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Christian Fuchs: Der Körper‚ das Trauma und der Affekt

Rezensiert von Prof. Dr. med. Gertraud Müller, 28.06.2022

Cover Christian Fuchs: Der Körper‚ das Trauma und der Affekt ISBN 978-3-89797-674-0

Christian Fuchs: Der Körper‚ das Trauma und der Affekt. Theorie und Praxis der Polyvagaltheorie in der Psychotherapie. EHP – Verlag Andreas Kohlhage (Gevelsberg) 2021. 192 Seiten. ISBN 978-3-89797-674-0. D: 26,99 EUR, A: 27,80 EUR.
Reihe: EHP - Edition Humanistische Psychologie.

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Thema

Von einigen Ausnahmen der Körperpsychotherapie abgesehen, wurde lange Zeit der Körper bzw. seine autonomen Reaktionen im Mainstream der Psychotherapie eher stiefmütterlich behandelt. Dies änderte sich u.a. mit Forschungsarbeiten im Rahmen der Psychotraumatologie/Bindungstheorie wie z.B. der Entwicklung der Polyvagaltheorie von Stephen Porges 1994 u.v.a. Diese Theorie wird im vorliegenden Buch aufgegriffen und es wird untersucht, wie diese Erkenntnisse zur Regulation dysfunktionaler, durch Traumatisierung bedingter defensiver Zustände insbesondere in der (humanistischen) Psychotherapie aber auch im Alltag der Betroffenen ganz praktisch genutzt werden können. Dabei ergänzten sich Polivagaltheorie und Gestalttherapie, da „ein ganzheitlicher, erlebnisorientierter Ansatz einem wissenschaftlichen Reduktionismus der Polivagaltheorie entgegenwirke“ (S. 14).

Autor

Christian Fuchs ist Gestalt- und Traumatherapeut (HPG) in eigener Praxis, Mitbegründer des Lore Perls Instituts und Leiter des Kurt Goldstein Instituts. Als Dipl.-Ing (FH) und Dipl.-Wirtsch.-Ing. (FH) war er langjähriger geschäftsführender Gesellschafter eines Unternehmens mit Schwerpunkt Beratung und Training. Laut seiner Homepage sind die Gestalttherapie, Traumatherapie, die Gestaltmediation und die Gestaltberatung u.a. Schwerpunkte seiner Tätigkeit.

Aufbau und Inhalt

Im Vorwort legt der Autor das Grundanliegen des Buches dar: Die „Schaffung eines Verstehens, wie im therapeutischen Prozess gezielt mit autonomen Körperreaktion gearbeitet werden kann“ (S. 11), wobei er sich nicht nur auf die Polyvagaltheorie, sondern auch auf die Arbeiten von Peter Levine stützt. Auch nicht therapeutisch arbeitende Berufsgruppen, die mit Klientinnen arbeiten, die unvorhergesehen die Kontrolle über ihre Affekte verlieren, könnten die im Buch beschriebenen Interventionen zur organismischen Affektregulation einsetzen, ohne dabei die Integration traumatischer Inhalte anzustreben.

