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Heiko Kleve, Steffen Roth u.a. (Hrsg.): Lockdown

Rezensiert von Prof. Dr. Annemarie Jost, 19.07.2021

Cover Heiko Kleve, Steffen Roth u.a. (Hrsg.): Lockdown ISBN 978-3-8497-0367-7

Heiko Kleve, Steffen Roth, Fritz B. Simon (Hrsg.): Lockdown. Das Anhalten der Welt: Debatte zur Domestizierung von Wirtschaft, Politik und Gesundheit. Carl Auer Verlag GmbH (Heidelberg) 2020. 215 Seiten. ISBN 978-3-8497-0367-7. D: 19,95 EUR, A: 20,60 EUR.
Reihe: Systemische Horizonte.

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Thema und Zielgruppe

 Das Buch gibt eine von Heiko Kleve moderierte Debatte um die Folgen der Corona Pandemie mit systemtheoretischen Perspektiven auf Politik, Gesellschaft und Wirtschaft zwischen Steffen Roth und Fritz Simon wieder, die von April bis Juni 2020 geführt und auf der Webseite des Carl-Auer Verlages zu lesen war (und zum Zeitpunkt der Entstehung dieser Rezension noch zu lesen ist). Neben den Hauptdiskutanden finden sich noch Zwischenrufe anderer Autor*innen aus unterschiedlichen Perspektiven und ein bewertendes Nachwort von Bernhard Pörksen. Das Buch richtet sich an systemtheoretisch Interessierte Leser*innen.

Autor*innen

Heiko Kleve ist Inhaber des Stiftungslehrstuhls für Organisation und Entwicklung von Unternehmerfamilien an der Universität Witten/​Herdecke und hat zahlreiche Publikationen zu systemisch konstruktivistischer und postmoderner Theorie und Praxis in den Sozialwissenschaften veröffentlicht. Steffen Roth ist Full Professor für Management an der La Rochelle Business School, Frankreich, und Adjunct Professor für Wirtschaftssoziologie an der Universität Turku, als Autor ist er hauptsächlich in internationalen Fachzeitschriften (z.B. im Bereich des Change Managements) aktiv. Fritz Simon ist Professor für Führung und Organisation am Institut für Familienunternehmen der Universität Witten/​Herdecke und als Systemischer Organisationsberater, Psychiater, Psychoanalytiker und systemischer Familientherapeut sowie als Autor von zahlreichen Büchern und Fachzeitschriftenartikeln in Erscheinung getreten. Das Nachwort wurde von dem bekannten Tübinger Professor für Medienwissenschaften Bernhard Pörksen verfasst. Darüber hinaus gibt es kürzere Zwischenrufbeiträge von Stefan Blankertz, Franz Hoegl, Michael Hutter, Claudia Kemfert, Günter Lierschof, Peter Pantuček-Eisenbacher, Birger P. Priddat, André Reichel und Antje Tschira.

Aufbau 

Das Buch besteht aus 20 Abschnitten, die jeweils mit typischen Zeitungsüberschriften der Tage vor den Debatten (26.4.2020 bis 30. Juni 2020) beginnen und dann von Heiko Kleve eingeführt und anmoderiert werden. Danach melden sich in allen Abschnitten ausführlich Steffen Roth und Fritz Simon, sowie in mehreren Abschnitten in der Buchmitte auch kurz die anderen Zwischenrufer*innen zu Wort. Das letzte Wort hat Bernhard Pörksen mit dem Titel „Das Aushalten der Welt“. Die Abschnitte thematisieren beispielsweise das Anhalten der Welt, die Organisation gesellschaftlicher Aufgaben, das Verhältnis von Politik und Wirtschaft, Verschwörungserzählungen, Werte und Moralisierung, den Umgang mit dem Tod, die Zukunft (neue Normalität/andere Gesellschaft) und die Verantwortung der Systemtheorie bzw. die Rolle der Wissenschaft.

