Helmwart Hierdeis (Hrsg.): Faszination und Schrecken des Andersartigen
Rezensiert von Prof. Dr. Gertrud Hardtmann, 15.10.2021

Helmwart Hierdeis (Hrsg.): Faszination und Schrecken des Andersartigen. Beiträge zum Fremdheitsdiskurs. Asanger Verlag (Kröning) 2020. 225 Seiten. ISBN 978-3-89334-643-1. D: 19,00 EUR, A: 19,60 EUR.
Thema
Die Fremdheit als ‚Urdifferenz von Faszination und Schrecken‘ war das Thema der Jahrestagung der Interdisziplinären Studiengesellschaft 2019, deren Texte als aufklärende Beiträge zum Fremdheitsdiskurs in diesem Band vorgestellt werden.
Herausgeber und Mitarbeiter
Helmwart Hierdeis (Hg.) ist Psychoanalytiker und Professor für Erziehungswissenschaft der Universitäten Erlangen-Nürnberg (1974-1981) und Innsbruck 1981–2002. Schwerpunkte sind Bildungstheorie, Psychoanalyse und Psychoanalytische Pädagogik.
Peter Stöger, Dr. phil. und a.o. Univ.-Prof., arbeitet am Institut für LehrerInnenbildung und Schulforschung der Universität Innsbruck. Schwerpunkte sind Buber-Forschung, Dialog- und Bildungsphilosophie.
Susanne Heine ist em. Professorin der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien (vorher Zürich). Arbeitsschwerpunkte sind Religionspsychologie, Hermeneutik, Gender Studies und interreligiöser Dialog.
Dieter Korczak, Dipl.-Volkswirt und Dr. rer.pol., gründete 1985 ein sozialwissenschaftliches Forschungsinstitut zu Wohngemeinschaften, Lebensqualität, Überschuldung und Gesundheit. Aktuell lehrt er an der Hochschule DIPLOMA und befasst sich mit Digitalisierung im Gesundheitswesen.
Alois Wierlacher, seit 1982 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenshaft in Hamburg und 1986–2001 für Interkulturelle Germanistik in Bayreuth. Gastprofessuren in Princeton, Michigan und Stellenbosch und Herausgeber des Handbuchs Interkulturelle Germanistik (2003).
Virginia Wangare-Greiner ist Gründerin des Vereins Maisha (Selbsthilfeorganisation afrikanischer Frauen in Deutschland). Geboren 1959 in Kenia wohnt sie seit1986 mit ihrem Mann und 5 Kindern in Deutschland. Sie war viele Jahre im Integrationsbeirat der Bundesregierung und engagierte sich für Gleichberechtigung von Migrantinnen und gegen Genitalverstümmelung.
Bettina Lockemann ist Künstlerin und Wissenschaftlerin (Fotografie), fünf Jahre lang Professorin für Praxis und Theorie der Fotografie an der Hochschule für bildende Künste Braunschweig, Promotion In Kunstgeschichte, zahlreiche Ausstellungen im In- und Ausland.
Achim Würker, Dr. Dr., ist Studiendirektor im Ruhestand und Mitglied des Frankfurter Arbeitskreises für Tiefenhermeneutik und Sozialisationstheorie, der Kommission Psychoanalytische Pädagogik in der DGfE und Schüler von Alfred Lorenzer.
Anna Kohn war nach dem Studium der Erziehungswissenschaft (Germanistik, Geschichte, Sozialkunde) beim Institut für ganzheitliches Lernen (Ifg), erwarb das Mastermodul in Montessori Education und war ab 2004–2017 Leiterin an Montessori-Schulen. Arbeit mit jugendlichen Migranten in Schule und Beruf.
Ulf Jonak studierte Architektur und war von 1978–1981 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Architektur der TH Darmstadt, 1981–2008 (Emeritierung) Professor für Gestaltung und Architekturtheorie in Siegen.
Entstehungshintergrund
Entstehungshintergrund ist ein Versuch, Fremdenfeindlichkeit zu verstehen und zur Aufklärung beizutragen.
Aufbau
Nach einem Vorwort des Herausgebers folgen die einzelnen Beiträge und zwei Gespräche, die Hierdeis mit Bella Bello Bitugu und Hans Jörg Walter geführt hat.
Vorwort
Hierdeis beginnt mit Karl Valentin ‚Was ist ein Fremder?‘ mit Fragen über ‚Fremdsein‘ und führt in das Tagungsthema 2019 ‚Attraktion und Schrecken des Andersartigen‘ unter Verweis auf Mario Erdheim ein, dass Konstruktionen des Fremden Verarbeitungen früher Trennungserfahrungen in der Kindheit sind. Die einzelnen Beiträge – und Karl Valentin – zeigen, dass Fremdheit Teil unserer Person ist.