Im ersten Hauptteil legt der Autor die theoretische Fundierung, wobei er betont, dass die rein naturwissenschaftlich fundierte Polyvagaltheorie nur einer von mehreren Bausteinen einer „ganzheitlichen“ Therapie darstellen könne. Ausgehend vom grundsätzlichen Traumaverständnis der Polyvagaltheorie, nämlich, dass eine oder mehre traumatische Erfahrungen dazu führen können, dass defensive Reaktionspfade bevorzugt ausgewählt werden bzw. sogar darin chronisch verharrt würde und so die Energieregulation beeinträchtigt und Folgesymptome entstünden, beschreibt er nun die Grundzüge von Porges Theorie: Die Neurozeption als ein unter der Bewusstseinsschwelle arbeitendes System, das die Umwelt ständig dahingehend überprüft, ob Sicherheit gewährleistet ist bzw. Gefahr droht und das durch Traumatisierung, insbesondere auch in der Kindheit verändert werden kann. Weiterhin das System der Sozialen Kommunikation (bei S. Porges Social Engagement System), das aktiv ist, wenn die Umwelt als sicher eingeschätzt wird. Und dann die Defensivsysteme, nämlich die Mobilisation (Sympathikus) für Kampf und Flucht und die Immobilisation (Dorsaler Vagusnerv), die zum Totstellen, Erstarren führt. Zuletzt wird das Prinzip der Co-Regulation beschrieben, dass nicht nur bei der Bindungsentwicklung wichtig ist, sondern auch im therapeutischen Prozess eine wesentliche Rolle spielt. Der Autor resümiert, dass Trauma im Sinne der Polyvagaltheorie zu einer chronischen Dysregulation des vegetativen Nervensystems führe, was wiederum die kognitive Verarbeitung und die soziale Kommunikation (Vereinsamung!) erschwere. Daher ist es wichtig, in der Therapie nicht nur psychoedukativ ein Verständnis für die körperlichen Vorgänge bei der KlientIn zu erwirken, sondern auch eine Normalisierung der vegetativen Regulation anzustreben.

Im zweiten Hauptteil wendet der Autor nun die erarbeitete Theorie in der Praxis an: Grundsätzlich geht er von der Annahme der Sinnhaftigkeit der „Symptome“ als Schutzmechanismen aus und davon, dass kognitive Prozesse wenig Einfluss auf autonome Reaktionen haben, weswegen unbedingt auch „bottom-up“, also an körperlichen Phänomen ansetzend, gearbeitet werden müsse. Es gehe darum, dass die Betroffenen lernen, sich so zu regulieren, dass sie dysfunktionale Defensivpfade verlassen und das System der sozialen Kommunikation gestärkt wird – erst dann sei kognitive Kommunikation möglich.

Im Folgenden beschreibt C. Fuchs wie dieses Ziel ganz konkret in der Praxis erreicht werden kann und das anhand von vielen Dialogen und Fallvignetten: Nach einer kurzen Fallbeschreibung wird in grau unterlegten Tabellen auf der einen Seite die Dialog zwischen KlientIn und TherapeutIn dargestellt, in der zweiten Spalte finden sich Anmerkungen zur Technik, Fallstricke etc. und in der dritten Spalte wird ein Rückbezug auf die Polyvagaltheorie hergestellt. Auf diese Weise gibt er Hilfestellung zur Deutung der Körpersignale, Erweiterung der Spürwahrnehmung und beschreibt verschieden „Experimente“, die mit den KlientInnen durchgeführt werden können, um Hilfestellung bei der Erkennung der Dysregulation und der Verbesserung der Regulationsfähigkeit zu geben. Dies schließt z.B. Atemübungen, Bewegungen zur Mobilisation blockierter Energien, Berührungen und den Umgang mit Grenzen ein. Nun folgt noch eine Beschreibung – ebenfalls mit Hilfe der Darstellung ganz konkreter Therapiesituationen in Dialogform, wie Sicherheit in der therapeutischen Beziehung und ein besseres Spürbewusstsein hergestellt werden kann und es werden Wege aus der Mobilsation und Immobilsation bzw. einem Pendeln zwischen den beiden Zuständen aufgezeigt. Zuletzt wird auch noch eine Einblick in die Co-Regulation in Paarbeziehungen gegeben. Am Ende findet sich ein Anhang, in dem Informationen zu den verwendeten Materialien, wie Balance-Kissen und Weiterbildungs- und Literaturempfehlungen gegeben werden, sowie ein Stichwort- und Literaturverzeichnis.

