Sonja Knobbe: Ökonomische Praktiken
Rezensiert von Arnold Schmieder, 10.06.2022

Sonja Knobbe: Ökonomische Praktiken. Zur theoretischen Fundierung eines alltäglichen Begriffs. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2021. 344 Seiten. ISBN 978-3-8487-8149-2. 74,00 EUR.
Thema
„Wirtschaft hat etwas mit Arbeit und Gütern zu tun“, stellt die Autorin gleich eingangs fest und fragt, „was ist dann eigentlich unter Arbeit und Gütern zu verstehen?“ Und weiter wird die Frage aufgeworfen, was „ist überhaupt mit Handlungen jenseits eines monetär verfassten, marktwirtschaftlichen Systems? Kann man dann auch von ökonomischen Handlungen sprechen?“ Zugleich stellt die Autorin fest, „dass die Ökonomie selbst heute wieder Gegenstand der Kritik wird: Kapitalismus scheint wieder salonfähig“, und mit Rahel Jaeggi hält sie fest, „dass das Theorem der ‚Bändigung des Kapitalismus‘ als ‚zu zähmendes Tier‘ problematisch ist“ und „ob die Domestizierungsmetapher überhaupt angemessen ist.“ Mit Schlaudt sieht sie die „derzeitige Aufgabe der Wirtschaftsphilosophie in einer Klärung der mittlerweile zur Disposition stehenden ökonomischen Grundbegriffe“. Daher will Knobbe den „Status quo in den Wirtschaftswissenschaften wie auch die damit verbundenen theoretischen Unklarheiten als Ausgangspunkt nehmen und versuchen, darauf konstruktiv aufzubauen“ (S. 13 ff.). Anspruch der Autorin ist, ein „Verständnis ökonomischer Handlungen“ zu eröffnen, das einer Entwicklung und Zusammenfügung alternativer Handlungstheorien dienen kann. Darüber hinaus könne es einen „Beitrag zur Diskussion um die Grenzen der Sphäre des Ökonomischen wie auch des Zuständigkeitsbereiches der Wirtschaftswissenschaften leisten. Es kann als philosophische Basis und somit als Zugewinn für die ökonomische Theoriebildung in Zeiten des Umbruchs dienen“ (S. 37).
Knobbe beginnt mit der Neoklassik und dem Homo oeconomicus, insofern mit einem ‚Menschenbild‘. Die Autorin räumt ein, dass die von ihr „vorgeschlagene Herangehensweise sehr viel komplexer“ ist und „vermutlich auch weit weniger eindeutige Ergebnisse produzieren“ wird als die „orthodoxe neoklassische Methode“ (S. 327). Sie favorisiert „Praxistheorie“, durch die deutlich werde, „welchen Einfluss sozial geteilte Vorstellungen und Kulturen auf ökonomische Praktiken bzw. Institutionen haben (und umgekehrt)“ (S. 323). Polanyi ist dabei ihre Referenz, nach dessen Analyse „ökonomische Prozesse historisch gesehen immer in kulturelle und soziale Gegebenheiten integriert waren, während sich das kapitalistische System dadurch auszeichnet, dass es wesentliche kulturelle und soziale Faktoren, namentlich Arbeit, Boden und Kapital, als Waren betrachtet und somit umgekehrt für den Wirtschaftsprozess zu vereinnahmen und vom Übrigen abzukoppeln sucht.“ Knobbe destilliert aus Polanyi wie Robbins, dass „Zweckrationalität, ein institutionalisierter Kontext wie auch der Tausch als wesentlich zu betrachten sind. Diese für relevant befundenen Faktoren“ will die Autorin „im Anschluss der Analyse aus praxistheoretischer Perspektive nach Rahel Jaeggi beleuchten“ (S. 36 f.). Insgesamt zeige sich, „dass mit Hilfe der Praxistheorie viele Faktoren differenziert ausbuchstabiert werden können“ (S. 325).
