Rainald Manthe: Warum treffen sich soziale Bewegungen?
Rezensiert von Prof. Dr. Christian Schröder, 17.08.2021
Rainald Manthe: Warum treffen sich soziale Bewegungen? Vom Wert der Begegnung: interaktionssoziologische Perspektiven auf das Weltsozialforum.
transcript
(Bielefeld) 2020.
322 Seiten.
ISBN 978-3-8376-5616-9.
D: 42,00 EUR,
A: 42,00 EUR,
CH: 51,20 sFr.
Reihe: Soziale Bewegung und Protest - Band 4.
Thema
Am Beispiel des Weltsozialforums geht Rainald Manthe der Frage nach, warum sich soziale Bewegungen treffen. Aus einer interaktionssoziologischen Perspektive rekonstruiert er anhand ethnografisch erhobener Daten, was face-to-face-Interaktionen für soziale Bewegungen leisten.
Entstehungshintergrund
Der Band ist die Dissertation des Autors an der Universität Luzern, die durch ein Graduiertenstipendium der Friedrich-Ebert-Stiftung gefördert und von der Bielefeld Graduate School in History and Sociology sowie der Graduate School Luzern unterstützt wurde.
Aufbau und Inhalt
Nach der Einleitung folgen zwei Kapitel zur interaktionssoziologischen Perspektive auf (transnationale) Treffen sozialer Bewegungen. Anschließend wird der empirische Fall der Studie – das Weltsozialforum – vorgestellt und das methodische Vorgehen zur ethnografischen Untersuchung erläutert. Es folgt ein Kapitel zur Frage, was überhaupt geschehen muss, damit die Weltsozialforumstreffen stattfinden. Die Leistungen der Treffen werden dann in vier weiteren Kapiteln aus den empirischen Einsichten herausgearbeitet. Abschließend wird ein Resümee für die Interaktionssoziologie und Bewegungsforschung gezogen und mögliche Anschlüsse weiterer Forschung aufgezeigt. In einem Epilog geht der Autor zudem auf die Rolle der face-to-face-Interaktion in einer durch die Corona-Pandemie bestimmten Weltlage ein.
Die bereits in der Einleitung (1) formulierte These zur Fragestellung, warum sich soziale Bewegungen treffen, lautet, „dass die Sozialform Interaktion etwas birgt, das mit anderen Konzepten nicht erfasst werden kann“ (S. 19). Seine interaktionssoziologische Brille fundiert der Autor in Kapitel (2) insbesondere in den Studien Ervin Goffmans und Nikolas Luhmanns. Bei beiden wird die Eigengesetzlichkeit der Interaktion hervorgehoben, die stets als Kommunikation unter Anwesenden (im Sinne wechselseitiger Wahrnehmung) gedacht wird. Strukturierende Kennzeichen sind die sequentielle Bearbeitung von Themen sowie das häufiger zurückgreifen auf Typenprogramme (Sets von Erwartungen), die regulieren, was als angemessenes Verhalten in der Interaktion zu gelten hat. Die Interaktionssituation selbst ist durch ein Umfeld bestimmt, dass für die Anwesenden mit allen Sinnen wahrnehmbar ist und neben verbaler auch non-verbale Kommunikation zulässt. In Kapitel (3) wird der Forschungsstand zu sozialen Bewegungen skizziert. Besondere Relevanz haben ‚Typenprogramme‘ sozialer Bewegungen (geteilte Vorstellungen von Abläufen von Protestveranstaltungen oder Meetings). Die Forschungslücke – so der Autor – besteht in einer interaktionssoziologischen Perspektive auf Treffen sozialer Bewegungen, die „der Eigenrealität der face-to-face Situationen großen Raum gibt und erst einmal keine weiteren Fragen stellt als ‚What is going on?‘“ (S. 57).
