Sophinette Becker: Leidenschaftlich analytisch
Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 30.12.2021
Sophinette Becker: Leidenschaftlich analytisch. Texte zu Sexualität, Geschlecht und Psychoanalyse.
Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2021.
340 Seiten.
ISBN 978-3-8379-3100-6.
D: 34,90 EUR,
A: 35,90 EUR.
Reihe: Beiträge zur Sexualforschung.
Thema
Sophinette Becker beteiligte sich als psychoanalytische Psychotherapeutin und Sexualwissenschaftlerin in unterschiedlichen Funktionen über Jahrzehnte am sexualwissenschaftlichen Diskurs. Die Bandbreite ihrer Themen ist weit, berührt klinische, gesellschaftliche und politische Aspekte wie sexuelle Orientierung, Transgender, AIDS oder Aspekte weiblicher und männlicher Sexualität. Der Band versammelt Texte zu Sexualität, Geschlecht und Psychoanalyse, die verstreut an unterschiedlichen Orten publiziert wurden zu einer Anthologie und will den Beitrag der Autorin so für eine größere Leserschaft erschließen.
Autorin und Entstehungshintergrund
Sophinette Becker, Dr. phil., Dipl. Psych. (1950-2019) war Sexualwissenschaftlerin und psychoanalytische Psychotherapeutin, von 1994 bis 2011 Leiterin der sexualmedizinischen Ambulanz an der Uniklinik Frankfurt. Über viele Jahre wirkte sie als Mitherausgeberin der Zeitschrift für Sexualforschung und arbeitete mehrfach im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung (DGfS).
Aufbau und Inhalt
Der Band versammelt neben einführendem Geleit- und Vorwort sowie einem Editorial der HerausgeberInnen 19 Texte Beckers, die über die letzten Jahrzehnte zwischen 1984 und 2019 verstreut publiziert wurden und für diesen Band in chronologischer Reihenfolge zusammengestellt wurden. Abschließend findet sich ein Verzeichnis der Publikationen von Sophinette Becker sowie ein Verzeichnis mit Drucknachweisen der hier versammelten Texte.
Aus der Bandbreite der Themen, mit denen sich Sophinette Becker als Sexualwissenschaftlerin beschäftigt hat und in Auswahl aus den unterschiedlichen Schaffensphasen, die der vorliegenden Publikation zugrunde liegen, beschränkt sich diese Rezension auf fünf Texte, die beispielhaft für das Gesamtwerk sind. Die Beiträge beschäftigen sich mit den Themen AIDS, der Frage kollektiver Schuld im Kontext der deutschen Wiedervereinigung, dem Phänomen Pädophilie, Überlegungen zum weiblichen Körperselbst und perverser Symptombildung und umfassenden Überlegungen zu Aspekten von Geschlecht und sexueller Orientierung.
AIDS – Die Krankheit zur Wende?
Der Text aus dem Jahr 1985 geht zunächst auf das Auftreten der Erkrankung und die Zuschreibung aus Teilen der Gesellschaft, v.a. der Boulevardpresse an vermeintlich anfällige und moralisch „verwerfliche“ Gruppen, insbesondere homosexuelle Menschen ein. Becker hatte an AIDS erkrankte Patienten im Rahmen ihrer Tätigkeit in einem psychosomatischen Liaison-Dienstes an der Hautklinik Heidelberg betreut und dort direkt von den psychosozialen Problemen der Erkrankten, deren Erfahrungen mit negativen Zuweisungen, Vorurteilen und Verurteilungen (AIDS als „Lustseuche“ oder „Schwulenpest“) erfahren. Die Vorurteile zogen sich, so ihre damalige Beobachtung, auch in den medizinischen Sektor, etwa durch Formulierungen in Arztbriefen, denen eine moralisch-abwertende Haltung zugrunde lag, daneben Abwehr und Ablehnung den Patienten gegenüber, wie in einem Fallbeispiel ausgeführt wird. Daneben analysiert der Text die Unsicherheit des medizinischen Personals im Umgang mit einer -damals- neuen und potenziell gefährlichen, tödlich verlaufenden und als potenziell hoch ansteckend eingeschätzten Erkrankung. Zusätzlich bestanden in der damaligen Situation Selbstzuschreibungsprozesse der Erkrankten, die das Schicksal der Infektion eng mit dem eigenen Lebensstil, der sexuellen Orientierung etc. verknüpft sahen, also
Schuld- und Schamgefühlen, die durch das damalige gesellschaftliche Klima noch bestärkt wurden. Becker diagnostizierte „schwere Über-Ich-Konflikte und Schuldgefühle wegen der eigenen Homosexualität … die jetzt ihr Ventil in AIDS fanden“ (42). Hinsichtlich des gesellschaftlichen Hintergrunds des Zeitpunkts als AIDS auftrat, verweist Becker auf eine zunehmend von sozialen und ökonomischen Krisen und Umweltzerstörung geprägten Welt, welche AIDS als Projektionsfläche für die damit verbundene Unsicherheit und erlebte Ohnmacht benutzte. AIDS sei in diesem Kontext als „innerer Feind“ (43) der Gesellschaft, der als Ausdruck eines zersetzenden Lebensstils bekämpft werden müsse, wahrgenommen worden und auch als Abwehr eigener Verunsicherungen und Problemen der „gesunden Gesellschaft“. Becker fordert als Konsequenz ihrer Analyse die optimale Versorgung der Kranken, die Entpolitisierung und Entmoralisierung des Diskurses um das Phänomen AIDS, die Intensivierung von Forschung und Aufklärung der Gesamtbevölkerung.