Jedenfalls hält die Autorin eine „absolute Trennung ökonomischer und nicht ökonomischer Praktiken“ für nicht möglich, und die auf „Abstraktion gerichtete neoklassische Analyse nach Robbins“, der im Buch ebenso prominent behandelt wird wie Karl Polanyi, habe „zugunsten der methodischen Klarheit zu viele Bezüge zur Realität“ aufgegeben, „sodass von ihr zwar eindeutige, aber keine realistischen Aussagen mehr erwartet werden können“, was für manche „auf einen sehr reduzierten und einfach zu quantifizierenden Untersuchungsbereich gerichtete und sehr eindeutige Fragestellungen (…) ausreichend sein (mag).“ Daher endet die Autorin zustimmend mit einem Zitat von Hausman: „‚Context dependences, heuristics, and deliberative flaws open the door to failures of rationality and create a gulf between theories of actual and rational choice. This gulf may be regrettable, but methodolocical longing cannot make the theory of rational choice into an accurate account of actual choice‘“ (S. 326 f.).
Autorin
Dr. Sonja Knobbe ist Wirtschaftsphilosophin und forscht zur nachhaltigen Transformation von Ökonomien und demokratischer Teilhabe. Bei „Ökonomische Praktiken“ handelt es sich um die Dissertation der Autorin.
Inhalt
Das Buch ist in fünf Hauptkapitel mit jeweils mehreren Unterkapiteln gegliedert und beginnt mit I: „Die Neoklassik vor dem Aus? Zur Notwendigkeit einer sozialontologischen (Re)Formulierung ökonomischer Handlungen“ (S. 13), wozu die Autorin anmerkt, der Begriff einer ökonomischen Handlung sei von einem bestimmten Menschenbild klar abzugrenzen, es gehe ihr nicht „um eine essentialistische Darstellung eines menschlichen Wesenskerns (…), dessen Existenz überhaupt in Frage zu stellen“ sei. Vielmehr gehe es ihr um eine „bestimmte Handlungsform unter Beachtung bestimmter menschlicher Bedürfnisse und Intentionen sowie gesellschaftlich institutionalisierter Strukturen“ (S. 35).
In Kapitel II geht es um „Theoretische Grundlagen: Sozialwissenschaftliche Formen der Begriffsbetrachtung“ (S. 40). Die Autorin legt dar, dass und wie Handlungen immer durch Praktiken überformt resp. beeinflusst sind und begründet daraus, warum sie es für sinnvoll hält, den Begriff der ‚ökonomischen Praktiken‘ gegenüber dem Begriff ‚Handlungen‘ zu bevorzugen, weil damit auch „soziale Normen und kulturelle Konventionen in den Blick“ rücken, „die vielleicht nicht explizit formuliert sind“. Es geht um „Sinnzuschreibung“, die „nicht über einzelne Handlungen (erfolgt), sondern über die gesamte Praxis und den sozialen Kontext, über den sie definiert ist.“ Die („vorläufige“) These lautet, „dass wir die jeweiligen Zuordnungen als ökonomisch nicht anhand der Tätigkeit an sich (…) vorgenommen haben, sondern anhand der damit verfolgten Zwecke, der des Geld Verdienens und Konsumierens. Sobald Geld, Profit, Konsum etc. auf eine einzelne Handlung bezogen werden können, scheinen wir automatisch eine Zuordnung zu einer ökonomischen Praxis vorzunehmen“ (S. 77 f.).