Peter Stöger: Das Eigene und das Fremde – mit Ausblicken auf das Interreligiöse
In Form einer Wanderung mit neun Stationen und einem Schluss schreitet Stöger vom Urthema des Menschen, dem Tod, zur Angst nicht nur vor dem Tod, sondern auch vor dem Fremden im Anderen und in einem selbst und dem Wunsch zurück zu den Ursprüngen, wo alles begann (Ursprungsheimat, die ersten neun Monate nach der Geburt, oder gar embryonal).
Das Fremde als Ressource des Miteinanderteilens, räumlich und sozial in der Sprache und der Architektur. Armut und Gefährdung, die zerschlissene Windel des Jesuskindes bei Grünewald, sind geschützte und ungeschützte ambivalente Räume. Fremde Räume, als Chance des ‚Miteinander der Verschiedenheit‘, wecken Heißhunger nach Geborgenheit und Urvertrauen, Sehnsucht nach etwas Unzerstörbaren. Klischees bekämpfen die die Angst vor Überfremdung anstelle eines Miteinander und Anerkennung der intrakulturellen Kluft zwischen Identität und Wertvorstellungen auf beiden Seiten.
Angst vor dem Fremden ist kulturunabhängig überall zu finden, bedeutet Schutz und Vereinsamung und verhindert das Erkennen des Selbst im Spiegel des Anderen.
Susanne Heine: Ambivalent, paradox, rätselhaft – Biblische Szenen vertrauter Fremdheit.
Der Verweis auf den biblischen Baum der Erkenntnis von Gut und Böse bedeutet nicht, dass danach gehandelt wird in Form von Achtung und gegenseitiger Hilfe. Kant und Freud setzten die Hoffnung auf die Vernunft, bei Freud motiviert durch das Verlangen nach Bindung. Der Wunsch nach Gerechtigkeit bleibt trotz Ungerechtigkeit (Beispiel Hiob) und muss nicht apokalyptisch zur Spaltung führen. Vamik Volkan hat Radikalisierung als Regression in eine schützende Großgruppenidentität beschrieben. Spaltungen gibt es in allen religiösen Gemeinschaften, politisch rechtfertigen sie Terror. Wenn Gott die Beziehung nicht abbricht, gilt das auch für die Menschen? Ist Versöhnung möglich? Auch wer das Gute will muss kämpfen. Die Bibel löst die Paradoxien und Ambivalenzen der menschlicher Existenz nicht auf. ’Ein Schleier von Melancholie liegt über der Landschaft des Lebens‘.
Dieter Korczak: Zum Klischee des „Zigeuners“
Klischees sind negative und positive bildhafte Vorstellungen. Sinti und Roma stammen wahrscheinlich aus dem nördlichen Indien und werden 1407 erstmalig in Deutschland in Hildesheim erwähnt. Als ‚Pilger‘ erhielten sie von König Sigismund einen Schutzbrief, doch wurden sie bereits 1449 gewaltsam aus Frankfurt vertrieben. In gesellschaftlichen Krisenzeiten wuchs die Fremden- und Zukunftsangst, wobei insbesondere die relativ freizügigen Sinti-Frauen auch der Kirche ein Dorn waren (Abbildungen). Sinti und Roma galten als Bettler und Diebe faul und wurden staatlich drangsaliert. Von dem 1935 erlassenen ‚Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre‘ waren sie massiv betroffen (Eheverbot, Vorwurf der Asozialität, 1943 Deportationen und Vernichtung). Überlebt haben die Vorurteile, und so wurden selbst die Opfer nur halbherzig entschädigt.
Alois Wierlacher: Die Fremdheit des Gastes – Zur anthropologischen Theorie der Gastlichkeit
- Die biblische Vorstellung vom ‚Gast auf Erden‘ passt nicht mehr in die religionsferne Alltagsroutine.
- Alteritätserfahrungen können sehr produktiv sein (Beweglichkeit, Achtsamkeit). In der Gegenwart fehlt ein Wissen über eine Kultur der Gastlichkeit, möglicherweise aufgrund einer calvinistischen utilitaristischen Ethik. Doch Internationalisierung bedeutet auch die Lebensperspektive der Anderen im Blick zu haben. Im Hinblick auf Flüchtlinge geht es um die Kosten und um die Angst vor Menschen aus fremden Kulturen.
