Jeanette Böhme, Tim Böder: Bildanalyse
Rezensiert von Prof. Dr. Christian Schröder, 15.07.2021

Jeanette Böhme, Tim Böder: Bildanalyse. Einführung in die bildrekonstruktive Forschungspraxis der Morphologischen Hermeneutik.
Springer VS
(Wiesbaden) 2020.
120 Seiten.
ISBN 978-3-658-28621-7.
D: 17,99 EUR,
A: 18,49 EUR,
CH: 20,00 sFr.
Reihe: Lehrbuch. Qualitative Sozialforschung.
Thema
In der stark mit den Medien, Schrift und Text arbeitenden Qualitativen Forschung fristet die Bildanalyse ein Schattendasein. Dieser „Schriftdominanz“ (S. 95) in der Sozialforschung möchte der Band eine Alternative entgegenstellen: Das Bild als Erkenntnisquelle. Das Lehrbuch führt in die methodologischen Grundlagen der Morphologischen Hermeneutik ein und zeigt exemplarisch an drei Beispielen die bildrekonstruktive Forschungspraxis auf.
Entstehungshintergrund
Das Lehrbuch ist Ergebnis eines über zehnjährigen Forschungszusammenhangs, in dem das Theorie- und Forschungsprogramm einer Morphologischen Hermeneutik zur Bildrekonstruktion entwickelt wurde. Grundlage bildeten u.a. zwei DFG-Forschungsprojekte „Schulraum und Schulkultur“ (2009-2012) und „Schulische Standorte“ (2012-2015) an der Universität Duisburg-Essen.
Aufbau und Inhalt
Neben einer knappen Einführung und einer abschließenden Bemerkung ist der Band in drei thematische Bereiche untergliedert. Erstens wird in Kapitel 2 und 3 die Morphologische Hermeneutik als methodologischer Rahmen eines bildrekonstruktiven Ansatzes vorgestellt. Zweitens beschreiben Jeanette Böhme und Tim Böder in Kapitel 4 das schrittweise Vorgehen im Verfahren der Bildanalyse. In den Kapiteln 5, 6 und 7 wird drittens das Verfahren mit Fallbeispielen veranschaulicht.
In der Einleitung des Lehrbuchs wird dem/der Leser*in angeraten, das gesamte Buch von vorne bis hinten inklusive theoretischer Einführung zu lesen (und nicht gleich zum forschungspraktischen Teil zu springen). Zudem findet sich die erste praktische Idee zur Schulung des morphologischen Blicks: Puzzle mit umgedrehten Puzzleteilen zusammenzusetzen und sich dabei für die Unterscheidung im Blick zwischen Form und Gestalt zu sensibilisieren. Die Einleitung bietet mit diesem Übungsangebot einen ersten Startpunkt für das nachfolgend dargestellte Verfahren der Bildanalyse.
Methodologische Rahmung
In Kapitel 2 werden theoretische Grundannahmen der Morphologischen Hermeneutik erläutert. Zentral ist die Unterscheidung zwischen ‚morphe‘, der Form, und logos, der Bedeutung. Die Bedeutung (logos) einer bildlichen Ausdrucksgestalt wird stets in einer Form (morphe) zum Ausdruck gebracht. Diese Form folgt latent einer Regelhaftigkeit, die die Bedeutung nicht in Gänze determiniert, jedoch als ein begrenzten Bedeutungsspielraum präformiert. Diese Regelhaftigkeit der Form gilt es hermeneutisch in der Bildanalyse zu erschließen. Dazu schlagen die Autor*innen in Anlehnung an den Genetischen Strukturalismus den Begriff ‚Formenalgorithmus‘ vor, der sich latent in den bildlichen Ausdrucksgestalten manifestiert. Als Heuristik werden nachfolgend vier Bedeutungsparameter vorgestellt, nach denen sich Formenalgorithmen ausgestalten. Dazu zählen Medien, Funktion, Stil und Macht und damit die Fragen: „Was können Bilder zum Ausdruck bringen, was etwa schriftförmig nicht oder nur begrenzt möglich ist?“ (S. 9, Medien), „welche funktionalen Systemlogiken materialisieren sich in vorhandenen Mediengefügen, insbesondere und auch in Bildern?“ (S. 10, Funktion), welcher Zugehörigkeitsverweis und Habitus manifestiert sich im Stil des Bildes? (Stil) und wie wirkt das machtrelationale Gefüge zwischen einzelnen Bildsegmenten? (Macht).