In Kapitel (4) wird der empirische Fall „Weltsozialforum“ hinsichtlich der Fragen vorgestellt, wie das Weltsozialforum entstanden ist, welche Ideen ihm zugrundeliegende und wie auf und über das Forum debattiert wird. Kapitel (5) umfasst das methodische Vorgehen und begründet, warum gerade eine Ethnografie geeignet ist, eine interaktionssoziologische Perspektive einzunehmen. Um der Komplexität einer Veranstaltung mit mehreren zehntausend Teilnehmenden und mehreren tausenden Veranstaltungen gerecht zu werden, entwickelt der Autor eine mit sensitizing concepts (z.B. Vergemeinschaftungsrituale, Rolle der Moderation, Operieren mit Konsens und Konflikt) zielgerichtete teilnehmende Beobachtung. Die Datengrundlage bildet neben der teilnehmenden Beobachtung auf einer Attac-Veranstaltung 2014 in Paris (Vorstudie), dem Weltsozialforum 2015 in Tunis (Hauptfall) und dem Weltsozialforum 2016 in Montreal (ergänzender Fall), 8 Interviews mit Teilnehmenden auf den Weltsozialforumsevents sowie die Sichtung von Diskussionen in sozialen Medien, auf Mailinglisten und anderen Dokumenten zum Weltsozialforum. Kapitel (6) beschreibt die Unwahrscheinlichkeit des Zustandekommens der Weltsozialforen trotz der Hemmschwellen (Kosten und Hürden) und auch die Herausforderung vor Ort auf dem Weltsozialforumsevent, beispielweise die Veranstaltungsräume zu finden oder eine Übersetzung zu organisieren. Daraus ergibt sich eine besondere Interaktionsordnung, die sich vom Alltag der Teilnehmenden und auch vergleichbaren Treffen unterscheidet. Diese Interaktionsordnung wird im Kapitel (7) als wenig orientierungsstiftend (d.h. nicht genau zu wissen, wie man sich zu verhalten hat) beschrieben, obgleich sich Interaktionssituationen (Workshops, Demonstrationen, kulturelle Aktivitäten, Info-Stände und informelle Treffen) grob typologisieren lassen. Die Orientierungslosigkeit setzt die Bereitschaft unter den Teilnehmenden frei, interaktiv auszuhandeln, wie man sich in der jeweiligen Situation angemessen zu verhalten hat. Kapitel (8) nimmt sodann das Verstehen im Sinne des Situationsverstehens, des Sprachverstehens und des Inhaltsverstehens in den Blick. Die zahlreichen und aufwendigen Versuche ‚Verstehen‘, insbesondere durch Übersetzung in verschiedene Sprachen sicherzustellen, führen gepaart mit dem gemeinsamen Erleben der Situation zumindest zur Fiktion, sich verstanden zu haben. Sich (inhaltlich) verstanden zu wissen, bildet zugleich die Basis für das Schaffen von Zusammengehörigkeit, deren interaktive Herstellung in Kapitel (9) dargestellt wird. Im Ergebnis zeigt sich ein Zusammengehörigkeitsgefühl auf dem Weltsozialforum, das sich im Abstrakten (einer Verstehensfiktion und Zugehörigkeitssymboliken wie Teilnehmer*innenbadges) begründet und zugleich konkret (gemeinsame Erleben und emotionales Berühren) spürbar wird. Es ermöglicht die Gleichzeitigkeit von Gemeinsamkeit in der Differenz unterschiedlicher Protestanliegen: „Alle kämpfen soziale Kämpfe für eine andere Welt, und alle tun dies auf unterschiedliche Weise.“ (S. 257) Im letzten empirischen Kapitel (10) wird das Weltsozialforum als gelebte alternative Welt betrachtet. Alternativen werden nicht nur vorgestellt und diskutiert, sondern auch umgesetzt, mitgenommen und angepasst. Ferner schafft das Weltsozialforum eine gelebte Globalität, die in ihrer spezifischen Interaktionsordnung eine Struktur für Weltgesellschaft ‚von unten‘ schafft. Diese spezifische Interaktionsordnung besteht darin, dass durch Interaktion dem Zufall eine größere Rolle zukommt: „So ermöglicht es Interaktion, für begrenzte Zeit, an einem umgrenzten Ort, fernab der Alltagswelt der Teilnehmenden, eine gelingende Globalität im kleinen zu erleben – und es ermöglicht, diese Globalität auch nach außen darzustellen.“ (S. 287).
