Wolfgang Benz: Mutterkreuz und Massenmord
Rezensiert von Prof. Dr. Gertrud Hardtmann, 14.10.2021

Wolfgang Benz: Mutterkreuz und Massenmord. Szenen aus dem „Dritten Reich“. Metropol-Verlag (Berlin) 2021. 330 Seiten. ISBN 978-3-86331-585-6. D: 24,00 EUR, A: 24,70 EUR.
Thema
Der vorliegende Titel beschäftigt sich mit historisch fundierten Informationen über die Verbrechen in der NS-Zeit.
Autor
Wolfgang Benz war bis März 2011 Professor und Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin. Er ist Mitherausgeber und Herausgeber von Buchreihen und Zeitschriften und Autor zahlreicher Publikationen zur Geschichte des 20. Jahrhundert, zu Nationalsozialismus, Antisemitismus und Problemen von Minderheiten.
Entstehungshintergrund
Entstehungshintergrund sind aktuell in der Bundesrepublik Geschichtsfälschungen, Antisemitismus und Fremdenhass. Da NS-Parolen wieder attraktiv werden, ist das Ziel, Wissen über die Geschichte und die Verbrechen im NS-Staat zu vermitteln.
Aufbau
Nach den Gründen für dieses Buch folgen Kapitel über den »Weg in die Diktatur«, die »Verführung und Ausgrenzung«, »Anpassung, Selbstbehauptung und Widerstand«, »Unterwerfung« und »Vernichtung«.
Gründe für dieses Buch
Da die Ideologie und Herrschaftspraxis des NS-Staates bei Unbelehrbaren wieder attraktiv sind, ist Aufklärung notwendig. Im Nationalsozialismus sollte das Denken und Fühlen durch Propaganda und Zwang uniformiert und die Illusion einer Volksgemeinschaft geschaffen werden. Den Mythen und Legenden über die NS-Zeit setzt Benz historisch gesicherte Fakten entgegen unter Rückgriff auch auf Zeitzeugen. Sie sind wichtig, haben aber keinen Anspruch auf Deutungshoheit, da ihr Anliegen nicht die Erforschung objektiv wissenschaftlicher Sachverhalte ist. Als Gastprofessor im Ausland sei er der Kritik an rechtsradikalen Organisationen in Deutschland begegnet und verbinde mit dieser Veröffentlichung die Hoffnung, mithilfe der historischen Tatsachen über Täter und Opfer der politischen und humanen Katastrophe aufzuklären.
I. Der Weg in die Diktatur
Hitler hatte 1932 Erfolg bei den Ratlosen, Verwirrten und Enttäuschten, aber er verdankte seinen Aufstieg auch einer Staatskrise und der Unterstützung seiner Kanzlerschaft durch Papen und der Ernennung durch Hindenburg am 30.1.1933. Dieser ordnete am 1.2.1933 Neuwahlen an, durch die die NSDAP – nach Verhaftung und Verbot kommunistischer und sozialdemokratischer Funktionäre und Presse – am 5.3.1933 zwar nur 43,9 % der Stimmen erhielt, aber ihren Machtanspruch durchsetzen konnte, z.B. mit dem Ermächtigungsgesetz ‚zur Behebung der Not von Volk und Reich‘ am 23.3.1933. Bereits am 1.4.1933 kam es zum Boykott jüdischer Geschäfte, am 7. zum ‚Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums‘ und dem ‚Arierparagrafen‘ (Ausschluss von Juden, Demokraten, Sozialisten). Zur Machtübernahme hatte die gesellschaftliche Krise (Zerfall der demokratischen Ordnung, ökonomischer und sozialer Stress) beigetragen. In kürzester Zeit erfolgte der ‚Abschied vom Rechtsstaat‘ durch die ‚Verordnung zum Schutz von Volk und Staat (nach dem Reichsbrand), die Grundrechte wie Meinungs-, Presse, Vereins- und Versammlungsfreiheit außer Kraft setzte, das Brief und Fernmeldegeheimnis und die Unverletzlichkeit der Wohnung aufhob und Strafbestimmungen verschärfte. Recht und Justiz wurden zu Instrumenten der Verfolgung, indem Himmler zum ‚Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei‘ ernannt wurde. Konzentrationslager für politische Gegner entstanden bereits 1933. Mit dem Röhm-Putsch 1934 wurde der Rechtsstaat endgültig beseitigt.
