Dietmar Heubrock, Carina J.M. Englert: Gewalt gegen Einsatzkräfte
Rezensiert von Prof. Dr. Carl Heese, 06.09.2021
Dietmar Heubrock, Carina J.M. Englert: Gewalt gegen Einsatzkräfte. Maßnahmen zur Deeskalation von Konflikten im Lösch- und Rettungsdienst. Verlag für Polizeiwissenschaft (Frankfurt am Main) 2021. 58 Seiten. ISBN 978-3-86676-690-7. D: 19,80 EUR, A: 20,40 EUR.
Autor
Dietmar Heubrock ist Psychologe an der Universität Bremen und ein bekannter Spezialist für Themen der Rechtspsychologie. Carina Englert hat zum Thema des Bandes im Fach Psychologie promoviert.
Entstehungshintergrund
Die Schrift ist in der Reihe ‚Polizeipsychologische Praxis‘ erschienen. Diese hat sich zum Ziel gesetzt, psychologisches Wissen für den Alltag von Einsatzkräften in einer praktikablen Form aufzubereiten.
Aufbau und Inhalt
Die Einleitung berichtet anhand von Zeitungsberichten über das relativ neue Phänomen der Tätlichkeiten gegen Einsatzkräfte. Allgemeine Befunde seien in diesem Bereich noch recht rar, einiges werde aber inzwischen klarer.
Eine Zusammenschau der bekannten Fakten zum Phänomen bietet dann Kapitel I. Hier werden vor allem Befunde aus einer Studie des Kriminologen Thomas Feltes von 2018 berichtet. Es werden Häufigkeiten für die verschiedene Formen von verbaler, non-verbaler und von körperlicher Gewalt wiedergegeben. Der typische Täter wird als jung, männlich und unter Alkohol- bzw. Drogeneinfluss stehend charakterisiert. In über zwei Dritteln der Fälle ist ein Angriff nicht vorhersehbar. In 90 Prozent sind die Täter Männer, ein Migrationshintergrund ist dabei nicht mit einer erhöhten körperlicher Gewaltbereitschaft verbunden. Vor Feuerwehr und Polizei treffen die Attacken am häufigsten die Rettungskräfte.
Kapitel II beschreibt eine unzulängliche Vorbereitung der Einsatzkräfte und referiert Wünsche zu Fortbildungen im Bereich Selbstverteidigung oder Deeskalation. Der ambivalente Nutzen von sicherheitsrelevanter Schutzausrüstung wird diskutiert. Die Entwicklung der Prävention wird durch eine geringe Bereitschaft der Einsatzkräfte zur Meldung von Übergriffen erschwert. Dabei konnte etwa die Einführung des Meldebogens ‚Gewalt gegen Einsatzkräfte‘ bei der Feuerwehr Bremen die Situation deutlich verbessern.
Kapitel III beginnt mit der Vorstellung mehrerer Strukturierungsversuche für Gefährdungslagen. Das „Aachener Modell“ unterscheidet vier Eskalationsstufen, die Statusmeldungen im Funkverkehr kennzeichnen neun Prozessabschnitte im Rettungseinsatz. Auch die Kombination der beiden Ansätze ermöglicht eine übersichtliche Strukturierung des Geschehens.
Im Anschluss werden die Wirkungen von Alkohol und Drogen erläutert. Prozesse der Enthemmung oder eine veränderte Wahrnehmung können die Gewaltbereitschaft mancher Konsumenten erklären. Für die Akteure vor Ort ist die Unterscheidung hilfreich: Amphetamine bewirken ein Weitstellen der Pupillen, Opiate das Gegenteil, Cannabiskonsum kann mitunter an kleinen Einblutungen in der Bindehaut erkannt werden. Die Analyse von Berichten von Übergriffen zeigt die Bedeutung von Distanzunterschreitungen und Kommentaren von Angehörigen oder Passanten als signifikante Hinweise im Vorfeld von Gewaltausübungen, bei Patienten ist es die oppositionelle Haltung gegen die Behandlung.
Die Erkenntnisse werden in ein Sicherungskonzept zum Eintreffen am Einsatzort zusammengeführt. Es enthält eine Sequenz mit visuellem Gefahren-Scanning, mit dem Wegräumen oder Beobachten von gefährlichen Gegenständen und mit dem Einwirken auf die Umstehenden durch einen Akteur, während der andere die Rettungsarbeit aufnimmt. Dabei hat im Einsatz die Eigensicherung immer Vorrang, dazu dient auch eine unmissverständliche Kommunikation und das Einüben des taktischen Rückzugs, der psychologisch schwierig ist, da er für viele Rettungsdienstmitarbeiter der Berufsehre widerspricht. Besonderen Wert haben zudem die Verwendung von Sicherheitscodes und ein taktischer Umgang mit dem Raum am Einsatzort nach dem militärischen Konzept des ‚Guardian Angel‘.
