Karin J. Lebersorger: Herausforderung Down-Syndrom
Rezensiert von Dipl.-Päd. Petra Steinborn, 11.04.2024
Karin J. Lebersorger: Herausforderung Down-Syndrom. Entwicklungsprozesse von der Kindheit bis zum Erwachsen-Werden verstehen und unterstützen. Brandes & Apsel (Frankfurt) 2021. 167 Seiten. ISBN 978-3-95558-295-1. D: 15,90 EUR, A: 16,40 EUR.
Thema
Dank medizinischer und pädagogischer Entwicklung führen Menschen, die unter den Bedingungen des Down-Syndroms leben, ein weitgehend gesundes, ihren Möglichkeiten entsprechend selbstbestimmtes Leben. Leider findet die psychische Dimension eines Aufwachsens mit dieser genetischen Disposition vielfach selbst in Fachkreisen noch nicht diejenige Beachtung, die den damit verbundenen Herausforderungen zukommen sollte. Das Buch eröffnet ein Nachdenken über das bewusste und unbewusste Selbst- und Beziehungserleben von Menschen mit Down-Syndrom und ihren Bezugspersonen. Die Autorin verknüpft theoretische psychodynamische Überlegungen aus ihrer klinisch-psychologischen und psychotherapeutischen Arbeit im interdisziplinären Team der Down-Syndrom-Ambulanz in Wien mit realen Fallvignetten.
Autorin
Karin J. Lebersorger ist klinische Psychologin und Gesundheitspsychologin, Psychotherapeutin, Psychoanalytikerin und Supervisorin. Sie arbeitet in der Spezialambulanz für Menschen mit Down-Syndrom in Wien und ist in freier Praxis tätig. Zudem ist sie Autorin zahlreicher Publikationen.
Aufbau und Inhalt
Das vollständige Inhaltsverzeichnis findet sich auf der Homepage der Deutschen Nationalbibliothek.
Das Buch ist im Softcover Format im Jahr 2022 in zweiter Auflage erschienen und hat einen Umfang von 166 Seiten, die sich in 13 Kapitel und zahlreichen Unterkapitel gliedern. Am oberen rechten Seitenrand ist zur besseren Orientierung die Kapitelüberschrift abgedruckt. Jedes Kapitel beginnt mit einem Zitat. In den Fließtext sind zahlreiche Fallvignetten eingearbeitet.
Das erste Kapitel trägt den Titel „Wünschen und träumen!“ Eltern machen sich vor der Geburt eines Kindes Vorstellungen, wie es ist und wie das Leben sein wird. Mit der Geburt eines Kindes mit Down-Syndrom müssen sie von diesem erdachten Wunschbild Abschied nehmen. Das Kapitel behandelt auch Betrachtungen zum Down-Syndrom im Rahmen einer Kinderwunschbehandlung.
„1-2-3-los!“ (Kapitel zwei) stellt den Start ins Leben in den Mittelpunkt. Konkret geht es um das Essen, Genießen und Beruhigung, ein besonderes Augenmerk liegt auf der Oralität beim Down-Syndrom.
Oft hören Eltern die Aussage des Kindes „Selbermachen!“. In diesem dritten Kapitel werden die Anfänge der Autonomie erläutert sowie das Erleben des eigenen Selbst und das der Anderen. Erfahrungen führen zum Grundgefühl der Autonomie, das Erleben von Selbstwirksamkeit ist von enormer Bedeutung. Kleinkinder erleben dabei auch viele Situationen, auf die sie nicht vorbereitet sind, es entstehen Ängste vor Kontrollverlust, es ist eine menschliche Reaktion, diesem Erleben mit Ritualen zu begegnen. Es braucht Wissen zur Dynamik des Autonomiekonflikts, damit dieser nicht zur Schwächung der Person führt. Besprochen wird auch die Bedeutung der analen Lust und analen Aggression. Daran schließen sich Aussagen zu besonderen Aspekten bei Menschen mit Down-Syndrom, die für Entwicklungsschritte mehr Zeit brauchen. Die Sprachentwicklung kann durch Gebärden, wie sie von Wilken entwickelt wurden, unterstützend sein.
