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Johannes Siegrist: Gesundheit für alle?

Rezensiert von Prof. Dr. Thomas Elkeles, 02.12.2021

Cover Johannes Siegrist: Gesundheit für alle? ISBN 978-3-534-40525-1

Johannes Siegrist: Gesundheit für alle? Die Herausforderung sozialer Ungleichheit. wbg Wissenschaftliche Buchgesellschaft (Darmstadt) 2021. 268 Seiten. ISBN 978-3-534-40525-1. D: 34,00 EUR, A: 35,00 EUR.

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Thema

‚Gesundheit für alle‘ war bzw. ist die Forderung der Internationalen Konferenz über primäre Gesundheitsversorgung der Weltgesundheitsorganisation in Alma-Ata 1978 und zielte in erster Linie darauf, möglichst allen Menschen ungehindert Zugang zu gesundheitlicher Versorgung zu ermöglichen und hierfür vor allem eine grundlegende Gesundheitsversorgung (Primärversorgung) sicherzustellen. Aber die Forderung ‚Gesundheit für alle‘ meint nicht allein einen Zugang zu Gesundheitsversorgung für alle Menschen, sondern auch und gerade, darauf hinzuwirken, dass die in den Bevölkerungen aller Länder ungleich verteilten Gesundheitsgefahren, wo sie beeinflussbar und vermeidbar sind, vermindert und bekämpft werden. Gesundheitliche Ungleichheit, d.h. ein sozialer Gradient von Gesundheit und Krankheit nach Höhe des sozialen Status, findet sich in allen, auch in den entwickeltesten und relativ gleichen Zugang zum Gesundheitssystem gewährenden Ländern. Obwohl dies in Medizinsoziologie und Sozialepidemiologie breit bekannt ist, ist dies bisher kaum im Bewusstsein von Politikern präsent.

Die hierfür benötigten Grundlagen stellt dieser Band in einem Überblick über die deutsche und internationale Forschung zusammen. Dabei liegt das Zentrum der Ausführungen auf den europäischen Ländern, wo die bedeutendsten Erkenntnisfortschritte erzielt wurden. Eine weitere bewusst getroffene Akzentsetzung besteht darin, dass das Buch nicht-materiellen, psychosozialen Aspekten sozialer Benachteiligung und ihren Folgen für die Gesundheit besondere Aufmerksamkeit schenkt.

Autor

Prof. Dr. Johannes Siegrist war bis 2012 Direktor des Instituts für Medizinische Soziologie der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und ist seither dort Seniorprofessor.

Entstehungshintergrund

Johannes Siegrist hat sich um das Thema sozialer Determinanten ungleicher Gesundheitschancen schon lange verdient gemacht, sowohl in theoretischer wie auch in empirischer Hinsicht. Sein Wunsch, dieses Buch zu schreiben, liege viele Jahre zurück. Jedoch erst das Privileg seiner Seniorprofessur habe es ihm ermöglicht, hierfür die notwendige Zeit und Ruhe zu finden, teilt er in der Danksagung mit (S. 213 f.). Wesentliches Motiv sei gewesen, die Aufmerksamkeit über das hierbei bereits Erreichte zu steigern und „dieses verborgene Wissen in der Öffentlichkeit besser sichtbar und begreifbar zu machen“ (S. 12).

Aufbau

Das Buch gliedert sich in acht meist ca. 30-seitige Kapitel. Neben der Einleitung (Kapitel 1) führt auch Kapitel 2 („Das Rätsel der Ungleichheit“) ins Thema ein, Letzteres indem grundlegende Begrifflichkeiten (soziale Klasse, soziale Schicht, differenzielle Lebenschancen), Methoden der Messung und Beschreibung sowie Vor- und Nachteile vorliegender Indikatoren geklärt werden. Die These, schichtspezifische Unterschiede von Krankheitshäufigkeit und Sterblichkeit seien in erheblichem Ausmaß durch Faktoren verursacht, die aufs Engste mit den Lebens- und Arbeitsbedingungen ihrer Mitglieder zusammenhängen, wird in den folgenden vier Kapiteln anhand gegenwärtig vorliegender wissenschaftlicher Erkenntnisse erörtert. Dabei dienen die verschiedenen Lebensphasen als Gliederungsprinzip. Das siebte Kapitel fügt Analysen der makrostrukturellen Einflüsse der Umwelt und des Wirtschaftssystems hinzu, während das achte Kapitel gesellschaftspolitische und ethische Aspekte fokussiert.

