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Julian Nida-Rümelin, Nathalie Weidenfeld: Die Realität des Risikos

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 04.08.2021

Cover Julian Nida-Rümelin, Nathalie Weidenfeld: Die Realität des Risikos ISBN 978-3-492-07082-9

Julian Nida-Rümelin, Nathalie Weidenfeld: Die Realität des Risikos. Über den vernünftigen Umgang mit Gefahren. Piper Verlag GmbH (München) 2021. 215 Seiten. ISBN 978-3-492-07082-9. D: 24,00 EUR, A: 24,70 EUR, CH: 32,50 sFr.

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Risiko? Risiko! – Klartext ist notwendig!

In der Conditio Humana wird immer wieder darauf verwiesen, dass der Mensch in seiner weltlichen Existenz ein unvollständiges, verletzliches Lebewesen ist (siehe z.B. auch: Angela Janssen, Verletzbare Subjekte. Grundlagentheoretische Überlegungen zur conditio humana, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/​25043.php). Diese Tatsache freilich wird von Menschen nicht immer verstanden und akzeptiert. Wie sonst wäre es möglich, dass im individuellen und kollektiven Denken und Tun der Menschheit sich egozentristische und Allmachts-Einstellungen durchsetzen können: „Ich will/kann alles – und das sofort!“? Leben, so sagt es der Volksmund, sei eines der schwierigsten! Weil beim Leben immer auch das Risiko mitspielt! Wie also kann und soll der Mensch darauf reagieren? Als Anerkennung der natürlichen Gefährdung und Labilität des Leben? Und damit der Herausforderung, die verschiedenen Krisen und Risiken mit den Mitteln der Vernunft und Humanität zu bewältigen? Als Negierung und Aussitzung? Als fatalistische oder revolutionäre Haltung? Der Psychologe und Direktor des Potsdamer Zentrums für Risikokompetenz, Gerd Gigerenzer geht davon aus, dass jeder den Umgang mit Risiko und Ungewissheit lernen kann (weil er in verständlicher Sprache deutlich und Mut macht, sich des eigenen Verstandes zu bedienen), dass Experten(meinungen) eher ein Teil des Problems als die Lösung seien (weil er verständlich macht, dass die Fähigkeit, Risiken zu verstehen, meist nicht mit Expertisen zu vermitteln ist), weil er erkennen sollte, dass weniger mehr ist (weil er zu erklären vermag, dass Problemlösungen nur selten komplex und allumfassend möglich sind). Es ist die (eigentlich einfache und logische) Erkenntnis, dass der Umgang mit Risiken und Krisen das Bemühen bedingt, zu verstehen, was passiert. Er weist darauf hin, dass Gewissheits- und Sicherheits-Erwartungen einerseits notwendig im Leben der Menschen sind, andererseits aber auch eine Falle sein können. Es kommt darauf an, in Erziehungs-, Bildungs- und Aufklärungsprozessen frühzeitig und lebenslang die Fähigkeit zu erwerben, Risiken als allgemeine, herausfordernde Ereignisse zu begreifen, die entweder bewältigt werden können, oder sich als unbewältigbar darstellen (Gerd Gigerenzer, Risiko. Wie man die richtigen Entscheidungen trifft, 2013, www.socialnet.de/rezensionen/​15271.php).

Entstehungshintergrund und Autorenteam

Risiko ist Realität! Schicksal und Zumutung! Herausforderung und Kompetenz! Individuelle und kollektive, lokale und globale Gefährdungen sind Anforderungen an Intellekt und Existenz! Die Reaktionen darauf verlaufen in der Balance zwischen den Auffassungen: „Da kann man nichts machen!“ und „Das muss und kann sich ändern!“. Während einerseits daraus Ohnmachtsgefühle, fatalistische Einstellungen oder Leugnungs- und Fake-News-Reaktionen entstehen, können Risiko-Ereignisse andererseits auch bewirken, aus Erfahrungen zu lernen und Verhalten zu ändern. Das aktuelle Beispiel der globalen Corona-Pandemie zeigt dies in vielfacher Weise auf (siehe z. B.: Hannes Hofbauer/Stefan Kraft, Hrsg., Lockdown 2020. Wie ein Virus dazu benutzt wird, die Gesellschaft zu verändern, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/​28039.php).