Die Wiedervereinigung der Schuld
Zum Zeitpunkt des Erscheinens des gemeinsam mit dem Heidelberger Psychoanalytiker Hans Becker verfassten Artikels lag die „Deutsche Wiedervereinigung“ noch keine zwei Jahre zurück. Der Text analysiert den Prozess der Wiedervereinigung. Diese sei eine Begegnung, Auseinandersetzung und Aneignung zwischen unterschiedlichen Kräften gewesen, nicht auf Augenhöhe erfolgt, sondern als Übernahme, manchmal freundlich, oft feindlich. Die Wiedervereinigung war, so Becker, die Chance für eine Aufarbeitung der historischen Schuld des Nationalsozialismus, welche nicht genutzt wurde. Stattdessen stand die Abwicklung ökonomischer und soziokultureller Strukturen im Vordergrund, ein Akt der inneren Abwehr von Schuldgefühlen gegenüber denen im „anderen Deutschland“. Der Prozess der Anerkennung, Benennung und Verarbeitung (so eine solche überhaupt möglich erscheint) hat „bekanntermaßen in der BRD mehrheitlich nie stattgefunden; dem bewussten Nicht-wahrhaben-Wollen folgte dann Verleugnung, unterstützt durch Entlastungsvorstellungen (nur aus Angst beteiligt, nichts gewusst, nur gehorcht etc.)“ (99). Die Verarbeitung von Scham, Schuldgefühlen und Trauer blieb aus und stößt im Prozess der Wiedervereinigung an einen anderen Umgang, auf eine andere Form der Abwehr in der ehemaligen DDR und erneut kommt es nicht zur Integration dieser Prozesse, sondern zu Abspaltung, entsprechenden Konflikten und Zuweisungen. Die Wahrnehmung „der DDR-Bürger“ erscheint dabei als historische Wiederholung: „alle“ waren Opfer eines Unrechtsstaates, unterjocht, ausgebeutet und gesteuert. „Alle“ haben versucht, irgendwie zu überleben. „Dabei spielte der jeweils andere deutsche Staat als Projektionsfläche für abgespaltene Selbstanteile eine wichtige Rolle … Auf diesem Hintergrund kann man die jetzige Diskussion um die Stasi-Vergangenheit immer auch als latenten Diskurs über die NS-Vergangenheit lesen und entsprechende Abwehrvorgänge beobachten“ (102). Die Darstellung des Mauerfalls als Ergebnis einer erfolgreichen friedlichen Revolution analysiert Becker als „Geschichtsverfälschung“ dar (105). Sicher seien über viele Jahre oppositionelle Gruppen am Prozess beteiligt gewesen, zentraler Wirkfaktor sei allerdings der Zerfall der Sowjetunion gewesen. „Nur die eindeutige Erklärung der Sowjetunion, nicht militärisch zu intervenieren … ermöglichte die Demokratisierung. Für die Bevölkerung ergab sich so ein Dilemma, indem die für Selbstwirksamkeit so wichtige Triebfeder des Aufstands und der Gegenwehr gegen den Staat abgesprochen wurde. Eine Reaktionsform war die Verklärung der potenziellen Widerstandsformen und zeitlichen Abläufe: „Der Zeitpunkt der eigenen Beteiligung am Protest wird ständig rückdatiert, obwohl die Ziele der ersten Proteste in der DDR gar nicht die eigenen waren“ (106), eine klassische Selbstüberhöhung, Aufwertung oder Idealisierung der eigenen Handlung, des Ich. Die Scham über die eigene Bedeutungslosigkeit habe sich in einer übersteigerten Aggression gegen die ehemaligen Funktionäre und Lakaien in SED und Stasi entladen. Letztlich ergibt sich aus dem historischen Prozess der Wiedervereinigung eine historische Aufgabe: „Es ist zu hoffen, dass im Umgang mit der DDR-Vergangenheit auf die Dauer weniger Denunziantentum … im Vordergrund steht, sondern Zeugenschaft, das heißt Aufdecken und Dokumentieren im Sinne der Anerkennung der Wirklichkeit … und das kann nur ein gemeinsamer Prozess von DDR und BRD sein“ (110).
