Thomas Meysen (Hrsg.): Das neue Kinder- und Jugendstärkungsgesetz
Rezensiert von Prof. Dr. Eckart Riehle, 22.06.2023
Thomas Meysen (Hrsg.): Das neue Kinder- und Jugendstärkungsgesetz – KJSG. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2021. 250 Seiten. ISBN 978-3-8487-7215-5. 38,00 EUR.
Thema
Am 10.6.2021 ist das Kinder und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) in Kraft getreten. Der vorliegend zu besprechende Band stellt dessen zentrale Gedanken und Inhalte dar. Daran sind nicht nur die Herausgeber beteiligt, vielmehr eine Reihe weiterer Autorinnen und Autoren. So Susanne Achterfeld, Dr. Jana Beckmann, Sabine Gallelp, und Prof. Dr. Stephan Rixen. Allen gemeinsamen ist, dass sie aus beruflichen Zusammenhängen kommen, in denen Sie mit dem Sozialrecht und besonders dem Kinder- und Jugendhilferecht verbunden und in diesem auch literarisch tätig sind.
Bei dem KJSG handelt es sich um ein Artikelgesetz, dass zwar überwiegend in Art. 1 Änderungen des SGB VIII enthält, aber auch noch eine weitere Anzahl von Gesetzen ändert. Im Zusammenhang mit dem SGB VIII sind zu erwähnen Änderungen im FamFG, JGG, SGB IX, SGB V und im KKG.
Fragt man nach dem Hintergrund des KJSG, so kann dieser im doppelten Sinne gefasst werden. Es ist einerseits der Hintergrund des KJHG, das Kinder- und Jugendhilfegesetz besteht seit 1991 und hat das seit 1920 gültige Wohlfahrtsgesetz abgelöst. Das KJHG hat sich aus den Fußstapfen des RWG zunehmend von einem Ordnungsrecht zu einem Recht der Kinder und deren Eltern entwickelt, verbunden mit vielfältigen Versuchen und Initiativen eine inklusiven Ausrichtung der Kinder- und Jugendhilfe zu erreichen, soll heißen, die Zuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe für alle Kinderund Jugendliche mit und ohne Behinderung.
Die Rezension stellt diese inklusive Ausrichtung und die Verstärkung der Rechte von Kinder und Jugendlichen daher auf Kosten anderer Themen in den Vordergrund. Einschränkend sei angemerkt, das KJSG stellt zwar keinen Paradigmenwechsel dar, aber entscheidende Schritte auf dem Weg zu einer inklusiven Ausrichtung. Paradigmenwechsel benötigen stets Zeit.
Aufbau
Das Buch ist nach einem Vorwort in 10 Kapitel gegliedert. Dabei ist jedes Kapitel in thematische Unterkapitel gegliedert, jedem Unterkapitel wird die neue Fassung vorangestellt.
Nicht alle Gesetzesänderung des KJSG sind bereits im Juni 2021 in Kraft getreten. Es gibt zwei wesentliche Ausnahmen im Bereich der inklusiven Kinder-und Jugendhilfe, welche hier bereits erwähnt werden. Zum 1.1.2024 werden die sogenannten Verfahrenslotsinnen eingeführt (§ 10b), und zum 1.1.2008 soll die Gesamtzuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe für alle Kinder und Jugendliche eintreten, sozusagen das finale Ziel der Inklusion. Dies wird aber nur erreicht, wenn Bundestag und Bundesrat bis 2027 ein Bundesgesetz verbschieden, das die Einzelheiten konkret regelt. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, die Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag 2021 vereinbart, das Gesetzesvorhaben noch in dieser Legislaturperiode zu verabschieden.
Inhalte
Kapitel I erläutert auf 20 Seiten die (Neu)-Ausrichtungen der Kinder und Jugendhilfe
Dazu geht das KJSG in § 1 SGB VIII von dem Vermögen von Kinder und Jugendlichen aus, „selbstbestimmt“ zu intragieren und damit gleichberechtigt am Leben in der Gesellschaft teilhaben zu können. Eine „befähigende Erziehung zur Selbstbestimmung“ (20). Das ist und war stets eine zentrale Forderung der Menschen mit Behinderung, man vgl. Art. 3 Buchst. A UNBRK. Das stärkt zwar die Rechte junger Menschen, enthält aber keine neuen Leistungen ist auch eher gedacht als Anforderung an die Einrichtungen und Dienste der Kinder- und Jugendhilfe, diese Zielbestimmung in ihrer Praxis zu reflektieren und ihr neue Stärke zu verleihen. Dies gilt auch für die Eltern, wenn es in § 1626 Abs. 2 BGB heißt, dies in der Erziehung entsprechend dem Alter und der individuellen Fähigkeiten des Kindes oder Jugendlichen zu beachten. Dabei findet diese Formulierung auch in § 24 Abs. 1 Nr. 1 als Zielrichtung der Tageseinrichtungen und der Kindertagepflege Verwendung finde. Das betont die Bedeutung der Selbstbestimmung.
