Heinrich Greving: Werkstätten für behinderte Menschen
Rezensiert von Prof. Dr. Albrecht Rohrmann, 18.10.2021

Heinrich Greving: Werkstätten für behinderte Menschen. Sonderwelt und Subkultur behindern Inklusion. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2021. 379 Seiten. ISBN 978-3-17-038496-5. 39,00 EUR.
Thema
‚Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM)‘ sind Einrichtungen zur beruflichen Rehabilitation für Menschen „die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht, noch nicht oder noch nicht wieder auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt beschäftigt werden können“, jedoch „ein Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung erbringen“ (§ 219 SGB IX). Die Beschäftigten mit Behinderungen stehen in WfbM lediglich in einem arbeitnehmerähnlichen Rechtsverhältnis und erhalten nur ein sehr geringes Arbeitsentgelt. Trotz der subjektiven Bedeutung, die die Beschäftigung in einer WfbM für die Teilhabe am Arbeitsleben, für die Gestaltung des Tages und das Erleben von dauerhafter Zugehörigkeit haben kann, steht das System nun schon lange Zeit in der Kritik. Es war bereits 1981 Gegenstand des ‚Krüppeltribunals‘, einer sich formierenden Bewegung von Menschen mit Behinderungen für mehr Selbstbestimmung. Auch empirische Studien bestätigen, dass das System in sich sehr geschlossen ist und dauerhaft ausgrenzend wirkt. Der eigentlich anzustrebende Übergang auf den allgemeinen Arbeitsmarkt ist aus strukturellen Gründen äußerst selten. Im Zusammenhang der Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen werden die Bundesregierung und die weiteren sozial- und arbeitsmarktpolitischen Akteure immer wieder heftig dafür kritisiert, dass sie an dem exkludierenden System der Werkstätten festhalten, statt geeignete Maßnahmen für eine gleichberechtigte Teilhabe in einem inklusiven Arbeitsmarkt zu ergreifen.
Autor*innen und Entstehungshintergrund
Weniger die im Untertitel anklingende Kritik an dem System der Werkstätten ist daher überraschend, vielmehr der Kreis der Autoren und der Entstehungshintergrund des Buches. Es handelt sich bei den Autoren überwiegend um Personen, die in ihrem zumeist bereits abgeschlossenen Berufsleben in leitenden Positionen bei Trägern von Werkstätten und auch in der ‚Bundesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten für behinderte Menschen (BAG WfbM) e.V.‘ tätig waren, die seit ihrer Gründung im Jahre 1975 bis heute eine äußerst effektive und wenig selbstkritische Lobbyarbeit für die Stabilisierung der WfbM betreibt. Im Einleitungsbeitrag von Heinrich Greving, Bernhardt Sackarendt und Ulrich Scheibner wird auf die schwierige Entstehungsgeschichte des Buches hingewiesen. Es wird berichtet, dass sich einige der ursprünglichen Beteiligten aufgrund der (selbst)kritischen Ausrichtung des Sammelbandes zurückgezogen haben. Die Autoren sehen die Etablierung der ‚Werkstätten‘ seit den 1970er Jahren als Erfolg, sie sehen ihre Ausrichtung als „Absonderungseinrichtungen“ (S. 20) jedoch zunehmend kritisch. Der Herausgeber Heinrich Greving ist Hochschullehrer für Allgemeine und Spezielle Heilpädagogik an der KIatholischen Hochschule NRW. Ulrich Scheibner ist wie die meisten Autoren im Ruhestand und war langjähriger Geschäftsführer der BAG WfbM. Er ist als Mitautor an den allermeisten Beiträgen beteiligt.
Einige der Autoren haben sich in einer ‚Allianz zukunftsorientierter Fachleute zur Weiterentwicklung der Werkstätten für behinderte Menschen‘ mit der Forderung einer ‚Inklusion-Enquete‘ an die Mitglieder des Deutschen Bundestages gewandt.
Inhalt
Der Sammelband umfasst nach der Einleitung insgesamt elf Beiträge, die im Folgenden kurz vorgestellt werden sollen.
