Christian Günster, Jürgen Klauber et al. (Hrsg.): Versorgungs-Report Klima und Gesundheit
Rezensiert von Prof. Dr. Dr. Bernhard Irrgang, 27.07.2022

Christian Günster, Jürgen Klauber, Bernt-Peter Robra, Caroline Schmuker, Alexandra Schneider (Hrsg.): Versorgungs-Report Klima und Gesundheit. MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft (Berlin) 2021. 282 Seiten. ISBN 978-3-95466-626-3. D: 59,95 EUR, A: 61,75 EUR, CH: 72,00 sFr.
Thema
Angesichts der Corona-Epidemie ist in der Gesundheitsdiskussion ein weiterer wichtiger Faktor für die Gesundheit, nämlich das Klima, in den Hintergrund getreten. Daher bearbeitet das Schwerpunktthema dieser Ausgabe des Versorgungs-Reports die gesundheitlichen Auswirkungen des Klimawandels und die dadurch schon jetzt entstehenden Belastungen, Entwicklungsnotwendigkeiten und offenen Fragen für die medizinische Versorgung in Deutschland. Die Gesundheit der Umwelt und die Gesundheit der Menschen sind nicht allein auf globaler Ebene verflochten. Besonders nicht nachhaltige Städte wirken sich negativ auf die menschliche Gesundheit wie auf die Umwelt aus. Wenn allerdings Maßnahmen umgesetzt werden, die Gesundheit fördern, steckt darin gerade im urbanen Setting immense transformative Kraft, denn Klima-, Gesundheits- und ökologische Ziele verstärken sich gegenseitig. In diesem Zusammenhang sind insbesondere die Belastungen durch Feinstaub und Stickoxide sowie durch Temperatur wesentliche Umweltfaktoren von gesundheitlicher Bedeutung (S. 1 f.).
Herausgebeteam
Mitglieder des Herausgeber-Teams des Versorgungsreports Klima und Gesundheit arbeiten am wissenschaftlichen Institut der AOK in Berlin, am Institut für Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung in Magdeburg und am Helmholtz Zentrum München, deutsches Forschungszentrum für Gesundheit und Umwelt, in Neuherberg.
Inhalt
Grundlagen und die globale Bedeutung des Klimawandels für die Gesundheit
Dargestellt werden der anthropogene Klimawandel und seine Folgen für die Umwelt- und Lebensbedingungen in Deutschland. Extreme Trockenheit, vermehrte Starkregenereignisse, häufigere Hitzewellen und vermehrt auftretende Waldbrände sind Auswirkungen des anthropogenen Klimawandels, die wir auch in Deutschland schon zu spüren bekommen. Der menschengemachte Klimawandel verändert beispielsweise durch Beeinträchtigung des atmosphärischen Jetstream das Wettergeschehen nicht zuletzt durch extreme Ereignisse in umfangreicherem Maße. Es gibt zudem Hinweise darauf, dass Trockenheit und Dürre in Zentraleuropa stärker zunehmen könnten als die meisten Klimamodelle bisher angenommen haben (S. 13–15). Zu den schleichenden Veränderungen gehören weniger Frost und Schnee im Winter und der Meeresspiegelanstieg (S. 17–19). Aus globaler Perspektive ist zu ergänzen, dass der Klimawandel die größte Bedrohung für die globale Gesundheit im 21. Jahrhundert darstellt (S. 23). Sie betreffen zunächst durch Wasser und Lebensmittel übertragene, aber auch durch Vektoren übertragene Erkrankungen und den Ernährungsstatus. Selbst wenn es der Weltgemeinschaft gelingt, die Erderwärmung auf 2°C zu begrenzen, werden gesundheitliche Auswirkungen verbleiben, mit denen die Gesellschaften umgehen müssen. Daher müssen Klima-resiliente und nachhaltige Gesundheitssysteme zur Reduktion von Klimarisiken eingeführt werden (S. 29). Für Anpassungsstrategien sind insbesondere Luft Schadstoffreduktion und Lebensstil-Aspekte zu berücksichtigen (S. 31).
Herausforderungen für die medizinische Versorgung in Deutschland
Studien über Hitzewellen haben einen Anstieg der kardiorespiratorischen Mortalität und Morbidität während Phasen mit erhöhten Umgebungstemperaturen gezeigt (S. 42). Für Deutschland wird geschätzt, dass sich die jährliche Anzahl der Hitzewellen und ihrer Länge im Durchschnitt auf 4 mit insgesamt 23 Hitzewellen-Tagen pro Jahr bis Ende des Jahrhunderts erhöht (S. 49). Die Implementierung eines Smartphone-basierten Ampelsystems mit rechtzeitiger Warnung von aller Risikopatienten bzw. deren Angehörigen wird empfohlen (S. 61). Plausibel erscheint, dass Hitzeschäden bei Pflegebedürftigen unter professioneller Betreuung eher verhindert werden können als bei solchen, die allein leben oder zu Hause durch Angehörige gepflegt werden (S. 76). Die zunehmende Hitzebelastung kann auch schwerwiegende gesundheitliche Beschwerden verursachen, besonders bei vulnerablen Personengruppen. Zu diesen gehören auch Beschäftigte, die sog. Hitzetätigkeiten ausführen und/oder aufgrund ihrer Tätigkeit im Freien der Hitze direkt ausgesetzt sind. Dabei wird deren gesundheitliches Risiko durch weitere Kofaktoren wie z.B. die Art der Tätigkeit, der Berufskleidung und auch durch individuelle Faktoren wie Gesundheitszustand und Physiologie bestimmt (S. 89). Außerdem bestehen Herausforderungen für die Prävention UV-bedingter Hauterkrankungen (S. 119). Allerdings gibt es in diesem Bereich noch Forschungsbedarf (S. 129).