Ich schlage vor, den Begriff der „Selbtbestimmung“, der alltagssprachlich vielfältiges umfasst un unterbestimmt ist, im Sinne der vernünftigen Freiheit bei Kant zu verstehen. [1]
Kapitel 2 wird umschrieben mit Stärkung der Rechte. Hier steht im Zentrum der elternunabhängige Beratungsanspruch von Kinder und Jugendlichen nach § 8 Abs 3, der bisher durch die Voraussetzung des Vorliegens einer Not- und Konfliktlage eingeschränkt war, welche jetzt entfällt. Bereits durch das Bundeskinderschutzgesetz von 2012 wurde die Beratung in einen unbedingten Rechtsanspruch umgewandelt.
Ein Kernpunkt, wenn schon nicht eine Herzkammer des KJSG ist das Kapitel 3 mit der Thematik „Inklusion“, dem 45 Seiten gewiedmet sind, gegliedert in drei Unterkapitel, die entsprechend ihrer Bedeutung hier angeführt werden.
Diesem Anliegen kommt das KJSG entgegen, indem zum einen die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in einer nachvollziehbaren und wahrnehmbaren Form zu erfolgen hat, damit diese ihre Beteiligungsrechte wahrnehmen können, indem in § 36 Abs. 2 die Bedeutung der Geschwisterbeziehung in den Blick gerät und betont wird, und die Beteiligung anderer öffentlich rechtlicher Akteure in Abs. 3. Ausdrücklich erwähnt werden dabei die Schulen, welche beim Stichwort Schulbegleitung mehr als nur zurückhaltend sind, ab und an gerne auf die öffentliche Jugendhilfe als Ausfallbürger verwiesen haben.
§ 36 Abs. 5 stellt jetzt klar, dass auch die nicht sorgeberechtigten Eltern, wenn auch unter bestimmten Voraussetzungen jetzt an der Hilfeplanung zu beteiligen sind.
Verstärkt wird dies durch ergänzende Bestimmungen zur Hilfeplanung in § 37 c, den Wahl- und Wunschrechten der Leistungsberechtigten nach § 37 c Abs. 3 bei Hilfen außerhalb der eigenen Familie.
Die Leistungen für Junge Volljährige nach § 41 sind in der Vergangenheit, was vielfach zu Recht beklagte wurde, vielfach im Blick auf ein Nirgendwo oder in im Hin und Her zwischen Volljährigenhilfe und Hilfe in besonderen Lebenslagen nach § 67 SGB XII untergegangen. Es war auch nicht zu übersehen, dass damit ein wichtiger Lebensabschnitt junger Menschen zwischen Volljährigkeit und bis zum27. Lj. systematisch ausgeblendet wurde. Damit soll jetzt Schluss sein. Jedenfalls nach dem Gesetzestext. Damit befasst ist Kapitel 6.