Pädophilie zwischen Dämonisierung und Verharmlosung
Becker führt zu Beginn ihres 1997 veröffentlichten Textes aus, dass Pädophilie innerhalb der Sexualwissenschaft ein vernachlässigtes Thema sei, gleichzeitig sei das Thema gesellschaftlich höchst brisant, geprägt von Schuldzuweisung, Dämonisierung und Abwertung. Becker mahnt eine sachliche Auseinandersetzung mit dem Thema an, zeichnet den Weg der Reform des Sexualstrafrechts in der – damals noch jungen – BRD nach und verortet den Umgang der Gesellschaft mit der Pädophilie im herrschenden soziokulturellen Klima einer insgesamt unbefreiten Sexualität, die eine angemessene Auseinandersetzung mit Pädophilie und Pädosexualität verhinderte. Pädophilie selbst erklärt Becker (mit Rückgriff auf Dannecker, 1987) als Ungleichzeitigkeit, als Dilemma (der Pädophilen), deren erwachsenes Begehren auf eine kindliche Sexualität trifft, dem das erwachsene Objekt „aufgedrängt wird“ (117). Pädophil kann nur ein Erwachsener sein, eine gleichberechtigte sexuelle Begegnung ist unmöglich, das Wesen des pädophilen sexuellen Kontakts ist geprägt durch Umdeutungen und Idealisierungen der erwachsenen Akteure. Aus therapeutischer Sicht (und Becker hat mit pädophilen psychotherapeutisch gearbeitet) bleiben Männer (pädophile Frauen waren im damaligen Diskurs auch bei Becker noch nicht erfasst), die in Wahrnehmung ihrer erotischen und Beziehungsbedürfnisse verstört sind und keinen Ausweg aus ihrem Dilemma sehen. Becker betont hier, dass die Gruppe der „Kernpädophilen“ Menschen, also derjenigen, die in ihrer Sexualität ausschließlich auf vorpubertäre Kinder fixiert sind, äußerst gering ist, woraus sich eine Reihe therapeutischer Strategien ergibt. In Abgrenzung zur Pädophilie beschreibt der Text das Problem des sexuellen Kindesmissbrauchs, ein Deliktbereich, der weit weniger von pädophilen Tätern begangen wird, sondern i.d.R. durch Personen, denen es um sexualisierte Macht geht, das kindliche Objekt dabei als ideales Opfer erscheint, das leicht zu manipulieren und auszubeuten ist. Im Weiteren erfasst der Text die frühen Arbeiten Krafft-Ebings (1901), dessen Typenbildungen und Überlegungen zur strafrechtlichen Einordnung und kritisiert abschließend die Verteufelung und Verfolgung der Pädophilen als Verdrängungsphänomen psychosozialer und gesellschaftlicher Aspekte.