Sturheit und Bockigkeit werden oft als Merkmale bei Down-Syndrom genannt, so als gehörten sie zur Diagnose dazu. Die Autorin vertritt eine andere Meinung: Aus ihrer Sicht ist es wichtig, die psychische Dynamik hinter dem oppositionellen Verhalten und dessen Bedeutung zu verstehen, die Betrachtung der individuellen Entwicklungsgeschichte eröffnet Zugänge wie z.B. bei der 9jährigen Sandra (S. 54)
Jeder Mensch handelt subjektiv sinnvoll. Auf Basis dieser Annahme sind auch Ablehnung oder Verweigerung zu verstehen. Es ist ein individueller Lösungsversuch der Psyche zu mehr Autonomie, es geht nicht um die Ablehnung der Bezugspersonen. Diese Unterscheidung ist wichtig. Unterstützung der Entwicklung gelingt durch assistierte Autonomie: so kann vom Kind nicht bestimmt werden, welche Untersuchungen beim Arztbesuch gemacht wird, wohl aber welches Kuscheltier mitgenommen wird und was danach kommt.
„Böse“ Mama! „Böser“ Papa! – das vierte Kapitel handelt von der „verantworteten Schuld“ als entwicklungsfördernde Dimension. Den Begriff „verantwortete Schuld“ hat der Österreicher Helmuth Figdor geprägt. Gemeint ist zweierlei: einmal die Verantwortungsübernahme durch Grenzsetzungen bei Kindern auf Grundlage einer liebevollen Beziehung zum Kind und dazu ein „sich-schuldig-machen“ bezüglich der Wünsche des Gegenübers, was Unlust, Protest, Ärger oder Aggression erzeugen kann. Diese gilt es zu verstehen, anzuerkennen und zu benennen. Letzteres wirkt unterstützend, über Verhalten nachzudenken und es zu regulieren (S. 64). Dieses Konzept der assistierten Autonomie lässt sich durch das Konzept der „assistierten Freiheit“ von Graumann (2011) ergänzen. Aus Sicht der Autorin gilt: jeder selbstgefährdenden Dynamik sind Grenzen zu setzen, sie kann durch einen verstehenden Zugang aufgelöst werden, statt eine Haltung einzunehmen, die davon ausgeht, das erwachsene Menschen mit Down-Syndrom schon in allen Belangen selbstbestimmt wissen, was gut für sie ist. „Wenn selbstschädigendes Verhalten von Erwachsenen mit Down-Syndrom nicht im Sinne der verantworteten Schuld begrenzt wird, so stellt dies meinem Verstehen nach eine massive, meist unbewusste Aggression ihrer Bezugspersonen ihnen gegenüber dar“ (S. 68). Diese Aussage wird mit der Haltung von Figdor ergänzt, der sagt, dass es sich bei der Schwierigkeit, verantwortete Schuld zu übernehmen um „eines der größten pädagogischen Probleme handelt“ (zit.n.Figdor 1999, S. 50)
Das fünfte Kapitel „Konflikte meistern!“ bespricht die Konfliktfähigkeit sowie die sog. Ambivalenztoleranz. Damit ist gemeint, Widersprüche und innere Konflikte auszuhalten. Unterstützend wirksam ist, wenn Bezugspersonen das innere Erleben -gute und negative Gefühle – aussprechen. Durch das Benennen bekommen Gefühle Begriffe, diese bringen das Erleben auf eine symbolische Ebene. Das verstehen alle Menschen unabhängig von ihren kognitiven oder sprachlichen Möglichkeiten. Es fällt nicht immer leicht in die Konfrontation von Konflikten und den damit einhergehenden Folgen zu gehen, dennoch ist es entwicklungsförderlich und eröffnet Chancen für konstruktive Lösungen.
Das sechste Kapitel „Willkommen in Phantasia!“ erläutert die Bedeutung von Phantasiewelten. Eine wichtige Entwicklungsaufgabe ist, zwischen Phantasie und Realität unterscheiden zu können. Bei den meisten Kindern geht dies mit dem Eintreten der Schulreife einher. Bei Kindern, die unter den Bedingungen des Down-Syndroms leben, kommt der Übergang oft später. Im Jugendalter gibt es eine weitere Phase an Tagträumereien in Bezug auf die Zukunft.
Das Down-Syndrom als eine Variante des Menschseins anzuerkennen, spiegelt sich in dem Satz „Same, same but different!“ wieder. Eltern sollten ihren Kindern von Anfang an Orientierung zu ihren Lebensbedingungen geben und nicht tabuisieren. Die Autorin weiß aus ihrer Arbeit in der Ambulanz, dass die Auseinandersetzung mit dem Down-Syndrom stärkt (und nicht schwächt), natürlich gehört wie bei jedem Menschen das Durchleben von Höhen und Tiefen auf dem Weg ins Erwachsenenwerden dazu.