Jedes Kapitel endet nach der Erörterung der wissenschaftlichen Befundlage mit Zusammenfassungen und der Frage, was daraus für mögliche politische Interventionsstrategien folgt und was über deren bisherige Ergebnisse bekannt ist.

Inhalt

Kapitel 3 („Biologie sozialer Benachteiligung“) versucht zusammenzufassen, was aus der Lebenslaufepidemiologie über die Einflüsse aus heranwachsendem Leben während der Schwangerschaft und früher Kindheit auf den zeitlichen Zusammenhang zwischen sozialer Lage und dem Auftreten von Krankheiten bis ins Erwachsenenalter bekannt ist darunter das Kumulationsmodell und die englischen Erfahrungen mit Interventionsstrategien,.

Kapitel 4 („Lebensstile und Wege in die Autonomie“) fokussiert das Jugendalter, die Adoleszenz und das junge Erwachsenenalter. Bei der Erklärung des auch in dieser Phase feststellbaren sozialen Gradienten von Gesundheit und Gesundheitsverhalten sind zum einen unbewusst tradierte Einflüsse aus dem Elternhaus bedeutsam, zum anderen aus den Gruppen Gleichaltriger, die nun in Konkurrenz zu der bisher dominierenden Sozialisationsinstanz der Eltern treten. Objektive Opportunitäten und Restriktionen des Alltagslebens in bestimmten soziostrukturellen Lagen und in einem sozialen Milieu erworbene typische Handlungsdispositionen und Einstellungen lassen einen in die Alltagswelt eingelagerten und als Gewohnheit verinnerlichten gesundheitsrelevanten Lebensstil entstehen. „Wer (neben finanzieller Not) zugleich von Nöten der Existenzsicherung getrieben wird, wird seine Interessen und Präferenzen weniger an dem langfristigen Wohlergehen orientieren, sondern das hier und jetzt Wichtige im täglichen Handeln bevorzugen. (...) Indem der Habitus zentrale Bereiche alltäglicher Lebensgestaltung wie Nahrung, Kleidung, Erziehung und Geschmacksbildung bestimmt, sichert er zugleich die soziale Identität der Gruppenmitglieder durch die Abgrenzung gegenüber den Praktiken anderer Gruppen und Schichten“ (S. 80).

In der Phase des Erwachsenenalters (Kapitel 5: „Im Zentrum: Arbeit und Familie“) treten soziale Determinanten gesundheitlicher Ungleichheit aus dem Bereich der Erwerbsarbeit und der engen sozialen Bindungen in Partnerschaft und Familie hinzu. Für das Gefühl der Zufriedenheit ist entscheidend, „ob die geleistete Arbeit eine angemessene Anerkennung erfährt, und zwar nicht nur in Form von Bezahlung, sondern auch in Form von Wertschätzung durch wichtige Bezugspersonen“ (S. 95). Neben den materiellen Aspekten von Arbeit (einschließlich der sozial ungleich verteilten materiell gesundheitsgefährdenden Arbeitsbedingungen) stehen nicht-materielle Aspekte, für die oft der Sammelbegriff ‚psychosozial‘ verwendet werde. „Dadurch wird ihr besonderes Merkmal herausgestellt, welches darin besteht, dass diese Aspekte zwar objektiv feststellbare Tatbestände repräsentieren, dass ihre Wirkung auf die Gesundheit jedoch wesentlich von dem Erleben und Interpretieren der Situation durch die arbeitende Person und den daraus folgenden Reaktionen abhängt“ (S. 97). Von den (stresstheoretischen) Modellen haben zwei nach umfangreichen empirischen Überprüfungen international Anerkennung gefunden: das Anforderungs-Kontroll-Modell und das von Siegrist und seiner Arbeitsgruppe selbst entwickelte Modell beruflicher Anerkennungskrisen. Die Risikoerhöhungen insbesondere für koronare Herzkrankheiten und depressive Störungen unterstreichen auch die Wichtigkeit einer umfassenden betrieblichen Gesundheitsförderung zur Verminderung gesundheitlicher Ungleichheit.

Ausweitungen der Arbeitsstressmodelle betreffen Diskontinuität im Erwerbsverlauf und die unbezahlte Tätigkeit bei der Haus- und Familienarbeit. Wegen der besonders starken Ausprägung des sozialen Gradienten von Morbidität und Mortalität im mittleren Erwachsenenalter sei es nur konsequent, dass diese Lebensverlaufsphase sowohl in Forschung als auch in Politik eine besonders hohe Aufmerksamkeit erfahre.