Deutlich wird im Ansatz einer Morphologischen Hermeneutik, dass eine Bildanalyse zu kurz greift, die allein das Bild inhaltlich beschreibt und den Bildsinn daraus rekonstruiert, ohne eine formalalgorithmische Rekonstruktion durchzuführen. Auch in Kapitel 3 wird deutlich, dass die Autor*innen ihr bildanalytisches Verfahren von jenen abgrenzen, die vor allem historisierende Interpretationen des Bildes vornehmen. Stattdessen heben die Autor*innen die Bedeutungsimmanenz des Bildes hervor. Zur Rekonstruktion werden sodann drei Modi Operandi der morphologischen Bildrekonstruktion vorgestellt: morphisches, wiedererkennendes und vergleichendes Sehen. Morphisches Sehen (Morphe, die Form) zielt auf ein Sehen der Formen und steht damit in Abgrenzung zur gängigen Anschauung eines Bildes, bei der beschrieben wird, was auf einem Bild zu sehen ist. Beim wiedererkennenden Sehen wird auf das alltägliche Vertrautsein mit Gegenständen und Ereignissen zurückgegriffen, um die Bedeutung dessen zu interpretieren, was ich auf dem Bild sehe. Das vergleichende Sehen arbeitet mit Kontextvariationen durch Parallelprojektionen. Mit Parallelprojektionen sind Bilder gemeint, die in der Formgebung Ähnlichkeiten aufweisen (z.B. Frontalansicht eines Neubaus zu einem Setzkasten für den Buchdruck oder zu einer Tabelle aus einem Verwaltungskontext, S. 38–39)
Methodisches Vorgehen
In Kapitel 4 wird das methodische Vorgehen vorgestellt, das schrittweise zu durchlaufen ist. Dieses erfolgt grob in zwei Schritten. Erst wird eine Formenanalyse vorgenommen. Dann erst wird betrachtet, was auf dem Bild dargestellt wird (Gestaltanalyse).
Bevor die Schritte bzw. Rekonstruktionsfoki der Formenanalyse (4.1.) dargestellt werden, werden noch Orientierungshilfen für die Sichtbarmachung von Formenrelationen dargestellt. Diese umfassen Möglichkeitsspektren von linear zu malerisch, von Fläche in die Tiefe, von der Geschlossenheit zur Offenheit, von Vielfalt zur Einheit sowie von Klarheit zu Unklarheit. Dazu wird ein logischer Zusammenhang zwischen den Möglichkeiten gesehen. So sind Darstellungen mit linearen Übergängen eher flächenhaft, geschlossen, vielheitlich und klar, während Darstellungen mit malerischen Übergängen eher tiefenhaft, offen, einheitlich und unklar sind (S. 34–35). Bei der Vorstellung der drei nacheinander zu befolgenden Schritten werden bereits ganz forschungspraktische Hinweise für die Umsetzung gegeben. Beim ersten Rekonstruktionsfokus geht es um die Komposition der Blickordnung, die auf transparenter Folie auf dem Bild protokollarisch festzuhalten ist und durch die Suche nach Parallelprojektionen komplementiert wird. Der zweite Rekonstruktionsfokus betrachtet die Choreographie der Blickbewegung nach Blickrichtung, -dynamik und -rhythmus. Schließlich wird im dritten Rekonstruktionsfokus die Perspektivität der Blickpositionierung des/der Werkbetrachter*in rekonstruiert.
Die Gestaltanalyse (4.2) verknüpft nun in zwei weiteren Rekonstruktionsschritten die Verhältnissetzung von Formenrelationen zu dem Phänomensinn, in dem erstens die Frage gestellt wird, ‚was sehe ich auf dem Bild?‘ (S. 44) und zweitens ‚in welchen Kontexten finden wir solche kollektiven Formationen?‘. Die zweite Frage wird nun wieder versucht durch die Suche nach Parallelprojektionen beantwortet zu werden.
Im Kapitel werden abschließend die einzelnen Schritte tabellarisch zusammengefasst (S. 48–49) und Hinweise zur nachvollziehbaren Darstellung der Rekonstruktionsarbeit geliefert.
Veranschaulichung durch Fallbeispiele
In den drei Fallbeispielen (Kapitel 5, 6 und 7) wird die Methode anschaulich zur Anwendung gebracht. Analysiert werden zwei Bilder aus einer Forschungsarbeit mit dem Titel „Jugend im Nationalsozialismus“ sowie ein Bild, dass von einem Jugendlichen im Jahr 1983 zum Thema ‚Jung.Sein heute‘ im Rahmen der SHELL-Jugendstudien in Westdeutschland eingereicht wurde. Exemplarisch zeigen die beiden Bilder aus der Forschungsarbeit „Jugend im Nationalsozialismus“, wie mit dem methodischen Vorgehen gearbeitet werden kann und zu welchen tiefgehenden Erkenntnissen die Analyse vordringen kann. Im letzten Fallbeispiel wird aufgezeigt, wie das Vorgehen auch zu einer sogenannten Fundamentalüberraschung führen kann, die durch Widersprüchlichkeiten aus der Formanalyse auf die Unbestimmtheit der Jugend (weder dieses noch jenes) schließen lässt.