Die Kapitel III und IV stellen ein Kernstück der Erörterungen und Analysen der Autorin dar. Unter dem Titel „Der formale Begriff ökonomischen Handelns nach Lionel Robbins“ (S. 79) geht es um die Neoklassik und die damit verbundene Theorie der rationalen Wahl. In „Der substantielle Begriff ökonomischen Handelns nach Karl Polanyi“ (S. 174) kreist die Autorin um dessen „sozialanthropologische und institutionentheoretische Perspektive“, die sich „besser in einen heterodox-ökonomischen und auch praxistheoretischen Horizont“ einfüge (S. 39). In Bezug auf den neoklassischen Theorieansatz kommt Knobbe zu den Einschätzungen, er sei „trotz seiner strengen und objektiv anmutenden Kriterien letztlich viel zu breit und vage formuliert“ und es bleibe auf „intersubjektiver Ebene die Möglichkeit versagt (…), sinnvoll über ökonomisches Handeln zu sprechen bzw. Handlungen als solche zu beurteilen“ (S. 171). Sie hält fest, „dass für die Beschreibung ökonomischer Handlungen individuelle Handlungsgründe genauso von Relevanz zu sein scheinen wie der soziale Kontext einer Handlung“ (S. 173). Bei Polanyi hebt sie den Begriff des Tausches hervor, wo deutlich werde, „dass dem Tausch im Sinne einer Distribution von Gütern und Dienstleistungen eine größere Relevanz zugeschrieben werden muss als produzierenden Tätigkeiten“ (S. 273). An späterer Stelle im fünften Kapitel kommt Knobbe darauf zurück und hält zunächst fest, dass in „institutionalisierten Produktions- und Arbeitskontexten (…) persönliche Elemente zu vermissen (bleiben), weshalb diese recht eindeutig als ökonomisch identifiziert werden können.“ Im Unterkapitel mit dem (thesenartig) formulierten Titel „Austauschbare Zwecke als gemeinsame Basis und Abgrenzungskriterium ökonomischer Institutionen“ will sie dann Polanyi mit einem Beispiel widersprechen: „Im Falle der Geburtstagsgeschenke geht es schließlich um die Pflege persönlicher und somit zu einem gewissen Grade einzigartiger Beziehungen und nicht um die Verfolgung austauschbarer Zwecke“ (S. 314 f.).
Im letzten Kapitel V, „Die praxistheoretische Perspektive“ (S. 275), holt die Autorin auch hier wie in den vorhergehenden Kapiteln breit aus und schließt mit dem argumentativ en détail vorbereiteten Unterkapitel zu ökonomischen Praktiken „im Dreiklang mit austauschbaren Zwecken und ökonomischen Institutionen“ (S. 325). Zuvor holt die Autorin ihre These ein, „dass ökonomische Praktiken als zweckrationale Praktiken zur Verfolgung austauschbarer bzw. intermediärer Zwecke (die wiederum der Verfolgung weiterer Zwecke dienen) betrachtet werden können“ (S. 39). Als „erste Institution“ denke man vermutlich an den „Markt“; bei der „Lohnarbeit“ sei es das „Geld, das wiederum gegen Anderes getauscht werden kann.“ Und „Produktion“ sei „per definitionem eine Tätigkeit, die verrichtet wird, um ein bestimmtes Ergebnis, nämlich das Produkt, zu erzielen, und auch dieses ist meistens austauschbar“ (S. 212 f.). Und „Geld“ nehme auch „Einfluss auf soziale Beziehungen und Normen.“ So habe die „Verhaltensökonomik herausgefunden, dass die Bezahlung von bestimmten Tätigkeiten Einfluss auf die Bereitschaft nimmt, diese auszuführen.“ Das könne auch in Form von „Strafzahlung für verspätete Eltern im Kindergarten“ dazu führen, dass „vermutlich (…) durch die finanzielle Vergütung Verspätungen als legitimiert(er) erscheinen“ (S. 316 f.). Knobbe kommt zu dem Schluss, dass „ökonomische Institutionen (…) immer auch der interpretativen Betrachtung und In-Zusammenhang-Setzung mit anderen Faktoren“ bedürfen (S. 318), und es werde deutlich, „welchen Einfluss sozial geteilte Vorstellungen und Kulturen auf ökonomische Praktiken bzw. Institutionen haben (und umgekehrt)“ (S. 323). „Praxistheorie“ böte ein „vielschichtiges Instrumentarium (…), verschiedene Perspektiven und Disziplinen auf kohärente Weise zu verbinden und so das komplexe Gebilde Ökonomie genauer analytisch in den Griff zu bekommen“ (S. 326).
