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Betina Hollstein, Rainer Greshoff et al. (Hrsg.): Soziologie - sociology in the German-speaking world

Rezensiert von Dr. Dieter Korczak, 21.10.2021

Cover Betina Hollstein, Rainer Greshoff et al. (Hrsg.): Soziologie - sociology in the German-speaking world ISBN 978-3-11-062333-8

Betina Hollstein, Rainer Greshoff, Uwe Schimank, Anja Weiß (Hrsg.): Soziologie - sociology in the German-speaking world. Special issue Soziologische Revue 2020. De Gruyter Oldenburg (Berlin) 2021. 557 Seiten. ISBN 978-3-11-062333-8. D: 149,95 EUR, A: 149,95 EUR.

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Thema

Es gibt einige Standardwerke zur Soziologie: das „Wörterbuch der Soziologie“ (hg. von Wilhelm Bernsdorf, 1969). Die veränderte Weiterführung dieses Wörterbuchs, 1989 herausgegeben von Günter Endruweit und Gisela Trommsdorf, komplett überarbeitet in der 3. Auflage 2014 und erweitert mit der Herausgeberin Nicole Burzan. Des Weiteren das 1972 veröffentlichte „Wörterbuch der Soziologie“ von Günter Hartfiel, 2007 in der 5. Auflage völlig überarbeitet und erweitert von Karl-Heinz Hillmann. Schließlich das Fischer-Taschenbuchlexikon „Soziologie“, ein Bestseller mit einer Auflage von über 400.000 Exemplaren, erstmals veröffentlicht 1958 von René König, dem Mitbegründer der International Sociological Association (ISA), deren Präsident er von 1962–1966 war.

Auch das „Lexikon zur Soziologie“, 1973 zum ersten Mal erschienen und 2020 zum sechsten Mal aufgelegt (Hg. Daniela Klimke, Rüdiger Lautmann, Urs Stäheli, Christoph Weischer und Hanns Wienold) gehört zum Kanon dieser Standardwerke.

Und jetzt der erste systematische Überblick in Englisch über den aktuellen Stand der Soziologie in der „German-speaking world.“ Damit sind Deutschland, Österreich und die deutschsprachige Schweiz gemeint, aber nicht Publikationen, die in Deutsch erschienen sind. Die Absicht der vier HerausgeberInnen ist es, mit diesem Band internationalen Lesern einen Einblick in die deutschsprachige soziologische Diskussion der letzten zwanzig Jahre zu geben. Der Band ist als Sonderband der Soziologischen Revue erschienen.

HerausgeberInnen

Betina Hollstein, Uwe Schimank und Reiner Gresshoff lehren und arbeiten am Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik der Universität Bremen, Anja Weiß am Institut für Soziologie der Universität Essen.

Aufbau

Der Band enthält 34 Beiträge, zumeist 15 Seiten lang. Die Beiträge sind nicht thematisch geordnet, sondern in alphabetischer Reihenfolge sortiert. Zur bewussten Entscheidung für eine alphabetische Reihenfolge wird im Vorwort erläutert, dass dadurch eine Hierarchisierung und Priorisierung der Beiträge vermieden werden sollte. Thematisch decken die Beiträge eine große Bandbreite ab. Sie reichen von „culture to work and labor, from social inequality to transnationalization and the Global South, from the sociology of the body and space to the environment, from trends in sociological theory to innovative research methods.“ (6). Den HerausgeberInnen ist bewusst, dass diese Auswahl selektiv ist.

Inhalt

Hinsichtlich der Internationalisierung der deutschsprachigen Soziologie konstatieren die HerausgeberInnen, dass manche Themen vornehmlich in Deutschland diskutiert worden sind, z.B. Soziale Theorie, Gesellschaft, Mikrosoziologie, qualitative Forschungsmethoden, Kultursoziologie, biografische Forschung und die Geschichte der Soziologie. Bei manchen Themen sei ein typisch deutscher Ansatz zu erkennen, z.b. eine spezifisch soziologische Perspektive auf technologische Entwicklungen. Andere Themen würden bereits jetzt vorwiegend in Englisch publiziert, z.B. die Lebenslaufforschung, komparative Soziologie, quantitative Methoden, soziale Ungleichheit und Migration. Auch zu diesen international bereits präsenten Themen sind in dem Band Überblicksartikel enthalten.

Jedem Beitrag wird ein Abstract vorangestellt und sie schließen mit einer Conclusion. Aufgrund des Umfangs des Buches (557 Seiten) werden hier nur zwei der Schlussfolgerungen betrachtet, die sich auf die weniger internationalisierten Themen beziehen.

Wolfgang Ludwig Schneider, Soziologieprofessor an der Universität Osnabrück, stellt sich dem Unterfangen, auf fünfzehn Seiten (467-482) „Social Theory“ darzustellen. Er postuliert, dass in den letzten zwanzig Jahren eine Art „umbrella enterprises“ die universalistischen großen Theorien (Parsons, Luhman, Bourdieu) abgelöst haben. Diese „umbrella enterprises“ extrahieren sozio-theoretische Annahmen aus verschiedenen Theorien und integrieren sie in ein umfassendes Forschungsprogramm. Die analytische Soziologie gehört beispielsweise dazu, die die deutsche explanatorische Soziologie stark beeinflusst (Essers Modell der „frame selection“). Als weitere „umbrella enterprises“ werden das Weber Paradigma, die Relationale Soziologie und die Praxis-Theorien (Reckwitz) genannt. In seiner Konklusion sieht Schneider diese Theorieentwicklung als Folge von Drittmittel finanzierten Forschungsprojekten und dem Zerbrechen von langfristigen akademischen Schulen und Strukturen.