- Das Gastrecht galt zunächst als Schutzrecht für Staatsbürger vor allem im Recht und in der Krankenpflege, damit wurden aber auch Kranke in Hospize ausgelagert. Gastlichkeit bedeutet eine Kooperation zwischen Gast und Gastgeber.
- Eine Sonderform ist die kulturelle Gastlichkeit (gemeinsames Essen u.a.)
- Jedes Gasthaus hat eigene Ordnungsregeln, bedingt durch die Vorstellungen des Gastgeber und die Erwartungen der Gäste. Die Einstellung gegenüber Fremden werden beeinträchtigt durch Ethnozentrismus und Xenophobie.
(Viele interessante und lesenswerte Beispiele aus der Literatur.)
Virginia Wangare Greiner: Maisha e.V.- Afrikanische Frauen in Deutschland – zu den Funktionen von Maisha e.V.
Der 1966 gegründete gemeinnützige Verein vertritt die Interessen (Bildung, Gesundheit, Rechte, Chancen, politisches und wirtschaftliches Engagement u.a.) afrikanischer Frauen in der Öffentlichkeit; insbesondere geht es um Migrantinnen ohne Papiere, deren alltägliche Diskriminierung und der Perspektive Rückkehrwilliger.
Helmwart Hierdeis im Gespräch mit Bella Bello Bitugu
Bella Bello Bitugu, ein 35j. Student der Pädagogik aus Ghana, im Gespräch 2003 kurz vor seinem Studiumabschluss, berichtet über seine Ankunft in Österreich, Fremdheitsgefühle, kulturelle Unterschiede und Individualismus in Österreich.
Bettina Lockemann: Bilder vom Terror. Fotografie im/als Ausnahmezustand
Terrorereignisse sind Bild- und Medienereignisse (auch über soziale Netzwerke). Weniger voyeuristische Medien setzen auf Analyse statt auf Schock. Dokumentarische Fotografie ist eine bildnerische Vorgehensweise, die mit dem Vorgefundenen arbeitet. Ihr Interesse richtet sich auf die vielfältigen Aspekte des Zeitgeschehens, u.a. Terror.
Lockemann geht ausführlich auf den État d’Urgence 2015 ein, der das gesamte öffentliche Leben in Paris zum Erliegen brachte. Was kann ein künstlerisches Projekt leisten? Es knüpft an Vorerfahrungen an, kann Ambivalenzen ausdrücken und Fragen stellen. Ein anderes Projekt Code Orange (2003) beschäftigte sich mit den Terroranschlägen in New York 2001, speziell mit den anschließenden Vorsichts- und Sicherheitsmaßnahmen, unter Nutzung der Ästhetik von Schwarz-Weiß-Aufnahmen: 44 Fotografien mit unterschiedlichen Konstellationen im urbanen Raum. Eine rudimentäre Kontextualisierung aktiviert das Wissen der Betrachter. Künstlerische Bilder dienen nicht primär Informationszwecken, sondern erzeugen eine eigenen ‚Bildwirklichkeit‘, Irritation und Fremdheit (20 Bildbeispiele zum Text).
Achim Würker: Das Andersartige der Literatur – ein psychoanalytischer Blick auf die Verunsicherung bei der Lektüre literarischer Texte
Würken bezieht sich auf E.T.A. Hoffman ‚Der Sandmann‘ um das ‚Andersartige und Fremde‘ in der Literatur zu beschreiben, das gleichzeitig Faszination und Schrecken auslöst. Nach einer Inhaltsangabe kommt er auf die Deutung von Freud zu sprechen und befasst sich dann selbst ausführlich mit dem ‚Befremdlichen‘, das er in der Literatur mit einem bildhaften/szenischen Unbewussten gleichsetzt.
Anna Kohn: „Fremde“ Kinder in der Schule – ein Erfahrungsbericht
Was als fremd empfunden wird, hängt vom eigenen Erfahrungshintergrund ab. Die Bildungsziele der Montessori-Schulen sind die Akzeptanz von Andersartigkeit und Vielfalt durch die Mischung von Jahrgängen und ethnischen Zugehörigkeiten. Es folgen Fallbeispiele aus der täglichen Arbeit, die zeigen, dass es den ‚Normalschüler‘ nicht gibt. Vielfalt und Unterschiedlichkeit sind eine Herausforderung für Lehrer und Schüler: Achtsamkeit, Orientierung und klare Grenzen, aber auch Offenheit und Lebensfreude sind die Voraussetzungen für ein gelingendes Miteinander.