Steigende Temperaturen haben zudem Einfluss auf die am Allergiegeschehen beteiligten Entzündungsprozesse (S. 133). Klimawandel begünstigt auch die Ausbreitung von Infektionskrankheiten wie z.B. die Lyme-Borreliose (S. 145). Eine bundesweite online-Befragung des wissenschaftlichen Instituts der AOK zu zentralen Fragen des Klima- und Gesundheitsbewusstseins in der Bevölkerung hat ergeben, dass weiterhin deutlicher Informationsbedarf zu den gesundheitlichen Risiken des Klimawandels in der Gesellschaft besteht. Konstatiert wurde eine erhebliche kommunikative Herausforderung auf dem Weg, das individuelle präventive Verhalten zu stärken, insbesondere bei weniger sichtbaren Umweltbelastungen wie erhöhten UV-Strahlungen oder Luftschadstoffen (S. 157). Da das individuelle Konsumverhalten privater Haushalte zu einem erheblichen Teil zum globalen Treibhausausstoß beiträgt, ist die Anleitung zu einem klimafreundlichen Verhalten mit gesundheitlichen Vorteilen verbunden (S. 181 f.).
Strukturelle und organisatorische Anpassungen an den Klimawandel
In der Stadtplanung müssen Gesundheitsressourcen gestärkt und Gesundheitsrisiken gemindert werden. Dies kann durch eine innovative klimasensible Stadtplanung und Stadtentwicklung vorangetrieben werden (S. 205). Eine ganzheitliche Stadt- und Quartiers-Entwicklung kann einen wichtigen Beitrag zur urbanen Gesundheitsförderung leisten. Dabei soll ein globaler Paradigmenwechsel von Krankheitsbekämpfung zu Gesundheitsförderung durch Stärkung von Ressourcen und Potenzialen für ein gesundes Leben in Städten erfolgen. Diese Maßnahmen sollen die Gesundheitskompetenz und ein entsprechendes Handeln der Stadtbevölkerung fördern (S. 216). Die Bewältigung des Klimawandels gerade in der Gesundheitsversorgung setzt eine problemsensible Organisation von Infrastrukturen voraus. Aus sozialwissenschaftlicher Sicht interessant sind diesbezügliche institutionelle Steuerungsmechanismen sowie die Passung zu relevanten Praxisorientierungen im Versorgungsgeschehen, auch mit Blick auf notwendige Koordinationsprozesse. Herausforderungen zeigen sich auf mehreren Ebenen: im Bereich der Prävention, bei der Begleitung von längerfristigen gesundheitlichen Beeinträchtigungen sowie für ad hoc-Interventionen in Hochrisikosituationen (S. 219). In westlichen Wohlfahrtstaaten ist unumstritten, dass die Gesundheitsversorgung politisch administrativ organisiert werden muss, damit sie funktionsfähig ist und allen zur Verfügung steht (S. 221). Erforderlich ist dabei die Rückbesinnung auf die zentrale Moderatorenrolle der öffentlichen Hand. Darüber hinaus geht es nicht ohne ein Konzert von Akteuren, die sich an der Aufgabe orientieren und Steuerungsmechanismen vorfinden, die ihnen dies erleichtert (S. 229).
Diskussion
Der Versorgungs-Report Klima und Gesundheit bietet einen detailliert präsentierten Überblick über die mit dem Thema verbundenen Inhalte, Daten und Fakten in diversen Tabellen und Schaubildern. Die Erklärung der Methodenreflexion wird mit entsprechend vielfältigem statistischem Material unterfüttert. Der insgesamt von vielen ExpertenInnen erstellte Report macht einen wichtigen Aspekt des Themas Klimawandels bewusst, der oft genug nicht im Vordergrund der öffentlichen Rezeption steht. Eine auch optisch differenziert aufbereitete Quelle für vielfältige Information.
Fazit
Die angesichts der Corona-Infektion in den Hintergrund getretene Thematik des Einflusses des Klimas auf Gesundheit und Gesundheitswesen wird aus vielen Perspektiven kompetent und übersichtlich aufbereitet dargestellt. Ein sehr empfehlenswertes Buch für interessierte Leserkreise.
Rezension von
Prof. Dr. Dr. Bernhard Irrgang
Der Rezensent lehrte Technikphilosophie und angewandte Ethik an der TU Dresden
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