In Kapitel (11) werden die empirischen Ergebnisse zusammengefasst und Schlüsse für weitere im Rahmen der Interaktionssoziologie (z.B. Forschung zur Herstellung und Regeln von Interaktionsordnungen in heutigen, heterogenen Gesellschaften und auf transnationalen Events) sowie der Bewegungsforschung (z.B. Fragen nach der interaktiven Herstellung von kollektiver Identität oder der Ausgestaltung von Interaktion für den Erfolg von sozialen Bewegungen) gezogen. Im Epilog begründet der Autor vor dem Hintergrund seiner Erkenntnisse, dass Interaktion etwas zu leisten vermag (insbesondere allsinnliches Situationsverstehen), das durch elektronische Medien (noch) nicht zu ersetzen ist.
Diskussion
Rainald Manthe liefert mit seiner ethnografischen Studie einen wichtigen Beitrag, der hilft, zu verstehen, wieso Treffen für soziale Bewegungen trotz des hohen Aufwands von solch großer Bedeutung sind. Die empirischen Erkenntnisse sind sehr anschaulich dargestellt, was die Systematisierung der Ergebnisse gut nachvollziehbar macht. Lediglich in Detailfragen ließe sich über die Ergebnisse debattieren. So bezieht sich das Kapitel (10) hinsichtlich der alternativen Praktiken insbesondere auf die Attac-Veranstaltung in Paris und ist begrenzt auf Fragen der Nachhaltigkeit, zu der es einen vermeintlichen normativen Konsens gibt. Meines Erachtens könnte am Beispiel der Verwendung von open source Software im Weltsozialforum beispielsweise der interaktive Umgang mit dem Antagonismus zwischen dem Wissen, was eigentlich die normativ-richtigen Mittel wären und dem, wie tatsächlich Treffen realisiert werden, in den Blick genommen werden. Ein blinder Fleck der Studie ist das Auslassen der informellen Treffen am Abend in den Bars, die wie ein Interviewpartner dieser Studie auch betont, Orte sind, an denen die wichtigsten Entscheidungen getroffen werden (S. 147). Hiervon ausgehend könnte die interaktive Herstellung von sozialen (Beziehungs-)Netzwerken weitergehend untersucht werden, die auch jenseits der Weltsozialforumsevents zusammenarbeiten. So sind es zuletzt auch die etablierten, informellen Beziehungsnetzwerke, die neben der thematischen Strukturierung der Teilnehmenden auf Veranstaltungen sicherlich eine ebenso gewichtige Rolle in der Frage spielen, ob und wo jemand teilnimmt (oder nicht) und wie er/sie sich in den Interaktionen positioniert (Machtverhältnisse). Dass die Arbeit diese Fragen aufwirft, ist jedoch wiederum der stringenten und gut ausgearbeiteten empirischen Analyse zu verdanken, die Anlass gibt für weitere empirische Studien zum Weltsozialforum.
Fazit
Die ethnografische Studie untersucht mit einer interaktionssoziologischen Brille das Weltsozialforum und versucht dabei die Frage zu beantworten, warum sich soziale Bewegungen treffen. Insgesamt vier Leistungen von Treffen für soziale Bewegungen werden herausgearbeitet: das Hervorbringen einer auf Aufmerksamkeit und Offenheit gepolten Interaktionsordnung, die Verstehensleistung, die Herstellung von Zusammengehörigkeit sowie das Schaffen von Inkubatoren einer anderen (gewünschten) Welt. Neben den fruchtbaren Anschlüssen an die Interaktionssoziologie und Bewegungsforschung bietet die Arbeit auch eine interessante methodische Herangehensweise, transnationale Großveranstaltungen mikrosoziologisch in den Blick zu nehmen. Insgesamt ist die Lektüre der Studie ein Gewinn für alle diejenigen, die sich mit sozialen Bewegungen auseinandersetzen und/oder sich mit der Frage beschäftigen, wie globale Phänomene mikrosoziologisch untersucht werden können.
Rezension von
Prof. Dr. Christian Schröder
Professor für Methoden der Sozialen Arbeit an der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes, Fakultät für Sozialwissenschaften
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Zitiervorschlag
Christian Schröder. Rezension vom 17.08.2021 zu:
Rainald Manthe: Warum treffen sich soziale Bewegungen? Vom Wert der Begegnung: interaktionssoziologische Perspektiven auf das Weltsozialforum. transcript
(Bielefeld) 2020.
ISBN 978-3-8376-5616-9.
Reihe: Soziale Bewegung und Protest - Band 4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28605.php, Datum des Zugriffs 05.10.2024.
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