Die Pubertät und die Zeit des Übergangs vom Kind zum Erwachsenen sind mit „Achterbahnfahrten!“ – vergleichbar – so der Titel des achten Kapitels. Alle Eltern erleben diese Zeit des Jugendalters als Herausforderung. Die Zeit der Ablösung beginnt. Eltern von Down-Syndrom-Kindern machen sich große Sorgen darüber, was verwehrt bleibt z.B. einen Führerschein zu machen oder eine eigene Familie zu gründen. Reifungsprozesse sind unvermeidbar und werden hormonell gesteuert. Je weniger ein Kind darauf vorbereitet ist, desto stärker ist die „pubertäre Wucht“ (S. 107). Auch hier ist Aufklärung von Anfang an von enormer Bedeutung. Es braucht eine positive Beziehung zum eigenen Körper und eine altersangemessene Sexualerziehung, beides ist hilfreich, Veränderungen zu verstehen und zu bejahen. Wichtig ist an dieser Stelle darauf zu achten, dass auch die richtigen Bezeichnungen gewählt werden und Koseworte aus der Kleinkindzeit wie z.B. "Lulu" für die Vagina nicht ins Erwachsenenleben mitzunehmen. Das Finden angemessener Bezeichnungen fällt vielen Eltern – gerade bei Mädchen – schwer. Das Tabuisieren der Vorgänge in der Pubertät kann zu Ängsten und Scham führen. Das Sprechen über Sexualität ist nicht schädlich, sondern ein wichtiger Bestandteil des Erwachsenwerdens.
Der Weg zum Erwachsenwerden hat Höhen und Tiefen, er nimmt bei Menschen mit Down-Syndrom oft längere Zeit in Anspruch als landläufig bekannt. Zur Adoleszenz gehören auch Veränderungen im logisch-abstrakten Denken sowie die Entwicklung einer Gewissheit über sich selbst, einer eigenen Identität. Identitätsentwicklung ist ein Prozess, der nie abgeschlossen ist. Erfahrungen mit Gleichaltrigen sind identitätsstiftend, das gemeinsame Erleben in der Freizeit und mit Hobbies wie Tanz, Sport oder kreative Tätigkeiten leisten wichtige Beiträge.
Sexualität hat viele Facetten. Freude und Leid des Verliebens und des Liebens stehen im Fokus des neunten Kapitels mit dem Titel „Sex, we can!“ und dem 10. Kapitel „Bisse und Küsse“. Natürlich verlieben sich Menschen mit Down-Syndrom und erleben Freude sowie auch Herzschmerz. Nicht selten verlieben sie sich in Betreuungspersonen, die ihre Liebe nicht erwidern. Das tut weh. Wichtig ist darüber zu sprechen und den damit verbundenen Gefühlen Worte zu geben, damit das Erlebte eingeordnet werden kann. Wenn Eltern sexuelle Bedürfnisse ihrer Kinder verleugnen, können sich diese verlagern und in einem übermäßigen Essenstrieb befriedigt werden, auch dazu gibt es ein Fallbeispiel.
Der Begriff „Generativität“ (Erikson 1989) bezeichnet die Fähigkeit, sich für die Gesellschaft und somit für die nächste Generation schöpferisch und produktiv einzubringen, das spiegelt der Titel des 11. Kapitels „In die Welt!“ wider. Damit ist aber nicht nur- wie häufig angenommen- die Elternschaft gemeint, sondern dazu gehören auch für die Gesellschaft geleistet Arbeit, soziales Engagement und/oder das Herstellen eigener Werke. Magdalena Tichy bezeichnet ihre Gedichte als ihre Kinder (S. 135). In diesem Kapitel werden auch die Elternschaft und der Wunsch nach eigenen Kindern thematisiert.
Manche Jugendliche mit Down-Syndrom erleben beim Übergang ins Erwachsenenleben einen Stillstand, der sich beispielsweise in einem depressiven Rückzug oder aggressivem Verhalten ausdrücken kann. Das Verstehen der dahinterliegenden Psychodynamik kann Wege eröffnen. Das Kapitel schließt mit Erfahrungen und Überlegungen zur Ablösung, z.B. durch den Auszug aus dem Elternhaus. Viele Eltern tun sich schwer, Gründe liegen in unverarbeiteten inneren Konflikten verbunden mit Schuldgefühlen.