II. Verführung und Ausgrenzung
‚Rechtsextremismus steht in der Tradition des Nationalsozialismus‘ und behauptet, dass ‚nicht alles schlecht‘ war. Dabei wird übersehen die inferiore Stellung der Frau (trotz Mutterkult), dass ‚Kraft durch Freude‘, Verlockung und Zwang bedeutete, Rüstungsausgaben (und Arbeitsbeschaffung) durch Wechsel auf die Zukunft finanziert wurden (eingelöst mit der Währungsreform 1948), Urteile der Militär- und Sondergerichte nicht in der zivilen Kriminalstatistik erschienen und der Autobahnbau aus der Arbeitslosenversicherung finanziert wurde. Mythen anstelle von Aufklärung werden oft überliefert und benutzt als persönliche ‚Persilscheine‘.
Rassenkunde wurde zur Stigmatisierung benutzt; die Entwertung anderer diente der eigenen Aufwertung und der Vorbereitung zu einem rassistischen Vernichtungskrieg. Filme verbreiteten antisemitische Stereotype (Robert und Bertram, der ewige Jude, Jud Süß) und das ‚Paradies der Volksgemeinschaft‘, z.B. das Seebad Prora, sollte auch die Freizeit domestizieren mithilfe der Deutschen Arbeitsfront (DAF) nach der Zerschlagung der Gewerkschaften.
III. Anpassung, Selbstbehauptung, Widerstand
Die Mitgliederzahl der NSDAP stieg im März 1933 auf 2,5 Millionen, 1939 auf 8,5 Millionen. Die Entnazifizierung nach 1945 hatte in beiden Teilen Deutschlands nur einen geringen Effekt und führte zu keiner ernsthaften Auseinandersetzung. Viele Nazis rückten später wieder in geachtete Positionen, einige Förderer von Hitler (z.B. Leni Riefenstahl) waren nie in die Partei eingetreten und bagatellisierten oder verheimlichten später ihre Mitgliedschaft (viele Beispiele).
Ausführlich geht Benz auf den Schreiner Georg Elser ein, der am 8.11.1939 in München ein missglücktes Attentat auf Hitler verübte. Protestantisch erzogen, war er als Einzeltäter überzeugt, handeln zu müssen. Im KZ erhielt er den Status eines Sonderhäftlings und wurde am 9. April in Dachau ermordet. Zunächst verfemt, wurde er erst nach langer Zeit rehabilitiert.
Die Widerstandsgruppe ‚Kreisauer Kreis‘ wollte den Rechtsstaat wieder herstellen, Glaubens und Gewissensfreiheit gewährleisten, Anerkennung der unverletzlichen Würde eines Menschen und – in Abkehr von der NS-Ideologie – ein friedliches Zusammenleben (christlich, sozialistisch, bürgerlich-demokratisch) sichern und für gesunde und dauerhafte Arbeitsverhältnisse und Mitbestimmung eintreten. Das Ziel war eine Völkergemeinschaft im Geist der Verantwortung und Toleranz. Die Teilnehmer kamen aus unterschiedlichen sozialen, ideologischen und politischen Bereichen und fühlten sich nicht zu militärischen Aktionen berufen. Im Januar 1944 wurde Moltke durch die Gestapo verhaftet und nach dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 weitere Teilnehmer, denen dann von Freisler der Prozess gemacht wurde.
Trotz einiger Ausnahmen (Paul Schneider) haben Christen im Widerstand versagt und sich auch nicht für ihre Mitglieder engagiert. Jehovas Zeugen hingegen leisteten geschlossen gewaltlosen Widerstand gegen die Ansprüche von Partei und Staat.
IV. Unterwerfung
Bereits 1935 wurde von Goebbels eine Zensur von Presse und Veröffentlichungen angeordnet. Die Kulturpolitik zielte darauf, die NS-Ideologie einer ‚Volksgemeinschaft‘ mithilfe von Rundfunk und Presse zu verbreiten. Aus Existenzangst, Opportunismus, vielleicht auch Naivität, unterwarfen sich viele Kulturschaffende und arbeiteten zum Teil im Parteiauftrag. Ausschluss aus dem Reichsverband war gleichbedeutend mit Berufsverbot. Viele Medienschaffende wollte nach 1945 ihre Komplizenschaft opportunistisch verheimlichen oder bagatellisieren (zahlreiche Beispiele).
Die von Studenten inszenierte Bücherverbrennung in mindestens 30 Universitätsstädten am 10. Mai 1933 demonstrierte den Anspruch der NSDAP auf kulturelle Hegemonie. Bibliotheken wurden ’gesäubert‘ (auch in der DDR waren später einige Schriften verboten und christlicherseits wurden nach 1945 Filme auf den Index gesetzt). Autoritäre Verbote gab – und gibt – es auch in anderen Ländern und durch Hetze verursachte Gewaltexzesse von Fundamentalisten.
