anti-psychoanalytische Schmähschrift von Bölke und Holtschke in Heft 2/2022 von „Skeptiker“ legt beredt Zeugnis davon ab, wie unter Zuhilfenahme nach wie vor eindimensionaler, ‚realwissenschaftlicher‘ Vorstellungen über die psychische Verfasstheit des Menschen versucht wird, der Psychoanalyse als einer entlarvten Pseudowissenschaft den Garaus zu machen. Diese Attitüde ruht auf einem simplifizierten mechanistischen Kausalitätsverständnis auf, wie es mit unserem inzwischen angewachsenen Wissen um die Komplexität des Zusammenspiels psychodynamisch wirkender Konfliktlagen, genetischer Dispositionen und gesellschaftlicher Rahmungen nicht mehr kompatibel ist und in dieser Schlichtheit nicht einmal mehr an die Qualität der Kritiken aus den Zeiten des sogenannten Positivismusstreits heranreicht.
Das Buch ist denn auch in die zwei großen Abschnitte über Wahrnehmung und Gedächtnis aufgeteilt, die kleinteilig abgehandelt werden. Dabei wechseln sich allgemeinpsychologische und psychoanalytische Perspektiven jeweils ab, bevor ein Vergleich gezogen wird. Den Anfang machen Ausführungen über die unterschiedlichen Arten visueller bzw. subkortikaler und kortikaler Wahrnehmung, ergänzt um Freuds Blick auf Wahrnehmungsprozesse, die interozeptive Wahrnehmung von Körperlichkeit und weitere, auch psychopathologisch verzerrte Formen der Wahrnehmung. Vor allem ging es Freud darum, die Prozesse von Denken, Wahrnehmung und Gedächtnis unter dem Vorzeichen konflikthafter und damit dynamisch unbewusster Aspekte zu betrachten. Wird dagegen von einer objektiven Wahrnehmungsschwelle zur Messung von subliminalen, also auf eine feingliedrige sensorische Informationsverarbeitung abzielenden Wahrnehmungsprozessen ausgegangen, birgt dies die Gefahr, das Auftreten von unbewusst beteiligten Vorgängen zu unterschätzen. Gleichzeitig wird herausgearbeitet, dass evolutionär betrachtet die Identifizierung von potentiellen Bedrohungen eine der wichtigsten Funktionen des menschlichen Wahrnehmungsapparates darstellt. Damit deutet sich bereits die auch ontogentisch gesehen fundamentale Bedeutung der Fähigkeit zum Unbewusstmachen-Können überwältigender Konfliktkonstellationen an.
An dieser Stelle kommt nun eine ganz zentrale Erkenntnis ins Spiel, die uns einen ersten Blick auf die (nicht nur in diesem Zusammenhang wichtige) Funktionsweise des Gehirns erlaubt. Nach LeDoux richtet sich die Architektur der Wahrnehmung auf eine möglichst effiziente Verarbeitung möglicher Bedrohungen. Es existieren daher zwei Wahrnehmungskanäle: Der evolutionär ältere Kanal führt eine erste, allerdings ungenaue affektive Verarbeitung des Wahrnehmungsinhaltes durch. Im Falle einer potentiellen Gefahr löst er eine Angstempfindung aus, die dann in eine Schutzreaktion (z.B. Flucht) einmünden kann. Der kortikale Wahrnehmungskanal hingegen verarbeitet den Wahrnehmungsinhalt kognitiv und bewirkt aufgrund seiner langsameren Arbeitsweise eine realitätsgetreuere und somit genauere Bewertung des wahrgenommenen Reizes. Die schnelle und grobe Wahrnehmungsroute verläuft direkt vom Thalamus in die Amygdala, der als einem „Bedeutsamkeits-Detektor“ im Rahmen der raschen Verarbeitung von emotionalen Reizen eine Schlüsselrolle zukommt. Die Auffassung, dass es sich hier um sehr schnell und unbewusst ablaufende Evaluationsmechanismen handelt, wird übrigens auch von Mark Solms in einem recht aktuellen Beitrag in Heft 3/2021 der Kinderanalyse vertreten, demzufolge die kognitiven Neurowissenschaften Bestätigungen für den unbewussten Charakter solcher Wahrnehmungen erbracht haben. Insofern auch macht die Gegenüberstellung einer unbewussten und einer bewussten Wahrnehmungsroute zugleich verständlich, wieso sich emotionale Reaktionen nicht einfach abstellen lassen, obwohl wir gedanklich verstehen, dass sie irrational oder dysfunktional sind.