Das 12. Kapitel ist dem Thema „Geschwister lieben und hassen!“ gewidmet und das letzte Kapitel trägt den Titel „Gut genug!“ Eltern berichten von Erlebnissen zwischen Schuldgefühlen und Perfektionismus. Schuldgefühle sind nach Auffassung der Autorin eine Abwehrstrategie, die die Traurigkeit, dass das Kind nicht den eigenen Wünschen entspricht, abwehrt.
Ein perfektes Leben ist eine Illusion, auch der Anspruch perfekte Eltern zu sein. Die Autorin orientiert sich damit an der Aussage des englischen Kinderarztes und Psychoanalytikers Winnicott (1983), der darauf hinweist, dass ein Kind keine perfekte Mutter braucht, sondern eine Mutter, die „gut genug“ ist, wie es auch genügt, dass ihre Kinder gut genug sind (S. 158).
Diskussion
Im Mittelpunkt des Buches stehen Entwicklungsprozesse von der Kindheit bis zum Erwachsenwerden. Auch wenn der Fokus auf den Herausforderungen gelegt wurde, sind die Stärken und Besonderheiten nicht außer Acht zu lassen. Die 13 Kapitel geben einen guten Überblick von der Geburt bis zum Auszug von Menschen, die unter den Bedingungen eines Down-Syndroms leben, besprochen wird auch die Rolle der Eltern, Geschwister und Bezugspersonen.
Vielen Menschen mit Beeinträchtigungen es nicht möglich, ihre Gefühlszustände gedanklich zu ordnen, sie zu benennen und sich sprachlich damit auseinander zu setzen. Spannung kann sich aber erst abbauen, wenn die Möglichkeit besteht, Erleben zu teilen, darin emotional begleitet und gehalten zu werden. Es braucht einfühlsame Begleitung und Unterstützung bei der Bearbeitung von einschneidenden Erlebnissen sowie in belastenden Situationen.
Das Buch möchte Anregungen zum Verständnis komplexer Zusammenhänge geben, Formen des Nachdenkens über Möglichkeiten aufzeigen, es liefert aber keine Rezepte.
In den Fließtext sind zahlreiche Fallvignetten/Erfahrungsberichte eingestreut, sie ergänzen die Aussagen und machen Sachverhalte nachvollziehbar, dabei wird auch beschrieben, welche Lösungen gefunden wurden und welche therapeutischen Angebote hilfreich waren.
Das Buch erläutert Sachverhalte sehr nachvollziehbar, es ist sehr gut lesbar, weil weitestgehend auf Fremdwörter verzichtet wurde.
Ziel der Autorin ist, komplexe innerpsychische Zusammenhänge im Erleben von Menschen mit Down-Syndrom verstehbar zu machen, denn auch in Fachkreisen halten sich bis heute immer noch diverse Vorurteile.
Fazit
Das Buch ist so aufgebaut, dass es nicht von Anfang bis Ende zu lesen ist, sondern immer wieder zur Hand genommen werden kann. Der Autorin ist es ein Anliegen, deutlich zu machen, wie wichtig ein verstehender Zugang in der Begleitung von Menschen mit Down-Syndrom ist – von der Kindheit bis zum Erwachsen-Werden und -Sein.
Rezension von
Dipl.-Päd. Petra Steinborn
Tätig im Personal- und Qualitätsmanagement in einer großen Ev. Stiftung in Hamburg-Horn. Freiberuflich in eigener Praxis (Heilpraktikerin für Psychotherapie). Leitung von ABC Autismus (Akademie-Beratung-Coaching), Schwerpunkte: Autismus, TEACCH, herausforderndes Verhalten, Strategien der Deeskalation (systemisch), erworbene Hirnschädigungen
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Zitiervorschlag
Petra Steinborn. Rezension vom 11.04.2024 zu:
Karin J. Lebersorger: Herausforderung Down-Syndrom. Entwicklungsprozesse von der Kindheit bis zum Erwachsen-Werden verstehen und unterstützen. Brandes & Apsel
(Frankfurt) 2021.
ISBN 978-3-95558-295-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28587.php, Datum des Zugriffs 14.12.2024.
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