Diskussion

Das vorliegende Buch referiert die Polyvagaltheorie nach S. Porges und nutzt sie im Rahmen eines gestalttherapeutischen Settings vorwiegend dafür, Defensivstrategien zu erkennen (TheapeutIn und KlientIn), und regulieren zu lernen und somit überhaupt erst auf der kognitiven Ebene im System der sozialen Kommunikation arbeiten zu können. Für dieses Ziel wird einerseits das Wesentliche der Theorie gut verständlich dargestellt und andererseits bis zum gesprochen Wort in die Praxis hinein konkretisiert, wobei Voraussetzungen für dieses Arbeiten ebenso genannt werden, wie potentielle Nebenwirkungen und Fallstricke. Das humanistische Grundverständnis der Sinnhaftigkeit der Symptome bewahrt davor, den KlientInnen vorschnell Schutzmechanismen nehmen zu wollen, die sie ggf. (noch) brauchen. Das Buch ist in gut verständlicher Sprache geschrieben, die redaktionelle Arbeit ist einwandfrei. Es finden sich sehr viel Verweise auf die Fachliteratur (manchmal auf Sekundärliteratur), auch viel wortwörtliche Zitate und Fußnoten. Letztere sind leider in so kleiner Schrift geschrieben, dass sie kaum noch lesbar sind. Leider fehlen im Buch Querverweise, sodass es zu einigen unnötigen Wiederholungen kommt. Im gesamten Buch wird eine kritische Metaebene nicht betreten, wenn man von der Aussage, die Polyvagaltheorie sei rein naturwissenschaftlich und damit reduktionistisch, absieht: Schade, dass eine kritische Auseinandersetzung mit der Polyvagaltheorie (wie gut ist sie wissenschaftlich bewiesen?) überhaupt nicht erfolgt. Auch eine so wesentliche fachliche Aussage für dieses Werk, wie „Kognitive Prozesse haben wenig regulierenden Einfluss auf die Reaktion des autonomen Nervensystems und zeigen auf dieser Ebene wenig Wirkung“ (S 47) wird nicht belegt Genauso wenig wird diskutiert, inwiefern das empfohlene praktische Vorgehen in seiner Wirkung und Nebenwirkung bereits wissenschaftlich untersucht wurde – oder eben (noch) nicht – auch gute Erfahrungen des Autors wären eine Evidenz, aber eben nur eine sehr niedrigen Grades.

Im praktischen Teil werden Übungen/Experimente zur Erreichung dieses Zieles unter Verweis auf Risiken und potentielle Nebenwirkungen sehr konkret und gut nachvollziehbar anhand vieler Fallbeispiele und Dialoge beschrieben. Dieses praktische Vorgehen, das ja zum Teil erst die Möglichkeit schafft, auf kognitiver Ebene zu arbeiten, bzw. eine gute Beziehung zwischen TherapeutIn und KlientIn aufzubauen, könnte nicht nur in Psychotherapien, sondern auch in andere Settings, wie z.B. Beratungen integriert werden. Leider fehlt in diesem Buch eine kritische Metaebene zur wissenschaftlichen Evidenz der Polivagaltheorie und zum Wirkungsnachweis der eingesetzten Methodik.

Fazit

In Christian Fuchs Buch:“ Der Körper das Trauma und der Affekt. Theorie und Praxis der Polyvagaltheorie in der Psychotherapie“ erfolgt eine gut verständliche Einführung in S. Porges Polyvagaltheorie, in der Traumatisierung als teilweise Verselbstständigung der defensiven Systeme und Überempfindlichkeit des Sicherungssystems der Neurozeption gesehen wird und als therapeutischer Weg eine Verbesserung der Regulation des autonomen Nervensystems bzw. Stärkung des Systems der Sozialen Kommunikation vorgeschlagen wird. Dieser theoretische Rahmen wird als gute Ergänzung zu einer humanistisch fundierten Psychotherapie gesehen und ganz konkret übend, experimentierend in die Praxis umgesetzt. Eine Kritik der Polyvagaltheorie bzw. Informationen zur Evidenz der Wirksamkeit der Übungen/Experimente erfolgen nicht.

Rezension von
Prof. Dr. med. Gertraud Müller
Internistin, Psychotherapie; KIP-Therapeutin; Emerita, ehemals Fachbereich Sozialwesen der Evangelischen Fachhochschule Nürnberg
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Es gibt 14 Rezensionen von Gertraud Müller.

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ISSN 2190-9245