Im Fortgang der Gedankenführung wird nun eine weitere Unterscheidung eingeführt: Im Gegensatz zur Verarbeitung externer Reize bezieht sich die interozeptive Wahrnehmung auf Signale aus dem Körperinneren und umfasst somit Empfindungen wie Hunger, Schmerz oder die Körpertemperatur. Auf diese Weise wird zunächst ersichtlich, dass die Wahrnehmung eine affektive Färbung erhält. Damit ist auch ein motivationaler Aspekt verknüpft, was insbesondere bei der Schmerzwahrnehmung und dem daraus resultierenden Impuls deutlich wird, dem Schmerz Einhalt zu gebieten. Darüber hinaus aber wird nun eine weitere Sichtweise neben der kognitiven eingeführt, die als embodied, also verkörpert, beschrieben wird. Um die aus dem Körperinneren stammenden Reize verstehen zu können, bedarf es der fürs emotionale Erleben notwendigen Ausbildung von – ebenfalls bewussten wie unbewussten – Repräsentationen der körperlichen Zustände.
Galt bereits Freud die Unterscheidung zwischen Bewusstem und Unbewusstem als eine Frage der Wahrnehmung, so wird nun mit aktualisiertem Blick auf die Verarbeitung von Reizen entlang der Erregungsabfuhr von Lust-Unlust-Qualitäten Bewusstsein als eine Wahrnehmungsdimension markiert, um Lust aufzusuchen und Unlust zu vermeiden. Dieses Konzept wird im Folgenden dahingehend weiter ausdifferenziert, dass der Primärprozess auf den unmittelbaren Ablauf von Erregung bzw. deren Abfuhr drängt, während der Sekundärprozess über die Hemmung des Primärprozesses im Sinne des Realitätsprinzips – also die Antizipation sozialer Konsequenzen oder mögliche drohende unlustvolle Gefühle – aktiviert wird. Hier nun erfolgt ein Rekurs auf Freuds Begriff des „Realitätszeichens“, welches für die Nachricht steht, dass etwas in der äußeren Wahrnehmung vorhanden ist. Das Realitätszeichen gibt demnach Aufschluss über die Unterscheidung zwischen Wahrnehmung und Fantasie. Nach Freud existiert im Unbewussten kein Realitätszeichen. Es sei die „Ichhemmung“, die die Unterscheidung zwischen Wahrnehmung und Erinnerung möglich mache und dieser sekundärprozesshafte Ablauf gestatte es, die Realitätszeichen richtig zu verwenden.
Insofern kommt es darauf an, zwischen Wahrnehmung, Vorstellung, Erinnerung, Fantasie, Traum und Halluzination zu unterscheiden, und eine angemessene Realitätsprüfung erlaubt ein Urteil darüber, ob und unter welchen Bedingungen Befriedigung möglich wird. Damit sind wir tief auf psychoanalytische Terrain vorgestoßen, und jetzt steht die Unterscheidung in psychische und materielle Realität bei der Wahrnehmung an. Der besonderen Existenzform der psychischen Realität wird etwas zugeschrieben, und mithin können Fantasien psychische Realität im Gegensatz zur materiellen Realität erlangen. Eine derartige Vorstellung erhält psychische Realität infolge von Verdrängungen oder anderen Abwehrmechanismen.