In seinem Beitrag „Society“ betrachtet Uwe Schimank (483-498) die Zukunft der Gegenwartsgesellschaft aus vier verschiedenen Perspektiven: funktionelle Differenzierung, Kapitalismus, Ungleichheit und Kultur. In der deutschsprachigen Diskussion wird die funktionelle Differenzierung der Moderne mit einem Pluralismus von System- und Aktions-theoretischen Ansätzen kombiniert. Moderne Sichtweisen auf den Kapitalismus sieht er in den Arbeiten von Jens Beckert, Christoph Deutschmann und Wolfgang Streeck. Kulturelle Faktoren beeinflussen das Mindset von Menschen in sehr starker Weise (Reckwitz, Rosa). Schimank zieht es vor, Kultur als „Toolkit“ zu betrachten, „that actors make use of in their own…ways.“ (491). Sozialer Ungleichheit drückt sich vielfältig aus, im Einkommen, in der Bildung, im sozialen Kapital und dem Sozialprestige. Theorien über den Kapitalismus sollten deshalb mit Kulturtheorien, einschließlich der Analyse des Rechtspopulismus, verbunden werden, um das Entstehen von Ungleichheit in seiner Komplexität zu erfassen. Diese vier Perspektiven aus dem deutschsprachigen Raum hätten die internationale Diskussion stark beeinflusst.

Diskussion

Die eingangs erwähnten Wörterbücher sind zwei- bis dreimal so umfangreich wie das hier besprochene Werk und liefern von daher auch eine breitere und vielfältigere Darstellung soziologischer Themen. Der vorliegende Band betont selbst seine Selektivität. Dennoch ist die Auswahl durchaus überraschend. Das wichtige Thema „Migration“ wird auf nur acht Seiten behandelt, zu den ebenfalls sehr wichtigen Themen „Gesundheit“ und „Digitalisierung“ gibt es keine speziellen Beiträge. In dem Schlagwort-Index kommt „Health“ als Stichwort zweimal vor, einmal im Zusammenhang mit Methoden der Gesundheitsforschung, das andere Mal im Zusammenhang mit Lebenserwartung. Der Digitalisierung werden zwei Seiten im Beitrag „Work and labor“ gewidmet, rein deskriptiv gehalten, ohne weitergehende Analyse. Armut (poverty), Überschuldung (over-indebtedness) und Inklusion findet man im Index nicht – aber im Beitrag „Social Inequalities – Empirical Focus“ wird man dann doch fündig. Aus einer Tabelle kann man entnehmen, dass 11 Paper im Zeitraum seit dem Jahr 2000 zum Thema „poverty and precariousness“ in KZZfSS und ZfS veröffentlicht worden sind. In dem Beitrag widmet sich auch eine Seite dem Thema „income, wealth and poverty“. Angesichts mehrerer Armuts- und Reichtumsberichte in Deutschland seit dem Jahr 2000 ist dies etwas wenig. Ärgerlich ist, dass nahezu in jedem Beitrag in irgendeiner Weise auf Karl Marx Bezug genommen wird, aber seine Schriften, auf die sich die Beiträge beziehen, systematisch in den Literaturquellen zu jedem Beitrag nicht genannt werden. Doch – einmal (427) werden seine ökonomischen Manuskripte 1857/1858 genannt. Nicht nachvollziehbar ist auch, warum im Vorwort mehrfach das Wort „teutonic“ verwendet wird, z.B. „teutonic academia“, anstatt wertfrei „German“ zu verwenden.

Fazit

Das Buch „Soziologie – Sociology in the German-Speaking World“ versteht sich selbst als „companion to German-language sociology“, als Begleiter, der Englisch sprechende Sozialwissenschaftler auf aktuelle Themen in der deutschsprachigen Soziologie aufmerksam machen soll. Es ist als Sonderband in der renommierten Soziologischen Revue erschienen. Die einzelnen Beiträge sind nicht thematisch angeordnet, sondern alphabetisch, was die kontextuale Orientierung erschwert. Aufgrund der handbuchartigen Kürze der 34 Einzel-Beiträge sind die Darstellungen sehr komprimiert und im Text voller Bezüge auf andere Autoren/​innen. Die Texte machen daher zu einzelnen Themen neugierig auf die als Referenzen angeführten Schriften, die jedoch nicht immer als Literaturangabe aufgenommen worden sind. Die Beiträge haben einen weitgehend einheitlichen Aufbau. Im vorangestellten Abstract wird eine Zusammenfassung geliefert, dann folgt die Erörterung des Themas, die mit einer Schlussfolgerung endet. In diesen Schlussfolgerungen ist nicht immer deutlich herausgearbeitet worden, worin denn jetzt konkret der Erkenntniszugewinn für Englisch sprechende interessierte Leser liegt. Für die Erstellung des Indexverzeichnis hätte man sich mehr Sorgfalt gewünscht. Insgesamt ist der Band eine interessante Veröffentlichung zur deutschprachigen Soziologie, die viele Anknüpfungspunkte bietet. Es ist dem Band zu wünschen, dass er in der internationalen sozialwissenschaftlichen Community freundlich aufgenommen wird und Interesse für die deutschsprachige Soziologie weckt.

Rezension von
Dr. Dieter Korczak
Soziologe, Präsident des European Consumer Debt Network, Mitglied der Financial Services User Group der Europäischen Union
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Es gibt 17 Rezensionen von Dieter Korczak.

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Zitiervorschlag
Dieter Korczak. Rezension vom 21.10.2021 zu: Betina Hollstein, Rainer Greshoff, Uwe Schimank, Anja Weiß (Hrsg.): Soziologie - sociology in the German-speaking world. Special issue Soziologische Revue 2020. De Gruyter Oldenburg (Berlin) 2021. ISBN 978-3-11-062333-8. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28638.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.


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