Eine inszenierte Gewalt ereignet sich in aller Öffentlichkeit in der ‚Reichskristallnacht‘. Angeblich als Vergeltung für die Ermordung des Legationssekretärs Ernst vom Rath durch den 17-jährigen Herschel Grünspan diente die Gewalt ausschließlich der Ausgrenzung, Diskriminierung und physischen Vernichtung von Juden in Groß- und Kleinstädten: Bürger wurden zu Gewalttätern.
Im Burenkrieg (Beginn 1899) hatten die Briten Konzentrationslager errichtet, in die Frauen, Kinder und Greise eingewiesen wurden. In einem ‚völkischen Kitschroman‘ (Fritz Spiesser ‚Das Konzentrationslager‘, München 1940) wurde auf die ‚britische Erfindung‘ hingewiesen, hingegen der Völkermord an den Herero 1904 verschwiegen; deutsche Konzentrationslager sollten gerechtfertigt werden. Es folgt eine ausführlichere Biografie des Autors und eine Beschreibung, wie das KZ Dachau 1933 in aller Öffentlichkeit errichtet wurde. Unter der Hoheit der SS und des Reichsführers Himmler wurde ein Netz von Staatsterror in Gestalt von KZ-Filialen unterschiedlicher Größe geschaffen und für Sklavenarbeit genutzt. Auch nach 1945 weigerten sich Bürger, die Verbrechen (die KZs hatten keine gesetzliche Grundlage) anzuerkennen. Die Errichtung der Lager beruhte auf Willkür und waren auch nicht Internierungs-, sondern Vernichtungslager auf Demütigung, Ausplünderung und Mord ausgerichtet. Die wenigen, die sie überlebten, waren lebenslang traumatisiert.
Freiheitsverlust und Demütigung war ein Herrschaftsprinzip in der NS-Zeit. Dazu dienten Arbeitserziehungslager (mindestens 1/2 Million Menschen), Polizeihaftlager (unter der Hoheit der Gestapo, vor allem in den besetzten Gebieten, die sich kaum von KZs unterschieden), Zwangsarbeitslager (für Juden zwischen 1939 und 1944 auf polnischem und sowjetischem Gebiet), Gettos, Zigeunerlager, Jugendschutzlager, Fremdarbeiterlager und Vernichtungslager (1941 In Chelmno/​Kulmhof, dann Belzec, Sobibor, Treblinka, und schließlich Auschwitz und Birkenau). Das Ende war ein Massenmord.
Benz geht dann auf die Zentrale des Terrors, das Reichssicherheitshauptamt in der Prinz-Albrecht-Straße 8 ein, das der Verfolgung Andersdenkender/​Gegner (Juden, Sinti und Roma, Freimaurer, Christen, Zeugen Jehovas, Wehrdienstverweigerer u.a.) diente und allein 3400 Mitarbeiter beschäftigte (Biografien von Walter Schellenberg, Heinrich Müller). Heute ist das Gelände ein Teil der ‚Topografie des Terrors‘, Gedenkstätte für die NS-Verbrechen. Nur wenige Täter wurden im Nürnberger Einsatzgruppenprozess 1948 verurteilt.
Benz erwähnt auch auf den Witzleben-Prozess vor dem Volksgerichtshof nach dem missglückten Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 ein. Er beschreibt dann – Teil einer Erinnerungskultur – wie die Baracke 38 im KZ Sachsenhausen (Teil des Judenblocks) zum Museum in Sachsenhausen wurde. Ein Brandanschlag im Herbst 1992 sorgte für weltweite Aufmerksamkeit und später für einen Justizskandal.
V. Vernichtung
Die Verordnung vom 1. September 1942 stigmatisierte Juden vom 6. Lebensjahr an den ‚Judenstern‘ zu tragen. Zunächst zielte die Politik auf Vertreibung der Juden, erst mit dem Auswanderungsverbot im Herbst 1941 wurde der Genozid das Ziel. Deportationen, getarnt als ‚Umsiedlungsaktion in den Osten‘ waren der Beginn. Die Durchführung und Effizienz der ‚Endlösung‘ (restlose Ausrottung aller Juden in Europa) wurden auf der Wannseekonferenz am 20. Januar 1942 unter der Führung von Reinhard Heydrich beschlossen, doch waren bereits zuvor mindestens eine halbe Million Juden ermordet und Deportationen angeordnet worden. Sechs Millionen Juden, nicht weniger, eher mehr, fielen insgesamt dem Terror zum Opfer. Auf der Wannseekonferenz wurde der ‚Völkermord‘ wie ein Verwaltungsakt behandelt.