Im Alter (Kapitel 6: „Gesundheit im Alter“) sei der Gradient vergleichsweise weniger stark ausgeprägt, aber ebenso durchgängig belegt. Im vierten Lebensalter (Hochbetagte) träten Gebrechlichkeit und eingeschränkte Lebensvollzüge als Probleme auf, im ‚dritten Lebensalter‘ gehe es soziologisch um die Aufgabe alter und die Übernahme neuer sozialer Rollen. Auch käme es zu altersabhängigen Veränderungen sozialer Netzwerke und sozialer Aktivitäten wie die produktiven Tätigkeiten in Form von bürgerschaftlichem Engagement und Hilfeleistungen bei Krankheit und Behinderung in Familie und Freundeskreis. Für Personen ohne längere Erwerbsbeteiligung und Alleinstehende werde Altersarmut zu einem drängenden Problem. Anhand der Beispiele Schrittgeschwindigkeit, des physischen und psychischen Funktionsvermögens, der Krankheitsbilder koronare Herzkrankheit, Depression und Demenz sowie der allgemeinen Sterblichkeit verdeutliche sich trotz des im Alter etwas schwächer ausfallenden sozialen Gradienten „überzeugend die enge Verbindung von biologischem Geschehen und sozialer Umwelt, eine Verbindung, deren Intensität mit dem Terminus der ‚Einverleibung des Sozialen‘ (‚embodiment‘) umschrieben wurde“ (S. 156).

Soziale Ungleichheit lässt sich nicht erschöpfend anhand von Indikatoren der Bildung, der beruflichen Stellung und des Einkommens von Personen analysieren, sondern „manche ihrer wichtigen Aspekte (erschließen sich) erst auf der Ebene der räumlichen, materiellen und sozialen Kontexte, in denen Menschen leben, in ihren sozialen Milieus, Nachbarschaften und Wohnregionen. Es ist daher notwendig, auf einer den individuellen Daten übergeordneten Analyseebene der natürlichen (physikalisch-materiellen) und der sozialen Umwelt jene Aspekte herauszustellen, welche die gesundheitliche Ungleichheit in einer Gesellschaft mitbestimmen“ (S. 166). Dies geschieht in Kapitel 7 („Die Makro-Ebene: Umwelt, Wirtschaft und Politik“). Hier werden neue Erkenntnisse zu Zusammenhängen zwischen materieller und sozialer Umwelt und erhöhter gesundheitlicher Gefährdung (mittels Erweiterung um statistische Mehrebenenanalysen), die Auswirkungen wirtschaftlicher Krisen und Konflikte sowie die Bedeutung politischer Programme und Regelungen ausgebreitet. Nationale Politiken wie integrative Arbeitsmarktpolitiken seien in der Lage, die Effekte sozialer Ungleichheit auf die Gesundheit zu moderieren.

Kapitel 8 „Auf dem Weg zu mehr Gleichheit“ stellt im Grunde genommen eine Diskussion verschiedener Fragen dar, die sich aus dem Buch ergeben. So müsste die Forderung ‚Gesundheit für alle‘ spezifiziert werden hinsichtlich der Frage, worauf sie sich beziehe. Hier komme ins Spiel, dass zwischen vermeidbaren und unvermeidbaren Krankheiten zu unterscheiden sei, wobei manche chronischen Erkrankungen ein Bündel von Risikofaktoren aufwiesen, die durch teils schwer veränderbare Einflüsse bedingt seien. Ein weiteres Problem sei, wie Gleichheit zustande kommen solle, wenn Menschen freiwillig Gesundheitsrisiken in Kauf nehmen. „Soll das Gleichheitspostulat die freiwillig eingegangenen Gesundheitsrisiken ausschließen? Aber wie sicher ist es, dass hier stets bewusste individuelle Entscheidungen und nicht etwa Unwissenheit zugrunde liegen?“ (S. 200).