Vor allem mit Blick auf triebtheoretische und leibphänomenologische Überlegungen, die auf durchaus verschiedene Weise analoge körperliche Erregungsprozesse beleuchten, wird noch einmal auf die bedeutungsgenerierende Form der Wahrnehmung als einem Vorgang der Bildung innerer Repräsentationen verwiesen und zugleich betont, dass Affekte grundlegend mit interozeptiven Prozessen verbunden sind und das Erleben einer Emotion zugleich mit interpersonellen und körperlichen Aspekten zu tun hat. Allerdings wird auch die Einschränkung hervorgehoben, wonach die Tendenz der Wahrnehmungsprozesse, emotional relevante Inhalte eher zu verarbeiten, nicht zwangsläufig mit eine erhöhten Neigung einhergeht, diese Inhalte bewusst bzw. realitätsgerecht wahrzunehmen.
Nun erfolgt der Sprung zum Thema Gedächtnis, das zunächst aus allgemeinpsychologischer Perspektive – unter Einschluss der Aufteilung in Kurzzeit-, Langzeit- und Arbeitsgedächtnis, unter Berücksichtigung des Einflusses von Emotionen auf die Bildung und des Abrufs von Erinnerungen sowie unter Inaugenscheinnahme der Verankerung der Erinnerungen im Gedächtnis – genauestens ausbuchstabiert wird. Besonders interessant erscheinen dabei die Passagen über die Unterscheidung in ein semantisches und ein episodisches, bzw. ein explizites und ein implizites Gedächtnis, zumal sich an dieser Stelle eine große Nähe zu neurowissenschaftlichen Forschungsergebnissen auftut. Gerade das implizite oder non-deklarative Gedächtnis umfasst sämtliche nicht-sprachlichen – inzwischen als unbewusst bezeichneten – Erinnerungen, wobei in einer Fußnote sogleich eine deutliche Abgrenzung zum dynamischen Unbewussten der klassischen Psychoanalyse gezogen wird. Auch Solms hat in oben bereits angeführten Beitrag auf den Unterschied zwischen dem kognitiven und dem dynamischen Unbewussten verwiesen.
Aus psychoanalytischer Sicht wird Gedächtnis, zunächst in Anlehnung an Freud,unterteilt in:
- die Niederschrift der Wahrnehmungen als „Wahrnehmungszeichen“
- die Niederschrift im „Unbewusstsein“
- eine Umschrift im „Vorbewusstsein“, dabei an Wortvorstellungen gebunden, was unserem offiziellen Ich entsprechend das „Denkbewusstsein“ darstellt.
In diesem Zusammenhang taucht nun Freuds Gedanken einer infantilen Amnesie auf, die die Ereignisse der ersten Lebensjahre verdecke und sich dabei aus der Verdrängung ergebe. Dabei sei es weniger ein Problem der nicht gebildeten oder zerstörten Erinnerungsspuren, als ein Problem des Abrufs, das heißt es drehe sich um eine Abhaltung vom Bewusstsein. Im Fortgang der Erörterung dieses zentralen Topos der Psychoanalyse werden die Psychodynamik des Verdrängens – als Kompromiss zwischen Wunsch und Verbot –, die Rolle von Deckerinnerungen im Sinne der Verschiebung auf etwas Benachbartes und das Konzept der Nachträglichkeit herangezogen, welches an Hand einer Fallvignette von Freud ausgeleuchtet wird. Frühe Erinnerungen mit sexualisiertem Inhalt können danach durchaus erst in späteren Jahren in ihrer, auch traumatischen Bedeutung verstanden werden. Allerdings treten neue Einschreibungen hinzu, und was dann ins Bewusstsein übersetzt wird, ist immer eine Neubildung, die sich aus den Erinnerungsspuren und Aufschichtungen des aktuellen Zustands des psychischen Apparats zusammensetzt. Folglich sind es nicht die Erlebnisse als solche, sondern deren Spuren, die Folgen nach sich ziehen. Ein Erlebnis – jetzt im Sinne einer aktuellen Wahrnehmung zu lesen – bleibt nicht in seiner ursprünglichen Fassung wirksam, es hinterlässt aber Einschreibungen. Demnach steht Nachträglichkeit mit der Möglichkeit zum Abrufen von Gedächtnisspuren in Verbindung, gleichbedeutend mit dem verspäteten Erlangen von Bedeutung und Wirkung. Ein früheres Erlebnis wird also nicht statisch und quasi 1: 1 reproduziert, sondern schafft eine neue Form für das, was sich von vorangegangenen Wahrnehmungen eingeschrieben hat.