1966 gründeten Historiker den Verein ‚Internationales Dokumentationszentrum zur Erforschung des Nationalsozialismus und seiner Folgeerscheinungen‘, der 1992 das Haus der Wannsee-Konferenz als Gedenk- und Bildungsstätte übernahm.
Theresienstadt war ein Getto für bevorzugte Juden aus Deutschland, Tschechien, Österreich und Weltkriegsteilnehmer. Von den 141 000 deportierten Juden wurden nur 23 000 gerettet. Der Zynismus der Nazis präsentierte das Lager als ‚Altersdomizil‘ und täuschte im Juni 1944 selbst eine Delegation des Internationalen Roten Kreuzes. Die spätere Rezeption als ‚Kultur-Getto‘ ist eine grobe Täuschung. Es war ein Ort zwischen ‚Hoffnung und Vernichtung‘, zwischen ‚Illusion und Untergang‘. Legendenbildung und Mythologisierungen versuchten die Destruktivität zu vertuschen.
Das Buch endet, als sei es mit dem Schrecken noch nicht genug, mit den Morden in Baba Jar durch ein Sonderkommando 4a der Einsatztruppe C, insgesamt 3000 Mann. Die Wehrmacht sicherte die Maßnahmen, als 33 771 Frauen, Männer und Kinder nach Entkleidung in die Schlucht geleitet und ermordet wurden; 1943 wurden jüdischen KZ-Häftlinge gezwungen, die Leichen zu exhumieren und zu verbrennen. Nur wenige Täter wurden zur Rechenschaft gezogen.
Diskussion
Ein erschütterndes, immer wieder aufwühlendes, aber gerade deshalb wichtiges Buch, weil es dem Vergessen oder der ‚Verschwörung des Schweigens‘ oder der Bagatellisierung der NS-Verbrechen entgegenarbeitet. Ein historisches, soweit die Fakten benannt und belegt werden, und ein politisches Buch, soweit immer wieder Verweise auf die nur zögerliche und unzureichende Aufarbeitung in der Nachkriegszeit und bagatellisierende Tendenzen bis in die Gegenwart erfolgen. Es ist Benz gelungen, einerseits ein weniger für Fachleute, sondern vor allem auch für Laien lesbares Buch zu konzipieren, das nicht auf Belege für Fakten und Hinweise auf weiterführende Literatur verzichtet. Es gehört sowohl in den Geschichts-, wie auch in den Politikunterricht, um die nachfolgenden Generationen aufzuklären, welche historische Erbschaft und gleichzeitig Verpflichtung sie mit ihrem ‚Deutschsein‘ übernimmt. Die Spuren sollten nicht gelöscht, sondern im Gedächtnis bewahrt werden.
Im Vergleich zum Inhalt scheint mir der Titel nicht sehr gelungen, da es um wesentlich mehr geht wie z.B. Verführung, Widerstand, Lügen/Propaganda und innenpolitische Gewalt, Menschenverachtung und Zerstörung von Rechtsstaatlichkeit. Allerdings trifft das Stichwort ‚Szenen‘ insoweit zu, da mit einer bildhaften Sprache mitunter nur Teile eines größeren Prozesses (z.B. Kreisauer Kreis und 20. Juli 1944) erwähnt werden, die vom Leser zusammengeführt werden müssen, wie z.B. der Holocaust als bürokratischer Verwaltungsakt und seine bereits 1941 erfolgte menschliche Umsetzung (Baba Jar).
Aber auch diese ‚szenischen‘ Anstöße können zu einer intensiveren Beschäftigung genutzt werden.
Fazit
Unbedingt zu empfehlen. Dieses Buch gehört in jede Schul- und öffentliche Bibliothek – nicht nur zur Information, sondern als Anstoß zu einer weiteren Vertiefung und zur Stärkung eines ‚Nationalbewusstseins‘, das Schuld nicht verleugnet, Verantwortung übernimmt und der Engstirnigkeit von ‚Wir und die Anderen/​Fremden‘ und einem spaltenden menschenverachtenden Fundamentalismus widersteht.
Rezension von
Prof. Dr. Gertrud Hardtmann
Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, Psychoanalytikerin
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