In Kapitel IV werden Fortbildungsfragen thematisiert. Die Unvorhersehbarkeit von Übergriffen, die auch für erfahrene Mitarbeiter gilt, erfordert ein Problembewusstsein, das durch Fortbildungen kontinuierlich hochgehalten werden muss. Dabei besteht die Hoffnung, durch mentale Vorbereitung die körperlichen, aber auch die psychischen Folgen von Übergriffen besser vorzubeugen oder zu verarbeiten. Beispiele dafür liefern das dreitägige Einsatztraining der Autoren mit aufwändigen Rollenspielen für die Berufsfeuerwehr Bremen sowie eine vierstündige Kurzschulung oder eine eintägige Bildungsveranstaltung, deren Programme detailliert vorgestellt werden. Das dreitägige Training wurde von den Autoren auch relativ aufwändig evaluiert. Neben Abfragen bei den Teilnehmern wurden auch Speichelcortisol-Messungen und Auswertungen von Videoaufzeichnungen bei Simulationsübungen durchgeführt. So konnten eine höherer Handlungssicherheit, ein niedrigerer Anstieg der Stresshormone und der Einsatz von sicherheitsorientierten Verhaltensweisen in der (simulierten) Praxis als Trainingsergebnisse aufgezeigt werden.
Der Ausblick fast wesentliche Ergebnisse der Darstellung noch einmal zusammen und formuliert auch einen Bedarf an strukturellen Änderungen für die Einsätze. So wird eine Verstärkung der Besatzung der Rettungswagen auf drei Mitarbeiter als notwendig erachtet. Als vorläufige Lösung wird eine Videoüberwachung der Einsätze empfohlen. Weitere Desiderate sind eine Verbesserung der psychosozialen Nachsorge mit Einsatznachbesprechungen sowie ein Meldeverfahren, bei dem auch Konsequenzen bis hin zur strafrechtlichen Verfolgung von Angreifern erfahrbar werden.
Diskussion
Das Heft folgt dem Programm der Reihe in überzeugender Weise. Es bringt die Wissenschaft und die Praxis bündig zusammen. Der Ansatz ist durchweg pragmatisch, die Auswahl an wissenschaftlichem Kontextwissen und aktuellen Untersuchungen orientiert sich relativ eng an dem Problem der Gewalt bei Rettungseinsätzen. Die Aufbereitung ist wissenschaftlich, aber auch didaktisch vereinfachend in einer vertretbaren Weise. Der inhaltliche Bogen von der Problembeschreibung im Alltag und dann in der Wissenschaft über die Entwicklung von präventiven Strategien bis zur Implementierung und Evaluation ist einfach, klar und überzeugungsstark. Die Darstellung ist sehr leserfreundlich.
Auch in der Sozialen Arbeit gibt es ‚brenzlige Situationen‘, in welchen man von den Überlegungen in dem vorliegenden Heft zur Arbeitssicherheit, zur präventiven Stressimpfung und zur Burnout-Prophylaxe direkt profitieren kann. Zusätzlich kann man überlegen, ob ein konzentriertes pragmatisches Aufarbeiten von Wissensbeständen zu Detailproblemen der Praxis nicht auch der Sozialen Arbeit sehr gut täte.
Dem vorliegenden Band täte schließlich noch eine etwas aufwändigere Ausstattung gut. Das Fotomaterial ist durchweg unterbelichtet, etwas mehr redaktionelle Betreuung hätte auch einige Fehler vermieden. Was man hier für die Produktion des schmalen Bandes ausgeben konnte, entspricht nicht der Bedeutung des Themas.
Fazit
Knappe, an der Problemlösung orientierte Aufbereitung der Thematik der Gewalt bei Rettungseinsätzen. Für die Soziale Arbeit inhaltlich und als Programm durchaus lehrreich.
Rezension von
Prof. Dr. Carl Heese
Professur für Rehabilitation an der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg
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Zitiervorschlag
Carl Heese. Rezension vom 06.09.2021 zu:
Dietmar Heubrock, Carina J.M. Englert: Gewalt gegen Einsatzkräfte. Maßnahmen zur Deeskalation von Konflikten im Lösch- und Rettungsdienst. Verlag für Polizeiwissenschaft
(Frankfurt am Main) 2021.
ISBN 978-3-86676-690-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28620.php, Datum des Zugriffs 16.01.2025.
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