Hier nun schließen Ausführungen über erlittene Traumata an, die der versagende Reizschutz nicht mehr einer Bewältigung zuführen kann. Ergänzt werden diese Gedanken über die Angst vor dem Zusammenbruch durch das mögliche Moment transgenerativer Wirkfaktoren. Der erneute Rückgriff auf die körperliche Dimension – im Sinne eines autonomen Körpergedächtnisses – offenbart noch einmal die enge Verzahnung von aktueller Wahrnehmung und Erinnerung. Den Schlusspunkt setzen wichtige Hinweise auf Erinnern und Veränderung im Behandlungsprozess, markant unterlegt mit der Annahme von Alexander und French über die verändernde Wirkung einer korrigierenden emotionalen Beziehungserfahrung. Dabei werden neuere theoretische und methodische Ergänzungen wie Mentalisierung, Symbolisierung und Transformation hinzugenommen, ergänzt um eine spannend bleibende Debatte über die Gegenübertragung der Psychoanalytiker*innen. Weder die nachgerade berühmte Bemerkungen Bions, der Analytiker solle in der Stunde ohne Erinnerung und Verlagen – auch übersetzt als ohne Erinnerung und Wunsch – vorgehen, darf fehlen, noch die inzwischen als Konsens geltende Unterscheidung zwischen Deutung, Rekonstruktion und Konstruktion. Damit ist gemeint, so Bohleber, dass durch den Analytiker/die Analytikerin oder in gemeinsamer Arbeit Erlebnisformen gebildet werden, die diffuse protopsychische Zustände in Repräsentanzen überführen. Er/sie sollte sich die Möglichkeit bewahren, ein Vorverständnis in Frage zu stellen, und Sorge dafür zu tragen, dass die Erinnerung ihn/sie nicht daran hindert, in eine unmittelbare Beziehung einzutreten.
Das Kapitel endet mit einem resümierenden Vergleich allgemeinpsychologischer und psychoanalytischer Theorien des Gedächtnisses. Erstere legt Wert auf Informationsverarbeitung, letzter auf die psychodynamisch wirksam werdenden Prozesse. Auch wenn bestimmte Begriffe wie etwa der des impliziten Gedächtnisses durchaus anders benutzt werden, so finden sich doch in diesem Zusammenhang auch in der Allgemeinen Psychologie zentrale Konzepte, die auf dem Bewusstsein nicht zugängliche Vorgänge verweisen. Anders als in der Psychoanalyse sind diese Prozesse hier jedoch meist deskriptiv gerahmt, während der psychoanalytische Begriff des dynamischen Unbewussten über die rein deskriptive Ebene hinausgeht und beschreibt, wie konflikthafte Inhalte aktiv aus dem Bewusstsein ferngehalten werden.