Der Philosoph Julian Nida-Rümelin und seine Frau, die Schriftstellerin und Medienwissenschaftlerin Nathalie Weidenfeld, plädieren für ein realistisches Verständnis von Risiken und für eine ethisch begründete Risikopraxis; denn „ohne Klarheit in den Köpfen, ohne risikoethische Kompetenz und ohne politische Urteilskraft werden wir auch zukünftige Pandemien nicht bewältigen können“. Wirklichkeits- und Selbstbewusstsein sind Perspektiven, die es gilt zu entwickeln (siehe z.B. auch: Jos Schnurer, Objektivität und Subjektivität. Antikeimenon des Lebens, 30. 5. 2021, https://www.sozial.de/objektivitaet-und-subjektivitaet.html).

Das Autorenpaar reflektiert die Frage, wie es gelingen kann, die Realität des Risikos realistisch zu verstehen und deutlich zu machen, dass „Risiko (…) kein Konstrukt der postmodernen 1990er Jahre mehr (ist), sondern Realität“. Sie wollen damit einen Kontrapunkt zur postmodernen, unernsten, antirealistischen, perspektivischen Sicht auf Risiko setzen. wie et nach wie vor in den Sozial- und Kulturwissenschaften thematisiert wird. Die interessante Arbeitsteilung des Autorenteams, in einerseits den theoretischen Diskurs und andererseits praktische Assoziationen, bietet die Chance, einen neuen Blick auf Wagnisse und Gefahren des Lebens zu richten.

Aufbau und Inhalt

Neben den zweigeteilten Vorwörtern, der Einführung und den Schlussbemerkungen gliedern die Autoren die Reflexion in dreizehn Kapitel. Im ersten geht es um „Gefahren und Wahrscheinlichkeiten“ – den Anlässen und Auswirkungen von individuell entstehenden und lokal- und globalgesellschaftlich geschaffenen Ängsten, die bei Risiken auftreten: „Risiken haben immer zwei Komponenten, das Ausmaß des möglichen Schadens und die Wahrscheinlichkeit, mit der dieser Schaden eintreten könnte“.

Im zweiten Kapitel werden „Paradoxien des Risikos“ diskutiert. Es wird deutlich, dass „Risiko nicht gleich Risiko“ ist. Vielmehr geht es um die öffentlichen, medialen Aufmerksamkeiten, den Umfang und die Auswirkungen des jeweiligen Ereignisses, der zu erwarteten zeitlichen Dauer, Fragen nach den gewöhnlichen und ungewöhnlichen oder sensationellen Fakten.

Das dritte Kapitel bringt das „utilitaristische Risikomanagement“ ins Spiel. Es geht um existentielle, moralische Fragen, wie Gefährdungen im freiheitlichen, demokratischen Leben der Menschen zur Verteilung und Wirkung kommen dürfen und wie nicht.

Mit „Individualrechten in Risikosituationen“ setzt sich das vierte Kapitel auseinander. Es sind Zumutungen, wie sie in der Risikoethik formuliert werden: Ich bin nicht berechtigt, für jemand anderen Risiken und Chancen abzuwägen und dieser Person aufzuerlegen.

„Paternalismuskritik“, so wird im fünften Kapitel betont, ist bei der Auseinandersetzung mit den Konstrukten und Kontroversen zur Wahrung des „kollektiven Wohls“ zu bedenken: „Die kategoriale Vorordnung des individuellen Rechts auf Würde und Leben gegenüber anderen Gütern sollte vielmehr als ein Aspekt eines umfassenden Verrechnungsverbotes interpretiert werden und darf nicht zu umfassender paternalistischer Staatspraxis werden“.

„Der Wert des Lebens“ (6. Kapitel) ist individuelles und kollektives, allgemeinverbindliches und nicht relativierbares (Menschen-) Recht: „Ohne Leben ist alles nichts. Das Leben ist eines der höchsten Güter. Zugleich werden wir alle irgendwann sterben, und die Dauer unseres Lebens ist nicht das Einzige, was im Leben zählt“.

Im siebten Kapitel werden die „Dimensionen des Risikos“ thematisiert. Es sind menschengemachte und natürliche Krisen, die durch die Entwicklung der Menschheit sowohl minimiert werden können, als sich auch potenzieren.

„Konformität in Krisenzeiten“ (8.) – Das ist Situations- und Autoritätsanforderung, wenn Gewohntes, Bekanntes und Beliebtes in Frage gestellt und sogar als „Ordre du Mufti“ diktiert wird: „Urteilskraft setzt … voraus, dass wir uns unsere Fähigkeit zur Kritik und zur eigenständigen Stellungnahme jenseits von Konformismus auch in Zeiten der Angst nicht nehmen lassen“.