In der Neuformulierung von § 41 S. 1wird die Hilfe für junge Volljährige aus ihrem Schlummerdasein als Sollvorschrift erweckt und mit einem Rechtsanspruch ins Leben geführt, noch mehr als das, die Hilfe wird aus der bisherigen Defizitorientierung umgewandelt in eine Leistung, welche vor dem Hintergrund einer jeweils festzustellenden Gefährdungseinschätzung, die Leistungsempfänger als Subjekte von Ressourcen und Eigenschaften betrachtet, welche der Gefährdung begegnen können. Treffend formuliert hier Achterfeld. dass der Anspruch bisher nur in Ausnahmefällen gewährt wurde, „Die Gründe hierfür sind sowohl von Missverständnissen in den Anspruchsvoraussetzungen geprägt als auch haushälterisch motiviert.“ (171)
Die Neuformulierung der Hilfe für Junge Volljährige verfolgt jetzt das erklärte Ziel, die Verbindlichkeit der Hilfe zu stärken, und damit die Möglichkeiten Junger Volljähriger auf ein selbstbestimme Lebens zu verbessern. Das wird noch verstärkt durch eine Coming Back Option in § 41 Abs. 1 S. 3, die es ermöglicht, unabhängig von der Dauer einer Leistungsunterbrechung bei bisherigen Jugendhilfeleistungen erneut Hilfe als junger Volljähriger bis zum 27. Lj. zu beantragen
Dem Thema Kinderschutz und Kooperation und Kinderschutz in stationären Hilfen verhandelt Kapitel 7 mit 39 Seiten und Kapitel 9 mit 44 Seiten, also in beachtenswertem Umfang. Wenn auch der Kinderschutz in welchen Kontexten auch immer eine Voraussetzung dafür ist, etwa durch die Einbeziehung weitere Berufsgeheimnisträger nach § 4 KKG, dazu Kapitel 7 Rdn 17 ff. und Kapitel 8(Schnittstelle zur Gesundheitshilfe Rdn25), dass ein selbstbestimmt Leben möglich ist und entwickelt werden kann, also Kinder und Jugendliche von einer Verbesserung des Kindeschutzes profitieren, wird es an dieser Stelle nur mit wenigen Stichworten angemerkt. Während Kapitel 7 die Regelungen zum Kinderschutz generell in den Blick nimmt, ist der Blick von Kapitel 9 auf den Kinderschutz in stationären Hilfen ausgerichtet.
Kapitel 10, mit den Stichworten Statistik, Sorgeerklärungen, Aufarbeitung, hat allenfalls indirekte Auswirkungen auf die Rechte der Jungen Menschen, wenn auch die Bedeutung der Statistik für das Erfassen der Entwicklungen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe nicht verkannt wird.
Diskussion
Ob das KJSG die Rechte der Kinder und Jugendlichen stärkt, wird man erst im Laufe der Praxis erkennen. Von den Trägern der öffentlichen Jugendhilfe wird damit nicht nur verlangt, dem Recht auf selbstbestimmtes Leben Rechnung zu tragen, sondern auch in seinem Bereich die sachlichen und personellen Ressourcen zur Verfügung zu stellen, welche für eine in diesem Sinne gelungene Praxis der Resonanz zwischen allen Beteiligtenerforderlich sind.
Dazu tragen nicht nur die erläuternden Texten bei, eine Darstellung und Erläuterung des jeweiligen Regelungsgehaltes und Hinweise und Anforderungen an die Praxis, vielmehr auch die Gliederung des Textes in Kapitel und Unterkapitel als Orientierungshilfen, für jedes Kapitel die neue Fassung der Norm, wenn möglich in synoptischer Darstellung, die einschlägigen Gesetzesmaterialien die jedem Kapitel beigegeben werden, einschließlich der Stellungnahmen von Fachverbänden im Gesetzgebungsprozess.
Hilfreich ist weiterhin das Paragrafenverzeichnis auf S. 11–14, in welchem man für jede neue oder geänderte Vorschrift noch den Wegweiser findet, wo und in welchem Kapitel und unter welcher Randnummer, man das gesuchte findet.
Zutreffend ist neben dem Hinweis auf die spannende Lektüre auch der Hinweis im Vorwort, das Inkraftreten des KJSG war eigentlich nur der erste Schritt, es gehe im zweiten Schritt darum diesen Schritt mit Leben zu erfüllen und gut in die Praxis umzusetzen. Dem kann man immer zustimmen.
Was notwendig zu kurz kommen musste ist der „lange und intensive Diskussion und Beteiligungsprozess“, der Eingangs des Vorwortes erwähnt wird und der nicht nur als Prozess bezogen auf das KJSG verstanden werden sollte, eher als ein Prozess, der das KJHG immer schon mal mehr, mal weniger, jeweils orientiert um bestimmte Themen, begleitet hat.