Das weibliche Körperselbst und die Perversion
Der heute 16 Jahre alt Text greift das Phänomen der Zuschreibung perverser Symptombildung an Männer als unvollständige Wahrnehmung der realen Verhältnisse auf. Männer externalisieren ihre inneren Spannungszustände, die sich aus Bedürfnislage, Verwirklichungschancen und der draus ergebenden Dynamik entwickeln stärker bzw. anders als Frauen. „Perversionen bei Frauen wurden nicht erkannt, weil sie am falschen Ort gesucht wurden, das heißt ohne Berücksichtigung der Bedeutung der eigenständigen weiblichen Körperverfahrung für die psychosexuelle Entwicklung der Frau“ (179). Ausgehend vom Freudschen Konzept der perversen Symptombildung und der Funktion der Perversion als narzisstische Plombe, die das Ich vor Desintegration schützt, arbeitet sie die Spur psychoanalytischer Theoriebildung als männlichkeitszentrierte Fehlentwicklung auf. Männer haben – in dieser Theorie – perverse Symptome, Frauen nicht. Die entsprechenden Belege dafür finden sich u.a. im Strafrecht, dort war z.B. die männliche Homosexualität unter Strafe gestellt, lesbische Handlungen indes nicht. Exhibitionismus wurde in der Strafpraxis fast ausschließlich im Zusammenhang männlichen Verhaltens abgeurteilt, andererseits als „normales Verhalten“ (180) bei Frauen interpretiert. Geschlecht erscheint auch aus diesem Blickwinkel als sozial konstruiert, hier in der Lesart psychoanalytischer Theorien, etwa in Freuds „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“. Becker fächert i. W. die zentralen Forschungsbefunde der Psychoanalyse mit Verweis auf die entsprechenden Literaturstellen auf, um darauf aufbauend die Weiterentwicklung im psychoanalytischen Diskurs, z.B. durch die Arbeiten Louise Kaplans (1991) zur weiblichen Perversion nachzuzeichnen. Solche Konzeptionen zur weiblichen Perversion definieren diese als „Dysfunktion des sexuellen Teils der Persönlichkeitsentwicklung mit einer Spaltung in genitale Sexualität und in etwas, das nur den Anschein von Sexualität hat und gänzlich prägenitalen, vor allem aggressiven Zielen dient“ (186). Perversion erscheint hier in einem gänzlich anderen, neuen Zusammenhang, etwa als Umkehr eines infantilen Traumas, das die kindliche Geschlechtsidentität angreift und sich später in der (erwachsenen) Symptombildung abbildet. Als Beispiele der Manifestation weiblicher Perversion beschreibt der Text auch anhand von Fallvignetten die Bereiche („Orte der Manifestation“ 188) als „Perverse Mütterlichkeit“ (im Zusammenhang mit Manipulations- und Missbrauchsverhalten) und die „klassischen Perversionen bei Frauen“ (195), etwa Exhibitionismus oder sadomasochistische Perversionen. In ihrem Fazit formuliert Becker die Bedeutung ihrer Ausführungen für die psychotherapeutische Praxis, vor allem bezogen auf das Symptomverständnis der Perversion als Geschlechtsidentitätsproblem.
Geschlecht und sexuelle Orientierung in Auflösung
Einer der letzten Texte Sophinette Beckers (erschienen im Sterbejahr 2019) ist die Verschriftlichung ihres Abschluss(vortrags) einer Tagung zur „(Homo)Sexualität und Psychoanalyse“. Ausgehend von drei kurzen Fallskizzen (die aus der Arbeit in Workshops und im therapeutischen Einzelsetting stammen) illustriert Becker die aktuellen Diskurse und Praxen über die Geschlechterdifferenz, welche längst nicht mehr bei „weiblich“ und „männlich“ stehen bleibt, sich dort aufhält, sondern unter dem Begriff der „Queeren Identität“ neue, unabhängige und nicht festgeschriebene Formen sexueller Identität und Praxis gebildet hat. Becker sieht diese Entwicklung, bzw. den aktuellen Status im Kontext ihrer Grundannahmen, das Geschlecht u.a. nicht als ausschließlich determiniert, sondern immer auch symbolisch konstruiert wahrnimmt und Geschlechtsidentität sowohl als Ergebnis des komplexen Zusammenwirkens körperlicher, seelischer und sozialer Faktoren, als auch als Ergebnis psychischer Abwehr- und Integrationsleistungen auffasst; beides Vorgänge, die einen „lebenslangen Prozess von Identifikationen und Trennungen“ (298) bedeuten. Der Text fordert die – überfällige – Auseinandersetzung der Psychoanalyse mit den „neuen“ Gendertheorien“, um die Kritik der Gender- und Queertheorien aufzunehmen, um selbstverständliche (überkommene) Annahmen über „die“ Frau und „den“ Mann, oder „den Homosexuellen“ zu hinterfragen und Mythen zu dekonstruieren. Mit einem solchen Diskurs wäre auch der drohenden „Transphobie“, welche sich abzeichne, welche die Wiederkehr bzw. Wiederholung der (immer noch) weit verbreiteten Homophobie bedeute, zu begegnen. „Wenn die Psychoanalyse in Bezug auf Transidentität nicht alle Fehler wiederholen will, die sie bei der Homosexualität gemacht hat, müsste meines Erachtens umgehend erst mal eine gründliche Auseinandersetzung mit den bisher vorliegenden psychoanalytischen Beiträgen zu Transsexualität/Transidentität stattfinden … Es müsste auch diskutiert werden, ob es zulässig ist, Homosexualität und Transidentität zu parallelisieren“ (304).
Zielgruppe des Buches
LeserInnen mit Interesse am psychoanalytischen Diskurs um gesellschaftliche und sexualwissenschaftliche Phänomene.