Inhalt

Die Positionen von Fritz Simon und Steffen Roth unterscheiden sich sehr deutlich. Während Fritz Simon die Chance in der gegenwärtigen Krise darin sieht, dass die Politik nach einer Selbstkastrierung durch weitreichende Privatisierungen wieder in die Verantwortung geht, kann Steffen Roth darin weder Chance noch ein Novum erkennen, denn er ist der Auffassung, dass Politik einmal mehr den Vorrang vor allen anderen Funktionssystemen beanspruche und dass der Politik mehr reflexive Bescheidenheit guttäte. Auch die Wissenschaft sei gut beraten, nicht auf Autorität und „Sonntagsevidenz“, sondern mehr auf Theorie und Methode zu setzen.

Im Abschnitt „Organisation gesellschaftlicher Aufgaben“ stellt Fritz Simon heraus, dass „zunehmend Vertreter von Wirtschaftsverbänden als Leiharbeiter in Ministerien Gesetzentwürfe formulieren“ (S. 23) und prangert die Einflussnahme von Lobbyisten auf politische Entscheidungen an, andererseits sieht Steffen Roth gerade die Gefahr der politischen Überbeobachtung der anderen Funktionssysteme und der Gefügigmachung von Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur mit Hilfe von finanziellen Zuwendungen.

Der Sozialwissenschaftler und Philosoph Stefan Blankertz analysiert den Machtkampf zwischen Interessengruppen und die Tendenz des Staates, mit kollektiv bindenden Entscheidungen die gesellschaftliche Selbstorganisation zu beeinflussen. Dies genau sei die Funktion des Staates – so Fritz Simon – sich dem paradoxen Gerangel der gesellschaftlichen Interessengruppen zu stellen, während Steffen Roth eher die Machtlosigkeit von Nationalstaaten angesichts globaler Konkurrenzkämpfe herausstellt.

Der Streit spitzt sich zu. Steffen Roth fordert die Befreiung von feudalen Strukturmustern und mittelalterlichen Eindämmungsmaßnahmen und bringt sogar ins Gespräch, dass es sich angesichts der hohen Abhängigkeit von Simulationen auch um eine „Fake Crisis“ handeln könnte. Daher kritisiert er die Diskreditierung gegnerischer Positionen als Verschwörungstheorie; er argumentiert, dass die Lösung darin bestehen könne, dass Politik die eigenen Methoden und Grundlagen der Entscheidungsfindung völlig transparent offenlege und nicht nur auf die lautesten „Stakeholder“ höre, sondern systematisch auf jene, die in wechselnden Situationen systemrelevant seien. Fritz Simon wiederum stellt heraus, dass sich in der Logik von Verschwörungstheorien regressive, populistische Freund/​Feind Unterscheidungen bilden und dass die Dialogfähigkeit angesichts der Kopplung mit negativen Affekten oft nicht mehr gegeben sei. Die rasch getroffenen staatlichen Lockdown-Maßnahmen hält er für sehr zielführend.

Im weiteren Verlauf geht es um die Umsteuerung der Gesellschaft in Richtung Nachhaltigkeit. Claudia Kemfert hinterfragt das ungezügelte Wirtschaftswachstum und den Konsumwahn, während Steffen Roth kritisch einwirft, dass der Umweltbegriff komplex und das sozialwissenschaftliche Wissen nicht auf der Höhe der Zeit sei und man gerne auf konfrontative Moralkommunikation zurückgreife. Fritz Simon mahnt zur Bescheidenheit und wünscht sich an Stelle positiv definierter Utopien (die historisch zu totalitären Systemen geführt hätten) eher Debatten darüber, in welcher Gesellschaft wir nicht leben wollen. Er unterscheidet zwischen Moral als Definition der Regeln/​Bedingungen der Kommunikation von Achtung/​Missachtung und Moralkommunikation als Zeigen von Achtung/​Missachtung gegenüber konkretem Verhalten.