Aber wie ist es mit dem Thema der Fachlichkeit, genauer der „vertrauenswürdigen Fachlichkeit“, das einer der Mitautoren des Buches, Prof. Stephan Rixen bereits 2007 in einem Aufsatz in Sozial Extra in die Diskussion eingebracht hat. Das ist Gedanken, dass angesichts der Irritationen zwischen SozialpädagogInnen/SozialarbeiterInnen und JuristInnen, welche sich in kommunikativen Missverständnissen ausdrücken, beide Seiten froh sind, wenn sie möglichst wenig miteinander zu tun haben. Was bestenfalls vorherrsche, sei aufrichtig praktizierte „Indifferenz,“ also eher negative Resonanz oder Entfremdung. Ist das 2023 anders? (37).
Rixen hatte als konkrete Utopie vorgeschlagen, die richtig praktizierte Kooperation zwischen Sozialer Arbeit und Rechtsystem, welche wechselseitig von- einander verlange, „peinliche Vorurteile auf beiden Seiten aufzugeben, um Fachlichkeit zu optimieren“ um damit zu einer positiven Resonanz zu gelangen.
Was ist daraus geworden? Fachlichkeit verlangt voneinander auch, dass beide Seiten wechselseitig lernen, die Perspektive und Sprache des anderen zu verstehen. Das sollte, so die Auffassung des Rezensenten, in die Ausbildung der Sozialpädagogen als eigenes Modul eingehen. Für das KJSG ist dies von Bedeutung, denn „Fachlichkeit“ der Sozialpädagogik, welche hier in den Vordergrund tritt, ist nicht nur ein Qualitätsmerkmal sondern, gute Fachlichkeit also „vertrauenswürdige“ und nicht nur kumpelhafte stärkt auch die Rechte von Kinder und Jugendlichen. Das ist im KJSG eher am Rande von Bedeutung, etwa in Kapitel I Unterkapitel III und wenn es um die Ausstattung der Jugendämter mit digitalen Geräten (I V.) geht.
Enthält der Band auch, was er verspricht, so doch keine Hinweise, was man in der Zukunft erwarten darf. Die im Vorwort erwähnten langen und intensiven Diskussionen (5), gab es in diesen nicht auch grundsätzliche widersprüchliche Positionen und Erwartungen in Blick auf die Entwicklung des SGB VIII und dessen Zukunft? Dazu hätte man gerne etwas erfahren, denn so wenig einheitlich die gesellschaftlichen und politischen Vorstellungen über die Zunahme der Ungleichheit, angesichts gesellschaftlicher Spaltungsprozesse sind, so wenig einheitlich werden sich diese Vorstellungen auch auf die Entwicklung der Kinder- und Jugendhilfe auswirken.
In aller Kürze, Harmonie tut gut, aber Transparenz über Konflikte und Auswegen aus diesen ist noch besser, bedenkt man die temporäre Weite, die bis zur inklusiven Ausrichtung benötigt wurde. Von dieser Transparenz hätte man sich mehr gewünscht.
Fazit
Der Band hält was er verspricht. Das ist zunächst einen Überblick und eine „spannende Lektüre“ durch das komplexe Wurzelwerk des KJSG, komplex, da es als Artikelgesetz immer wieder wie auf einem Stadtplan in Nebenstraßen führt, aber nicht in Sackgassen, bis man, wenn es gut geht, zum Ende eine geordnete Landkarte des KJSG vor Augen hat. Dazu trägt auch das am Schluss angebrachte Literatur und Stichwortverzeichnis bei, welche diese Landkarte verdichten.
Man kann das Buch von 300 S. als eine uneingeschränkt gelungene Hilfe zum Verständnis des hier und jetzt, des KJSG und zur Arbeit mit dem KJSG bezeichnen. Auf ca. 300 Seiten keine Selbstverständlichkeit.
Literatur
Rixen, S.: Soziale Arbeit – ein rechtliches Risiko?, in Sozialextra 9/10, 2007
[1] D.h, kurz gesagt, eine Freiheit im Sinne einer moralischen Autonomie.
Rezension von
Prof. Dr. Eckart Riehle
em. Professor für öffentliches Recht und Sozialrecht an der Fachhochschule Erfurt. Rechtsanwalt, Karlsruhe
Website
Mailformular
Es gibt 55 Rezensionen von Eckart Riehle.
Zitiervorschlag
Eckart Riehle. Rezension vom 22.06.2023 zu:
Thomas Meysen (Hrsg.): Das neue Kinder- und Jugendstärkungsgesetz – KJSG. Nomos Verlagsgesellschaft
(Baden-Baden) 2021.
ISBN 978-3-8487-7215-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28624.php, Datum des Zugriffs 08.09.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.