Iman Attia, Ozan Zakariya Keskinkılıç: Muslimischsein im Sicherheitsdiskurs
Rezensiert von Dr. Franziska Baumbach, 15.10.2021

Iman Attia, Ozan Zakariya Keskinkılıç: Muslimischsein im Sicherheitsdiskurs. Eine rekonstruktive Studie über den Umgang mit dem Bedrohungsszenario.
transcript
(Bielefeld) 2021.
198 Seiten.
ISBN 978-3-8376-5711-1.
D: 30,00 EUR,
A: 30,00 EUR,
CH: 36,80 sFr.
Reihe: Kultur und soziale Praxis.
Thema
Muslim:innen in Deutschland leben damit, als Sicherheitsproblem wahrgenommen zu werden. Das Buch fragt, wie sich das auf Arbeit, Alltag und Beziehungen auswirkt und zeigt Wege zurück zu Deutungs- und Handlungsmacht.
AutorIn oder HerausgeberIn
Iman Attia ist Professorin an der Alice Salomon Hochschule Berlin und forscht zu Rassismus und seinen Verschränkungen mit anderen gesellschaftlichen Machtverhältnissen. Ozan Zakariya Keskinkılıç ist Politikwissenschaftler und forscht mit dem Schwerpunkt (anti-muslimischer) Rassismus, Antisemitismus und Empowerment. Büşra Okcu erforscht die Praxis von Sozialer Arbeit und Pädagogik aus rassismuskritischer Perspektive und hat ihren Schwerpunkt auf antimuslimischen Rassismus und muslimischer Sozialer Arbeit.
Entstehungshintergrund
Das Buch entstand im Rahmen des Forschungsprojekts an der Alice Salomon Hochschule, das von 2018 bis 2021 die Perspektiven muslimischer und als muslimisch markierter Akteur:innen in den Blick nahm: Was sind ihre Erfahrungen im Sicherheitsdiskurs und welche Strategien des Umgangs konnten sie entwickeln?
Inhalt
Zu Beginn des Buches wird im ersten Kapitel dargelegt, wie Muslim:innen diskursiv als Bedrohung aufgebaut werden. Es wird gezeigt, dass antimuslimischer Rassismus nicht erst seit 9/11 virulent ist, sondern eine lange europäische Tradition hat. Seit der Vertreibung der Mauren aus Spanien gibt es ein Narrativ von Illoyalität, das Muslim:innen als eine nicht zur Nation zugehörige Gruppe beschreibt, die beobachtet werden muss. Aus der Geschichte der europäischen Expansion des Kolonialismus heraus wurden Muslim:innen als rückständig und unzivilisiert beschrieben. Werden Muslim:innen heute als fremd und bedrohlich wahrgenommen, baut dies auf dieser Tradition auf und hat weitreichende Folgen für die Muslim:innen in der Gesellschaft. Das zweite Kapitel gibt die Überlegungen der Autor:innen darüber wieder, wie der Sicherheitsdiskurs dazu führt, dass Muslim:innen sich selbst reglementieren. Muslim:innen werden durch den Sicherheitsdiskurs unter Druck gesetzt und müssen sich dazu verhalten. Wie sollen sie die Zugehörigkeit zur Gesellschaft und die Nicht-Zugehörigkeit zum Islamismus beweisen? Manche werden übervorsichtig, ziehen sich zurück und verlagern den Diskurs so in ihr Inneres. Dabei sind Muslim:innen nicht passiv und die Studie stellt die Frage: Wie „gelingt es ‚Muslim:innen’ am Diskurs teilzuhaben und dabei Definitions- und Handlungsmacht (wieder) zu gewinnen?“ (47) Das dritte Kapitel beschreibt die Entwicklung der Forschungsmethoden, die rassismus-, machtkritisch und intersektional angepasst wurden. Es bespricht den Widerspruch, der „erneute[n] Rassifizierung von ‚Muslim:innen’ … zu widerstehen, andererseits aber die Deutungen und Handlungen im Umgang mit der rassifizierenden Adressierung“ (54) herauszuarbeiten. In den folgenden Kapiteln kommen die eingeladenen Personen in Gruppendiskussionen und Einzelinterviews zu Wort. Es zeigt sich, wie alle Gesprächspartner:innen die Erfahrung kollektiver Verdächtigungen teilen und alltäglich als Fremde markiert werden: „Ihre Aussagen und Handlungen werden vor dem Hintergrund des Islam- und Sicherheitsdiskurses bewertet und reguliert.“ (172). Sie werden zur Selbstführung angerufen um Kontrolle zu dezentralisieren. Die Gesprächspartner:innen reagieren darauf aber nicht passiv, sondern sie arbeiten aktiv daran, die Kategorie Muslim: in zu vervielfältigen und zu verkomplizieren und diskutieren Möglichkeiten der Solidarisierung und community-basierter Zusammenarbeit.
Diskussion
‚Muslim:innen’ sind keine passiven Opfer des Sicherheitsdiskurses, sondern sie antworten mit Gegen-Narrativen, tun sich zusammen und gestalten mediale Debatten mit; dies herauszuarbeiten ist eine Stärke des Buches. Es wird gezielt danach gesucht, wie als ‚Muslim:innen’ Markierte sich Handlungsräume schaffen und Freiräume herstellen und auf diese Weise wird das Buch selbst ein Teil dieser Gegenbewegung.
Fazit
Die Studie erklärt die Entstehung des heutigen antimuslimischen Rassismus historisch differenziert und vor dem Hintergrund des Kolonialismus. Es wird überzeugend gezeigt, dass der heutige Sicherheitsdiskurs keine quasi-natürliche Reaktion auf 9/11 war. Der Ursprung des Sicherheitsdiskurses ist also nicht die Angst vor islamistischem Terrorismus, sondern sogenannte Islamfeindlichkeit ist eine traditionsreiche zentrale Dimension des europäischen Rassismus. Diese Einordnung ist äußerst wichtig für die gesellschaftspolitische Debatte, da sie die Verantwortung für den Kampf gegen antimuslimischen Rassismus zurückgibt, an Politik und Gesellschaft der Rassifizierung von Muslim:innen entgegenzuarbeiten. Anstatt von ihnen zu verlangen, sich an eine vermeintliche Leitkultur anzupassen oder sich laufend von bestimmten islami(isti)schen Gruppierungen zu distanzieren.
Rezension von
Dr. Franziska Baumbach
Lehrbeauftragte an der KHSB Berlin und Sozialarbeiterin in der Jugendhilfe in Berlin
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Es gibt 8 Rezensionen von Franziska Baumbach.
Zitiervorschlag
Franziska Baumbach. Rezension vom 15.10.2021 zu:
Iman Attia, Ozan Zakariya Keskinkılıç: Muslimischsein im Sicherheitsdiskurs. Eine rekonstruktive Studie über den Umgang mit dem Bedrohungsszenario. transcript
(Bielefeld) 2021.
ISBN 978-3-8376-5711-1.
Reihe: Kultur und soziale Praxis.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28565.php, Datum des Zugriffs 20.03.2023.
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