Diskussion
Dass die Neoklassik mitsamt ihrem Menschenbild und dem Homo oeconomicus wie der Theorie der rationalen Wahl ins Gerede gekommen bis abgewunken ist, pfeifen zwar nicht die Spatzen von den Dächern, treibt aber die akademische Volkswirtschaftslehre vor sich her, indem sie Ausschau hält nach weiteren Wirkfaktoren, wo dann auch u.a. der „Homo consumens“ (Fromm) und seine Rolle auf dem ‚Markt‘ ins Spiel kommt, dem gerade in krisengeschüttelten Zeiten durch Interventionen von Institutionen (und Politiken) auf die ‚richtigen‘ Sprünge zu helfen ist. Wo die Autorin reklamiert, dass ihre „Herangehensweise sehr viel komplexer“ (s.o.) ist als geläufige Erklärungsansätze, drängt sich als Diskussionsgegenstand doch auf, ob nicht auch in kritischen Korrekturen und unter differenzierenden Blickwinkeln die ‚Urschrift‘ des indizierten, zu kurz greifenden Menschenbildes erhalten bleibt. Dass die Autorin Polanyi zum Beleg der Obsoleszenz marktwirtschaftlichen Denkens und dies nicht ohne kritischen Zungenschlag heranzieht, scheint eine bislang weniger bemühte Kritikvariante. Ob damit aber eine (genuin) „philosophische Frage nach den Grundbegriffen für die Ökonomik“ (S. 28) angegangen wird oder ob in toto die von Schlaudt den Wirtschaftsphilosph:innen aufgegebene Frage um das „‚richtige Grundvokabular‘“ beantwortet wird, „‚um den Wirtschaftsprozess als integrierten Teil des gesellschaftlichen Lebensprozesses adäquat fassen zu können‘“ (zit. ebd.), scheint problematisch auch angesichts einer „Praxistheorie“ (s.o.), die allemal den Problemhorizont erweitert, nicht aber auf einen (ggf.) über Philosophiekritik sozioökonomischen Perspektivwechsel leitet.
Fingerzeige, wie sie bei ihren anfangs genannten Referenzen, Fraser und Jaeggi, zu beziehen sind, nämlich sich an der Kritik der politischen Ökonomie zu orientieren oder abzuarbeiten, werden von Knobbe nicht aufgegriffen und nicht weiter verfolgt. Auch in Alltagsbeispielen zu menschlichem Verhalten, in denen Entsprechungen wie Widersprüche zur ökonomischen Überformung zum Ausdruck kommen, scheint auf, was bei Marx als „stummer Zwang der ökonomischen Verhältnisse“ gefasst ist, der durch die Individuen hindurch geht und basales Moment der Subjektkonstitution ist, sich jedoch nicht ohne Verwerfungen und Brüche durchsetzt, die selbst ‚systemisch‘ vermittelt sind – ein nicht allzu weites Feld, auch sozialphilosophisch nicht, nimmt man die kritische Theorie zumindest zur Kenntnis. Jene „actual choice“ (Hausman, s.o.) theoretisch einzukreisen, was Knobbe anmahnt, ist über solche analytischen ökonomie- und gesellschaftskritischen Anleihen eher zu empfehlen.
Fazit
Das Buch bietet eine ausgreifende immanente Kritik ausgewählter volkswirtschaftlicher Paradigmen und regt an, diese Form der Wirklichkeitswahrnehmung und zugleich einer Konstruktion von Wirklichkeit im alltäglichen wie administrativen und politischen Handeln über eine Kritik der kritischen Einlassungen der Autorin im Hinblick auf Ursachen zu entschlüsseln.
Rezension von
Arnold Schmieder
Mailformular
Es gibt 134 Rezensionen von Arnold Schmieder.