Des Weiteren wird über die paradoxe Organisation sozialer Systeme debattiert, dass Entscheidungen für ein Subsystem rational, richtig oder moralisch gut sein könnten, während sie dies für ein anderes Subsystem nicht seien, sodass sich in einem funktional differenzierten Gesellschaftssystem Paradoxien entfalten. Steffen Roth beobachtet ein Umschalten von Integration auf Differenz.

Im Abschnitt über den Tod geht es einerseits um den Umgang mit dem „Unverfügbaren“, um die notwendigen Freiheitseinschränkungen und andererseits auch um die Grenzen des Rechts auf „Überleben einer Krankheit oder einer natürlichen Lebensspanne“.

Die gemeinsame Aufmerksamkeitsfokussierung und der dadurch beeinflusste Fluss der sozialen Energien – national und global ist ein weiteres Thema der Debatten. Am Ende geht es noch um die Verantwortung der Systemtheorie und die Herstellung von Transparenz der eigenen Theoriearchitektur sowie andererseits um Notwendigkeiten des schnellen Handelns in der Krise.

Diskussion

Am Ende gibt Bernhard Pörksen eine dezidierte Bewertung ab. Er konstatiert neben seiner Wertschätzung für die Debatte: „Aber es hat mich doch auch, und das will ich nicht verhehlen, erschreckt, dass auch in diesem Buch der Analyse gleich in mehreren Beiträgen die Eskalationsthese einer Gesundheitsdiktatur auftaucht“ und kritisiert die Verwendung von „Erkennungsvokabeln“ eines verschwörungstheoretischen Milieus. Ich frage mich hier, ob die Leser*innen in dieser Weise am Ende beim Lesen „betreut“ werden müssen oder ob sie nicht vielmehr eine eigene Einordnung von benutzten Begriffen vornehmen können. Demgegenüber führt Heiko Kleve die Debatten sehr dialogorientiert ein, sodass ein vielschichtiger Argumentationsraum entsteht und deutlich wird, dass man auch aus systemtheoretischer Ausgangsperspektive im Zuge der Coronamaßnahmen zu sehr unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen kann. Bei den an Luhmann angelehnten gesellschaftlichen Funktionssystemen: Politik, Wirtschaft, Rechtssystem, Wissenschaft, Erziehung, Religion, Kunst und Gesundheitssystem kam bei mir die Frage auf, ob man nicht auch auf die Verflechtungen zwischen Militär und Politik, Wirtschaft, Gesundheit und Wissenschaft hätte eingehen können, denn angesichts von Health Security Agenden der WHO, weltweit etablierten Surveillance Architekturen und virologischer Gain of Function Forschung mit militärischer Bedeutung scheint mir das Militär in der Debatte unterbelichtet worden zu sein.

Fazit

Das Buch spiegelt eine systemtheoretisch untermauerte Debatte über die Gesellschaft im Lockdown vom Frühjahr/Frühsommer des Jahres 2020 wider und regt durch wildes und weniger wildes Denken zu einer umfassenden Reflexion des gesellschaftlichen Geschehens und der politischen Einflussmöglichkeiten während der Pandemie an.

Rezension von
Prof. Dr. Annemarie Jost
Professorin für Sozialpsychiatrie an der Fakultät 4 der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg
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Es gibt 138 Rezensionen von Annemarie Jost.

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Zitiervorschlag
Annemarie Jost. Rezension vom 19.07.2021 zu: Heiko Kleve, Steffen Roth, Fritz B. Simon (Hrsg.): Lockdown. Das Anhalten der Welt: Debatte zur Domestizierung von Wirtschaft, Politik und Gesundheit. Carl Auer Verlag GmbH (Heidelberg) 2020. ISBN 978-3-8497-0367-7. Reihe: Systemische Horizonte. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28614.php, Datum des Zugriffs 29.03.2023.


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