Der Band schließt mit Überlegungen, warum die Bildanalyse bis dato nicht ihren etablierten Platz in der qualitativen, sozialwissenschaftlichen Forschung gefunden hat und verweist auf die Möglichkeit mit der Anwendung der Bildanalyse „blinde Flecken des weitreichend noch typographischen Wissenschaftsbetriebes qualitativer Sozialforschung aufzuzeigen, auszuleuchten und dabei neue, vielleicht auch irritierend neue Erkenntnisse sichtbar und schließlich auch sagbar zu machen.“ (S. 97).
Diskussion
Der Band ist sehr bereichernd und den Autor*innen ist beizustimmen, dass die Bildanalyse bis dato noch ein Schattendasein fristet. Die Aufforderungen an den/die Leser*in in der Einleitung und auch zu Beginn des theoretischen Teils, angesichts des komprimierten Auftakts rein theoretischer Art nicht zu verzagen, sondern weiterzulesen und dranzubleiben, klingt ermutigend, ist aber nicht leicht umzusetzen. Zu verschachtelt sind die Sätze und zu komplex die Zitate aneinandergereiht. Dies macht es nicht leicht sich in die methodologische Grundlage einer Morphologischen Hermeneutik einzudenken. Bei der Beschreibung des methodischen Vorgehens (Kapitel 4) wird es forschungspraktischer; insgesamt bleibt es aber zu theoretisch für ein praktisches Kapitel. Die vielen Verweise auf die erst im Anschluss präsentierten Fallbeispiele helfen noch nicht weiter, wenn man dem Rat der Autor*innen folgt und das Buch von vorne bis hinten liest. Wie die Autor*innen selbst darstellen, folgt die typographische Sinnstruktur einem linearen Formenalgorithmus, der sich durch Linearität von Anfang bis Ende zeilenförmig hierarchisiert (S. 8). Allerdings wäre für den/die Leser*in ggf. doch ein vorgezogenes Fallbeispiel zum Einstieg, an dem dann der methodologische Rahmen und das methodische Vorgehen im Nachgang erläutert werden, ggf. doch die bessere Variante. In jedem Fall lohnt es sich, sich mit dem Buch eingehend auseinanderzusetzen und die darin entwickelte Methode der Bildanalyse zu erlenen. Denn die großen Potenziale der Bildanalyse werden durch die beeindruckenden Ergebnisse der Bildrekonstruktionen in den Fallbeispielen bewiesen.
Fazit
Das Lehrbuch leistet einen ungemein wichtigen Beitrag zur Bildanalyse auf der methodologischen Grundlage einer Morphologischen Hermeneutik. Den Autor*innen ist zuzustimmen, dass bis dato Bildlichkeit in der sozialwissenschaftlichen Forschung unterrepräsentiert ist. Für Sozialwissenschaftler*innen, die noch wenig Erfahrung mit den theoretischen Grundlagen einer Morphologischen Hermeneutik haben, sind die ersten Kapitel eine schwere Kost. Dennoch lohnt es sich nicht nur die beeindruckende Fallbeispiele zur Anwendung der Methode zu lesen, sondern sich auch in die theoretische Perspektive einzudenken. Obgleich ich dem/der Leser*in empfehlen würde, dem Rat der Autor*innen nicht gänzlich zu folgen und zumindest ein Fallbeispiel vor dem theoretischen und methodischen Teil zum Einstieg zu lesen. Durch die ausgereiften und weitreichenden Analysen der Bilder wird das große Potenzial der Bildanalyse eindrücklich nachgewiesen. Somit macht der Band Lust, eigene Bildanalysen anzugehen und auf diese Art auch einen eigenen Beitrag zu leisten, die Bildanalyse aus ihrem Schattendasein in der qualitativen Sozialforschung zu befreien. Für ein solches Vorhaben enthält der Band alles was nötig ist, um ans Werk zu gehen.
Rezension von
Prof. Dr. Christian Schröder
Professor für Methoden der Sozialen Arbeit an der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes, Fakultät für Sozialwissenschaften
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