„Wissenschaft und Politik in der Krise“ (9.) – Die Informations- und Wissensparameter des Lebens haben es in Krisenzeiten nicht leicht. Es sind einerseits Erwartungshaltungen, dass sie unumstößliche Wahrheiten und eindeutige Verhaltensregeln vorgeben; andererseits werden sie mit Verdächtigungen und Verschwörungen überzogen: „Das Projekt der Aufklärung, die ergebnisoffene Suche nach der am besten begründeten Theorie oder Interpretation, ist bis in die Gegenwart unvollendet geblieben“.

Mit dem zehnten Kapitel wird die Urfrage nach „Wahrheit und Wahrhaftigkeit“ gestellt. Das Dilemma ist gleichzeitig Paradigma. Denn Wahrheiten zu verkünden kann Schutz und Trutz sein: „Ohne Wahrheitsorientierung kann es keine verlässliche Krisenbewältigung geben“.

Mit dem „Covid-19-Exempel“ stellt das Autorenteam im 11. Kapitel die bekannten Ursachen und Verläufe der Pandemie zusammen. Es wird deutlich, dass hier keine Rezeptologie gefragt ist; vielmehr kommt es darauf an zu begreifen, dass es in einer Krisensituation notwendig ist, nicht nur die Faktenlage aufzuweisen, „sondern auch wohlbegründeter normativer Kriterien (bedarf), die sich an empirisch überprüfbaren Indikatoren orientieren und auf einer nachvollziehbaren Werteorientierung beruhen“.

Eine Alternative wird im 12. Kapitel vorgestellt: „Containment und Risikostratifikation“. Die qualitativ, ordnungsbestimmt und ideologisch unterschiedlichen Aktivitäten zur Bewältigung der Coronakrise in der Welt verdeutlichen, dass es (künftig) anderer Strategien bedarf. Es sind effektive Interventionen (Containment), die lokal und global notwendig sind, um epidemische und pandemische Krisen verhindern oder zumindest einzudämmen und kontrollieren zu können. Gleichzeitig bedarf es eines effektiven Schutzes von vulnerablen Gruppen (Risikostratifikation), und Präventionsmaßnahmen, mit denen Pandemien verhindert werden können.

Im letzten Kapitel geht es um „Lehren aus der Coronakrise – Nie wieder!“. Es ist keine Wahrsagung und keine Versprechung; vielmehr ist es eine Aufforderung zum Selbstdenken und zum humanen, mitmenschlichen, sozialen, gerechten menschenwürdigen Handeln: „Urteilskraft ist ein hohes Gut!“.

Julian Nida-Rümelin fügt im Anhang publizierte Stellungnahmen hinzu, in denen sein Engagement und seine Auseinandersetzungen mit der globalen Pandemie deutlich wird: „Wir brauchen eine Perspektive. Wir müssen Licht am Ende des Tunnels sehen“. Im Anhang werden auch „Zahlen und Fakten“ ausgewiesen, aus denen die Folgen der Corona-Epidemie herausgelesen werden können.

Diskussion

Im Nachwort weist Nida-Rümelin darauf hin, dass die (langzeitigen) Folgen, die durch diese Infektionskrankheit entstanden sind und weiterhin entstehen, derzeit noch gar nicht eindeutig benannt werden können. Sicher und klar jedoch ist, dass der Umgang und die Bewältigung von Krisen, Katastrophen und Risiken eine ganzheitliche, humane Aufgabe ist. Sie darf nicht zu Lasten von Einzelnen, Gruppen und Völkern gehen, sondern muss als allgemeinverbindliche, nicht relativierbare, ganzheitliche Menschheitsaufgabe verstanden werden.

Das Autorenteam benutzt in der Studie eine interessante, verständliche und motivierende Bericht- und Erzählmethode: Jedes Kapitel wird mit einem Beispiel eingeleitet, in dem die Thematik veranschaulicht wird. Diese Exempel können z.B. auch didaktisch benutzt werden; etwa im schulischen Unterricht und in der Erwachsenenbildung.

Fazit

„Die Realität des Risikos“ ist ein Buch der Reflexion und Aufklärung. Nur eine realistische, wahre Sichtweise und Auseinandersetzung mit Risiken und Krisen, ob menschengemachte oder natürliche, kann Wirklichkeit wiedergeben. Das Plädoyer für Urteilskraft ist eine Aufforderung zur Bildung eines ethischen, humanen Denkens und Handelns!

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1689 Rezensionen von Jos Schnurer.

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ISSN 2190-9245