Diskussion
Dieses Buch gewährt einen überaus anschaulichen und umfassenden Blick auf Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten von Allgemeiner Psychologie und Psychoanalyse. Beide Fassungen werden in einer jeweils sehr aktuellen Version präsentiert, sodass zum einen alten Vorurteilen speziell gegenüber der Psychoanalyse, keine weitere Nahrung gegeben wird, und zum anderen aufscheint, wie sich die Forschungsbemühungen tendenziell immer weiter annähern. Gerade über die Anknüpfungsmöglichkeiten an die Neurowissenschaften wird dieser Anspruch, der ja offensichtlich das Motto dieses Bandes abgibt, eingelöst. Die auf diesem Terrain moderner humanwissenschaftlicher Forschung explizit ausformulierte Gewissheit unbewusst ablaufender innerseelischer Prozesse, wenngleich vielleicht mit zum Teil etwas anderer Tönung, lässt ja das dogmatisch starre Festhalten an alten Verdikten gegenüber der Psychoanalyse obsolet erscheinen. Zumal dann, wenn aus dieser Richtung ihre nachgerade explosionsartige Erkenntniserweiterung der letzten Jahre nicht zur Kenntnis genommen wird. Am Rande könnte dies einen interessanten Hinweis liefern über dort wirkmächtige fausse reconnaissance und affektgesteuerte aktuelle Wahrnehmungsverzerrung.
Jedenfalls ist das Buch sehr verständlich geschrieben, der logische Aufbau überzeugt in seiner einfachen und daher umso eingängigeren Form. Erfreulicherweise entkommen die beiden Autoren der Gefahr gegenseitiger Abwertung. Selbst kleinste versteckte Seitenhiebe lassen sich nicht auffinden. Im Gegenteil ist ihrem gesamten Text jegliche rigide theoretische Verengung fremd, und mit der also dargebotenen Offenheit gelingt es ihnen durchgängig, die komplexen Vorgänge der Wahrnehmung – und zwar im Zusammenspiel mit Gedächtnis und Erinnerung – auf eine neugierig machende Weise zu präsentieren.
Fazit
Das Buch wird dem selbst erhobenen Anspruch, eine Zusammenschau aktueller Erkenntnisse über menschliche Wahrnehmungs- und Gedächtnisleistungen zu bewerkstelligen, mehr als gerecht. Wenngleich am Ende formuliert ist, es wende sich vorrangig an eine psychoanalytische oder psychoanalytisch interessierte Leserschaft, so mag ich dieser Einschränkung nicht ganz folgen. Womöglich kann man tatsächlich von einer größeren Neigung dieser Gruppe ausgehen, sich auf interdisziplinäres Terrain vorzuwagen. Zumal sicherlich, was auch implizit eingestanden wird, die gerne gewählte „splendid isolation“ der verfassten Psychoanalyse gegenüber den Nachbarwissenschaften in den letzten Jahren und Jahrzehnten zu ihrer Marginalisierung einen gewissen Beitrag geleistet hat. Und hier ist ein allgemeines erfreuliches Umdenken zu entdecken. Die weitere Rezeption des vorliegenden Bandes wird mir bestimmt Recht geben. Aber umgekehrt verhält es sich doch nicht anders. Auch Vertreter*innen der Allgemeinen Psychologie werden, so sie dieses Buch zur Hand nehmen, auf psychoanalytische Einsichten stoßen, die ihren fachlichen Horizont auszuweiten vermögen.
Rezension von
Prof. Dr. Manfred Gerspach
lehrte bis 2014 am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und Soziale Arbeit der Hochschule Darmstadt. Schwerpunkte: Behinderten- und Heilpädagogik, Psychoanalytische Pädagogik sowie die Arbeit mit so genannten verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen. Seit 2015 lehrt er als Seniorprofessor am Institut für Sonderpädagogik der Goethe-Universität Frankfurt.
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Zitiervorschlag
Manfred Gerspach. Rezension vom 09.09.2022 zu:
Felix Billhardt, Timo Storck: Wahrnehmung und Gedächtnis. Psychoanalyse und Allgemeine Psychologie. Verlag W. Kohlhammer
(Stuttgart) 2021.
ISBN 978-3-17-022271-7.
Reihe: Psychoanalyse im 21. Jahrhundert.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28525.php, Datum des Zugriffs 30.11.2023.
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