Beim „Streitpunkt Kausalität“ (S. 200 ff.) gehe es um Fragen der Nachweismöglichkeiten und -standards. Die Postulate eines strengen, an die Naturwissenschaften angelehnten Kausalitätsbegriffs ließen sich bei den multifaktoriell bedingten Krankheiten nicht erfüllen. „Kausalitätsannahmen sind damit grundsätzlich in einen wahrscheinlichkeitstheoretischen Zusammenhang gestellt. Um mit dieser ‚schwachen‘ Form kausaler Beziehungen keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, erscheint es folgerichtig, nicht von sozialen Ursachen, sondern von sozialen Determinanten von Erkrankungen zu sprechen“ (S. 203). Zumindest der höchste Bildungsabschluss vor Berufseintritt als Indikator sozialer Schichtzugehörigkeit halte allerdings den Kritikpunkten stand, womit ihm in Studien der Vorzug gegenüber alternativen Indikatoren zu geben sei. Auch unter Mediatorvariablen gebe es solche mit recht hoher pathogenetischer Plausibilität, für die in einem wahrscheinlichkeitstheoretisch fundierten Zusammenhang mit umso größerer Sicherheit etwas als schwach kausale Beziehung interpretierbar sei, je weiter hier die empirische Evidenz entwickelt sei.

Während von Verbesserungen der Bildungschancen immerhin längerfristig eine positive Wirkung auf die Gesundheit der Bevölkerung erwartet werde, sei es bisher nicht sicher, ob von größeren systematischen Umverteilungen der Einkommen ein direkter Effekt auf Morbidität und Mortalität ausgehen könne. Auch hält es Siegrist für wenig aussichtsreich, die eigentliche ‚kausale Therapie‘ eines Abbaus der grundlegenden Differenzierung zur Anwendung bringen zu können. „Da die Widerstände gegen weitreichende gesellschaftliche Umverteilungsprozesse hoch und die Tendenzen des Erhalts und der Verbesserung des sozialen Status stark und weit verbreitet sind, erscheint es wenig aussichtsreich, in absehbarer Zeit eine substanzielle Verringerung sozialer Gradienten von Morbidität und Mortalität selbst in den fortschrittlichsten Ländern zu erwarten“ (S. 208). Folgerichtig dagegen hält er es, politisch dort anzusetzen, wo prioritär auf die Bedingungen Einfluss genommen wird, die zwischen sozialer Lage und Krankheitshäufigkeit vermitteln, also auf die für die Gesundheit relevanten Lebensbedingungen der meso-sozialen Ebene. Dies allein sei bereits ein „umfangreiches, kräfte- und zeitraubendes Unterfangen“, bei dem wir allerdings „die makro-sozioökonomischen und politischen Determinanten mit ihrem Potenzial, auch relative soziale Ungleichheiten zu verringern, stets mitbedenken und nach Wegen suchen (sollten), sie gerechter zu gestalten“ (S. 210).

Diskussion

Es liegen anderweitig bereits eine Vielzahl von Ausarbeitungen aus Medizinsoziologie und Sozialepidemiologie zur gesundheitlichen Ungleichheit vor. An einigen war Johannes Siegrist selbst beteiligt. Keine der bisher vorliegenden Ausarbeitungen jedoch löst den Anspruch, die Thematik überblicksmäßig darzustellen, so umfassend ein wie dieser Band. Der selbst gesetzte Anspruch, dies „in allgemeinverständlicher und zugleich anspruchsvoller Form“ (S. 12) zu tun, wird in jeder Hinsicht eingelöst. Wahrscheinlich gelingt dies durch die außerordentliche Souveränität, die Johannes Siegrist sich langjährig bei dem Thema und nunmehr während seiner Seniorprofessur aneignen konnte und die hier zum Ausdruck kommt.

Fazit

Das Buch gibt einen Überblick über die Determinanten des auch in entwickelten Gesellschaften fortbestehenden sozialen Gradienten hinsichtlich Morbidität und Mortalität und die daraus zu folgernden möglichen bzw. erprobten politischen Interventionsstrategien zu deren Reduzierung. Die aktuelle internationale Forschungsliteratur wird in einer gut verständlichen und umfassenden Weise aufgearbeitet.

Rezension von
Prof. Dr. Thomas Elkeles
bis 2018 Hochschule Neubrandenburg, FB Gesundheit, Pflege, Management

Es gibt 28 Rezensionen von Thomas Elkeles.

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Zitiervorschlag
Thomas Elkeles. Rezension vom 02.12.2021 zu: Johannes Siegrist: Gesundheit für alle? Die Herausforderung sozialer Ungleichheit. wbg Wissenschaftliche Buchgesellschaft (Darmstadt) 2021. ISBN 978-3-534-40525-1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28538.php, Datum des Zugriffs 06.10.2024.


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