Den Auftakt zum Sammelband bildet ein Beitrag von André Thiel, der nach seiner Ausbildung und kurzzeitigen Beschäftigung im Zusammenhang mit seiner Beeinträchtigung im Alter von 30 Jahren auf die Arbeit in einer WfbM verwiesen wurde. Er beschreibt eindrücklich die Widersprüchlichkeiten, die mit der Institutionalisierung von WfbM verbunden sind: Hier wird Beschäftigungssicherheit geboten und eine Absicherung im Alter, die Menschen mit Beeinträchtigungen außerhalb der WfbM verwehrt wird und so zur Versagung zentraler Grund- und Menschenrechte zur Teilhabe am Erwerbsleben führt. Thiel engagiert sich auch politisch dafür, dass sich WfbM zu Rehabilitationseinrichtungen entwickeln, die den Übergang in den regulären Arbeitsmarkt wirklich vorbereiten. Dafür muss der Arbeitnehmerstatus in der WfbM umgesetzt werden und die bislang WfbM-exklusiven Regelungen zur Absicherung einer Beschäftigung unabhängig von Art und Schwere einer Behinderung müssen auch für eine Beschäftigung am regulären Arbeitsmarkt gelten.
Der ehemalige Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, Hubert Hüppe, wählt für seinen Beitrag den provokativen Titel „‘Werkstätten‘ im Konflikt mit dem Grundgesetz‘ und bezieht sich damit insbesondere auf das Benachteiligungsverbot in Artikel 3. Er zeigt eindrucksvoll, wie bislang alle Bundesregierungen und alle Werkstattlobbyist*innen aus der Behindertenhilfe daran gearbeitet haben, das Sondersystem der Werkstätten zu stabilisieren und nicht durch die Entwicklung eines inklusiven Arbeitsmarktes zu überwinden.
Ausgehend von einer semantischen Analyse des Terminus ‚Werkstätten für behinderte Menschen‘ zeigen die beiden Herausgeber Heinrich Greving und Ulrich Scheibner in dem Beitrag ‚Im Anfang war das Wort‘. Sprache, Macht und die ‚Werkstätten‘– wie in diesem Feld und darüber hinaus durch das Reden über Behinderung Gewalt ausgeübt wird und gesellschaftliche Verhältnisse verschleiert werden. Sie orientieren sich dabei an dem Konzept der epistemischen Gewalt und stellen kritisch gängige Fachbegriffe aus dem sozialpolitischen Feld mit überzeugenden Argumenten in Frage.
Es folgen vier Beiträge, die von Bernhard Sackarendt, der in seiner beruflichen Tätigkeit als Geschäftsführer einer Einrichtung und stellvertretender Vorsitzender der BAG WfbM tätig war, und dem Mitherausgeber Ulrich Scheibner verantwortet werden. Im ersten Beitrag (Buchkapitel 5) „Vom Staat gewollt: ‚Werkstätten für behinderte Menschen“ nehmen die Autoren eine historisch sozialpolitische Perspektive zur Entwicklung von WfbM ein und fragen insbesondere, warum trotz fachlicher Kritik das in sich geschlossenen System auch in aktuellen Reformprozessen (insbesondere im Bundesteilhabegesetz) nicht in Frage gestellt wird. Die Frage nach den Nutznießern der Sonderwelt der ‚Werkstätten‘ wird in den beiden folgenden Beiträgen aufgegriffen. Im ersten wird die These entfaltet, dass die ‚Werkstätten‘ in erster Linie die Arbeitsmarktpolitik und die Wirtschaft entlasten und die Fragen sozialer Gerechtigkeit, Teilhabe und Inklusion de-thematisiert. Äußerst profitabel, so legen die beiden Autoren im folgenden Beitrag dar, ist das System für die Betreiber. Sie werfen den Trägern eine intransparente Geschäftspolitik vor, die von den politisch Verantwortlichen gedeckt wird und nur manchmal in den Medien skandalisiert wird. Dabei geht es nicht nur um Probleme von materieller Bereicherung, sondern auch um die Vertuschung von Gewalt gegenüber den Beschäftigten. Die Gemeinnützigkeit des Betriebes von ‚Werkstätten‘ wird in dem Beitrag grundsätzlich in Frage gestellt. Fragwürdig ist aus Sicht des Rezensenten, dass die einflussreiche und mächtige Lobbyorganisation der ‚Werkstätten‘, die BAG WfbM, letztendlich aus Entgelten der Eingliederungshilfe finanziert wird.