Diskussion
Die Texte Sophinette Beckers bereicherten über Jahrzehnte den sexualwissenschaftlichen und psychoanalytischen Diskurs, oft, weil sie verborgene Aspekte, nicht wahrgenommene Phänomene, „Vergessenes“ zum Gegenstand ihrer Betrachtung und Analyse gemacht hat. Wer ihre Art zu denken und zu reden einmal im Vortrag erlebt hat, wird vieles davon in der hier zusammengetragenen, gründlich -und liebevoll- editierten Publikation wiederfinden. Beim Lesen der einzelnen, auch älteren Texte, besticht deren Aktualität, z.B. im Kontext der Analysen zu HIV/Aids und der gegenwärtigen Covid-Pandemie. Die Begegnung mit einem unbekannten, gefährlichen Phänomen adressiert (damals wie heute) unbewusste Zuschreibungs- und Abwehrmechanismen, deren Aufdeckung zur Bewältigung der Krise beitragen können.
Sophinette Becker kann als Vertreterin einer kritischen Psychoanalyse bezeichnet werden, eine Haltung, die sich auch auf den eigenen disziplinären Hintergrund, die Psychoanalyse richtet. Hinweise dazu finden sich in fast allen Beiträgen, wobei es bei Becker nie bei reiner Kritik bleibt, sondern neue Entwicklungen in der Theoriebildung aufgegriffen und hinsichtlich Stimmigkeit und Ertrag hinterfragt werden. Solche Spuren finden sich etwa im Beitrag zur „Wiedervereinigung der Schuld“, wo auf die Notwendigkeit der Benennung von Realität als Ergänzung psychoanalytischer Deutung i. S. einer psychoanalytischen Antwort hingewiesen wird, eine Intervention aus der analytisch-interaktionellen Psychoanalyse (Heigel-Evers & Ott 1995),
Deutlich wird in fast allen Texten die (sozial)politische Relevanz der Arbeiten Sophinette Beckers etwa im Kontext ihrer Arbeiten zur Pädophilie, wo eine sachlich-verstehende Haltung jenseits von Dämonisierung oder Verharmlosung angemahnt wird. Becker geht es immer um den Menschen und sein Leid, um die Wahrnehmung psychischer und psychosozialer Anstrengung, um die individuellen Versuche der Bewältigung und deren Umsetzungen auf der sozialen Bühne. Individuelle Probleme sind in diesem Verständnis immer auch Verweise auf die Dynamik unserer Gesellschaft.
Im Kontext der heute – nun endlich – stattfindenden Debatte um weibliche Täterschaft, die Entdeckung der pädophilen Frau etc. erscheinen die Arbeiten Beckers als Voraussetzung, sind Grundlage und door-opener für längst überfällige Analysen und Zugangswege im Störungsverständnis, in der Therapie und auch in der Gestaltung gesellschaftlicher Praxen.
Fazit
Eine wichtige Textsammlung, welche die jahrzehntelange Arbeit, die kritischen Analysen Sophinette Beckers versammelt und einer breiteren LeserInnenschaft zugänglich macht. Die Analysen zu männlicher, weiblicher und queerer Identität, Pädophilie, dem Prozess der Deutsch-Deutschen Wiedervereinigung oder dem Umgang mit Bedrohungsszenarien treffen den Kern klinischer, gesellschaftlicher und politischer Phänomene. Den HerausgeberInnen und dem Verlag gebührt großer Dank für die umsichtige Zusammenstellung und Neuveröffentlichung der zentralen Arbeiten Sophinette Beckers.
Literatur
Dannecker, M. (1987). Bemerkungen zur strafrechtlichen Begutachtung der Pädosexualität. In H. Jäger & E. Schorsch (Hrsg.), Sexualwissenschaft und Strafrecht. Beiträge zur Sexualforschung, Bd. 62. Stuttgart: Enke
Heigl-Evers, A. & Ott, J. (1995) (Hrsg.). Die psychoanalytisch-interaktionelle Methode. Theorie und Praxis. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
Kaplan, L. (1991). Weibliche Perversion. Von befleckter Unschuld und verweigerter Unterwerfung. Hamburg: Hoffmann und Campe
Krafft-Ebing, R. (1901). Psychopathia sexualis. 11. Auflage. Stuttgart: Enke
Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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Es gibt 177 Rezensionen von Gernot Hahn.
Zitiervorschlag
Gernot Hahn. Rezension vom 30.12.2021 zu:
Sophinette Becker: Leidenschaftlich analytisch. Texte zu Sexualität, Geschlecht und Psychoanalyse. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2021.
ISBN 978-3-8379-3100-6.
Reihe: Beiträge zur Sexualforschung.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28609.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.
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