Ulf Jonak: Architektur des Schreckens – Von Piranesi bis zur Hochschularchitektur heute
Der Architekt und Radierer Piranesi (1720-1778) hat seine Architekturvisionen in sechzehn großformatigen Radierungen ausgedrückt. Es sind allseits offene, ineinander geschachtelte Raumkompartimente in endlosen Wiederholungen von Bogen, Brücken, Treppen, deren Wege schwer zu verfolgen sind: steinern, unwirtlich, grenzenlos. Der Zyklus illustriert Hölle, Verlorenheit, Verzweiflung. In Hongkong gab es ein Stadtviertel vergleichbarer Struktur. Architekten fühlen sich oft eher als Schöngeister denn als Handwerker. Walter Gropius hatte 1919 gefordert, zum Handwerk zurückzukehren. Aber hinter dem Dekorativen kann sich auch was Nutzbares verstecken. Seit einiger Zeit besteht eine rückwärts gewandte Perspektive in der Architektur (Bsp. Altstadt Warschau).
In der Science-Fiction-Trilogie „Matrix“ werden menschliche Körper als Energieversorger für künstliche Intelligenzen ausgeschlachtet, oder Gehirne werden zu stumpfen Depots von Gedanken auf Vorrat, da sich sonst die Menschheitsflut nicht mehr bewältigen lässt. Hochhäuser als ‚maßlose Gebäude’ schaffen nach Rem Kohlhaas (1996) ein Stadt ohne Geschichte, die unkompliziert jedem Platz bieten, überall gleich ‚aufregend oder langweilig‘, aber mit vielen Möglichkeiten. Ist diese ‚Gesichtslosigkeit‘ eine ‚Befreiung‘? Im Gegensatz dazu ist die Zeichnung ‚Innenansicht des Hauptbahnhofs einer Hauptstadt ‚von Jakov Cernikov (1889-1951) technisch, industriell und fortschrittshoffend auf einen neuen Anfang, wenn auch zaghaft.
Helmwart Hierdeis im Gespräch mit Jörg Walter: „…in Beziehungen, die sich entwickeln, geht es immer um die Auflösung von Täuschungen.“
Jörg Walter ist Erziehungswissenschaftler und Psychoanalytiker in Innsbruck.
Das Interview beginnt mit der Frage, ob Fremdheit eher negativ konnotiert ist und wir grundlegend ‚uns-selbst-entzogen‘, also Fremde sind – ein alter philosophischer Gedanke. Aber wir können uns entwickeln, Erlebnis-, Handlungsfähigkeit und Kreativität erwerben, indem wir Erfahrungen – auch negative – verarbeiten und uns mit uns selbst aussöhnen.
Wir sind auf Begegnung angewiesen, auf das fremde Du, um ein Ich zu entwickeln. Insofern ist Fremdheit eine Ressource, die Grenzen markiert, aber nicht ausgrenzt. In Beziehungen entstehen immer wieder Unvertrautheiten und Fremdheiten. Flucht vor Fremdheit ist ein Verlust an Ressourcen.
Diskussion
Ein facettenreiche Buch, das interdisziplinär die zahlreichen Aspekte von Fremdheit in den verschiedenen Disziplinen aufgreift und unter historischem Rückgriff auch zeigt, dass Fremdheit von Beginn an ein Menschheitsthema gewesen ist und ambivalente Gefühle hervorgerufen hat. Die Beiträge beziehen sich in der Regel auf eine bestimmte Praxis und laden deshalb zum Mitdenken (Mitdiskutieren ) ein und vermitteln so auch ein sehr lebendiges Bild von der interdisziplinären Tagung. Das muss nicht heißen, dass man allen Autoren folgt, vielmehr zu eigenen Fragen angeregt wird und mitdiskutieren möchte.
Die Entdeckung des Fremden im Eigenen scheint mir das Hauptthema zu sein, insbesondere da es uns alltäglich in der Literatur, Architektur, Schule, Kunst und interkulturell begegnet und sowohl als Herausforderung (über Vorurteile nachzudenken) als auch als Bereicherung erlebt werden kann.
Fazit
Ein gelungenes pädagogisches Buch, das zum Nachdenken und zu Fragen anregt ohne einen moralisierenden erhobenen Zeigefinger.
Rezension von
Prof. Dr. Gertrud Hardtmann
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Es gibt 111 Rezensionen von Gertrud Hardtmann.
Zitiervorschlag
Gertrud Hardtmann. Rezension vom 15.10.2021 zu:
Helmwart Hierdeis (Hrsg.): Faszination und Schrecken des Andersartigen. Beiträge zum Fremdheitsdiskurs. Asanger Verlag
(Kröning) 2020.
ISBN 978-3-89334-643-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28583.php, Datum des Zugriffs 29.09.2023.
Urheberrecht
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