Im vierten Beitrag denken die beiden Autoren über Alternativen zur Beschäftigung in einer WfbM nach. Sie beziehen sich dabei auf die Regelungen zur Beschäftigungspflicht sowie die Aufgaben der Bundesagentur für Arbeit und der ‚Werkstätten-Träger‘, Übergänge in den allgemeinen Arbeitsmarkt zu fördern. Sie kritisieren, dass die darauf bezogenen Rechtsvorschriften missachtet werden und unerfüllt bleiben. Die Überwindung der Strukturen des ‚Werkstätten-Systems‘ wird als soziale Bewegung zur Befreiung verstanden und die Autoren fordern in Anlehnung an Artikel 27 der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen die Ergänzung der Beschäftigungspflicht „um das personenbezogene Recht auf einen Erwerbsarbeitsplatz in einem offenen, inklusiven und zugänglichen Arbeitsmarkt“ (S. 209) als Prinzip ‚inklusiver Demokratie‘ (S. 210).
Im achten, umfangreichsten Beitrag des Buches kommt Franz Wolfmayr mit einer europäischen Perspektive zu Wort. Er war langjähriger Präsident der ‚ European Association of Service providers for Persons with Disabilities’ (in der die BAG WfbM vermutlich eines der größten Mitglieder und gegenwärtig auch im Präsidium vertreten ist) und in Graz in einem Sozialunternehmen tätig. Auch in Bezug auf die Europäische Union ist die Gesamtbilanz ernüchternd: „Der Bevölkerungsteil mit Beeinträchtigungen, dem eine unterdurchschnittliche Arbeitsproduktivität unterstellt wird, ist europaweit und mehrheitlich vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen“. Dennoch können Deutschland und Österreich mit ihrem verfestigten System von ‚Werkstätten‘ (die in den Bundesländern in Österreich unterschiedliche Bezeichnungen haben) sehr von den Strategien und Erfahrungen in anderen europäischen Ländern profitieren. Sehr kenntnisreich stellt Wolfmayr nationale Strategien und Modellprogramme vor, mit denen die Entwicklung eines inklusiven Arbeitsmarktes angestrebt wird. Darüber hinaus gibt der Beitrag einen guten Überblick über die Strategien der EU zur Gleichstellung von Menschen mit Beeinträchtigungen. Kritisch stellt er die Frage, warum in der Bundesrepublik der Entwicklung des Ansatzes der Inklusionsbetriebe nur wenig politische Bedeutung zugemessen wird. Ein Ergebnis seiner vergleichenden Untersuchungen und Darstellungen ist, dass Deutschland auf dem Dienstleistungssektor für Menschen mit Behinderungen untypisch in Europa ist: „Der deutsche Staat ist Spitzenreiter auf dem Gebiet der institutionalisierten Versorgung durch Großorganisationen. Nirgendwo sonst gibt es derart mächtige Einrichtungen wie in Deutschland“ (S. 265).
Der Frage, wie sich WfbM in die kapitalistische Wirtschaftsordnung einfügen, gehen Rainer Knapp, langjähriger Geschäftsführer eines ‚Werkstatt‘-Trägers und auch im Vorstand der BAG-WfbM tätig, und Ulrich Scheibner nach. Sie widersprechen dem ‚Schonraum‘-Argument und sehen die ‚Werkstätten‘ als „Teil dieser Gesellschaft mit ihrer kapitalistischen Ökonomie“ (S. 286), die Menschen mit Beeinträchtigungen mit voller Härte trifft. Wie in anderen Beiträgen auch, wird gegen die kapitalistische Wirtschaftsordnung aus der Perspektive des Grundgesetzes und der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen argumentiert.
Noch einmal haben sich Ulrich Scheibner und Bernhard Sackarendt zusammengetan, um sich mit der These „Keine ‚Werkstatt‘ ist das Beste“ auseinanderzusetzen, die 2010 von dem Geschäftsführer der Lebenshilfe Braunschweig, Detlef Springmann, vorgetragen wurde. Er setzt sich dafür ein ‚Werkstätten‘ als Übergangseinrichtungen auszugestalten und sie dauerhaft überflüssig zu machen. Die seitdem vergangenen elf Jahre weisen in die gegenteilige Richtung. Die Autoren fordern die Durchsetzung der „bestehenden inklusionsorientierten Rechtsnormen“ und die „Novellierung der inklusionshemmenden Rechtsnormen“ (S. 299) sowie die Ausarbeitung eines Aktionsplanes zur Entwicklung „einer allgemeinen inklusiven, demokratischen Arbeitswelt“ (ebd.). Die notwendigen Schritte dazu werden skizziert.
Der Abschlussbeitrag wird von Wilfried Windmöller, dem ersten gewählten Vorsitzenden der Bundesarbeitsgemeinschaft der ‚Werkstätten‘, unter ein Bibelzitat „Ein jegliches hat seine Zeit“ (Prediger 3,1) gestellt. Er zeichnet die Entwicklung und Bedeutung der ‚Werkstätten‘ nach und stellt sie in die Tradition des Anstaltswesens. Selbstkritisch fragt er „Warum nur habe ich als langjähriger Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten gemeinsam mit meinen fortschrittlichen Freunden und Vorstandskollegen, die Berichte der Experten ignoriert, die schon im 19. Jahrhundert das rigide Anstaltswesen in Frage gestellt hatten“ (S. 331)? Er plädiert dafür die ‚Werkstätten‘ in ‚Integrationsbetriebe‘ umzubenennen und verknüpft damit die Aufgabe der Integration in den regulären Arbeitsmarkt.
In einem aktuellen Schlusswort nehmen die beiden Herausgeber Bezug auf die Corona-Pandemie. Die Hilflosigkeit, mit der im Feld der Unterstützung auf die Pandemie reagiert wurde, ist für sie „nur ein Symptom für die viel tiefergehende und seit Mitte der 1990er Jahre offenbar gewordene ‚Werkstätten‘-Krise“ (S. 356).
Diskussion
Der Sammelband ist vor allem durch den Kreis der Autoren in erster Linie eine sozialpolitische Positionierung. Nicht ohne Redundanzen und häufig mit ausgeprägten philosophischen und grundsätzlichen Bezügen wird die Entwicklung des Systems der ‚Werkstätten‘ kritisiert. Die Autoren, allesamt Männer, verfügen dabei durch ihre frühere berufliche Tätigkeit und ihre jetzige Auseinandersetzung über profunde Kenntnisse und Insiderwissen der sozialpolitischen und fachlichen Debatten zu den ‚Werkstätten‘ in der Bundesrepublik Deutschland. Das macht den Sammelband äußerst lesenswert. Die Schärfe der Argumentation und der Vorwürfe gegenüber dem ‚Werkstätten‘-System sind an vielen Stellen überraschend, jedoch durchweg gut begründet.
Dem Sammelband hätten mehr Beiträge mit konzeptionellen Überlegungen und Ansätzen für die zukünftige Entwicklung sowie die Einbeziehung von aktuellen Forschungsarbeiten gutgetan. Es ist völlig richtig, immer wieder auf den Widerspruch zwischen grund- und menschenrechtlichen Normen und der Realität der Ausgrenzung von Menschen mit Beeinträchtigungen zu verweisen. Dies lässt die Leser*innen jedoch auch ratlos zurück. Wie kann der Entwicklungspfad der Sonderwelten ‚Werkstätten‘ überwunden werden, wie können die beharrlichen Widerstände und die effektive Lobbyarbeit der ‚Werkstatt‘-Träger zurückgewiesen werden und wie sind überzeugende Konstellation für Veränderungen möglich? Dazu findet man in dem Sammelband zahlreiche Anknüpfungspunkte, jedoch weniger empirisch fundierte Analysen und Strategien. Der Band liest sich ein wenig wie das Vermächtnis einer Generation von Aktiven, die selbstkritisch auf eine festgefahrene Entwicklung blicken, an der sie beteiligt waren.
Fazit
Allen, die sich in der Ausbildung, in der Wissenschaft und in der Politik mit dem System der ‚Werkstätten‘ beschäftigen, geben die Beiträge des Sammelbandes äußerst wichtige Hintergrundinformationen.
Rezension von
Prof. Dr. Albrecht Rohrmann
Professor für Sozialpädagogik mit dem Schwerpunkt soziale Rehabilitation und Inklusion an der Uni Siegen, Zentrum für Planung und Entwicklung Sozialer Dienste (ZPE)
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