Kathrin Wilfert, Tatjana Eckerlein (Hrsg.): Inklusion und Qualifikation
Rezensiert von Dr. Axel Bernd Kunze, 19.08.2022

Kathrin Wilfert, Tatjana Eckerlein (Hrsg.): Inklusion und Qualifikation.
Kohlhammer Verlag
(Stuttgart) 2021.
203 Seiten.
ISBN 978-3-17-039524-4.
D: 39,00 EUR,
A: 40,10 EUR.
Reihe: Inklusion in Schule und Gesellschaft - 14.
Thema
Veränderungen im Bildungsbereich sind nicht allein eine Frage von Strukturen. Pädagogik ist in erster Linie Beziehungsarbeit, wird personal gestaltet und erfahren. Daher bleibt es wichtig, Lehrkräfte und pädagogische Fachkräfte bei neuen Herausforderungen mitzunehmen, einzubinden und fortzubilden. Der vorliegende Band fragt danach, welche Formen der Qualifizierung es braucht, wenn Inklusion in den verschiedenen Bereichen des Bildungssystems gelingen und pädagogisch verantwortlich umgesetzt werden soll.
Herausgeberinnen
Die beiden Herausgeberinnen arbeiten am Lehrstuhl für Lernbehindertenpädagogik der Ludwig-Maximilians-Universität München: Kathrin Wilfert als Akademische Oberrätin, Tatjana Eckerlein als Akademische Direktorin.
Entstehungshintergrund
Der Band ist als Festschrift anlässlich der Emeritierung Ulrich Heimlichs entstanden. Der Jubilar leitete früher den Lehrstuhl, an dem die beiden Herausgeberinnen tätig sind. Heimlichs erste Publikation zum Themenbereich Integration und Inklusion widmete sich 1985 der Frage „Integration behinderter Kinder im Regelkindergarten – Wo bleiben die sozial benachteiligten Kinder?“.
Aufbau
Der Band markiert für elf Arbeitsfelder Anforderungen an die Qualifizierung des dort tätigen pädagogischen Personals, wenn Inklusion pädagogisch gelingen soll. Die Beiträge gruppieren sich zu drei Hauptteilen:
- Inklusion und Qualifikation in Kindertageseinrichtungen und Schulen
- Inklusion und Qualifikation für Förderdiagnostik, -planung und Beratung
- Inklusion und Qualifikation an der Hochschule
Eingeleitet wird die Festschrift durch ein Vorwort der Reihenherausgeber, Erhard Fischer, Ulrich Heimblich, Joachim Kahlert und Reinhard Lelgemann, ein Grußwort von Erich Weigl, Sonderpädagoge und Ministerialrat a.D. am Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus, Wissenschaft und Kunst, der langjährig mit dem Geehrten zusammengearbeitet hat, sowie eine Einleitung aus Feder der beiden Bandherausgeberinnen.
Am Ende der Festschrift finden sich eine Bibliographie mit ausgewählten Veröffentlichungen des Jubilars, ein Abkürzungsverzeichnis und ein Autorenspiegel.
Inhalt
Im Folgenden werden aus den drei Hauptteilen jeweils zwei ausgewählte Beiträge näher vorgestellt.
1. Inklusion und Qualifikation in Kindertageseinrichtungen und Schulen
Anke König zeigt empirisch auf, wie der soziale Wandel immer stärker in der Berufswelt von pädagogischen Fachkräften in Kindertageseinrichtungen ankommt. Diese müssten sich immer mehr auf plurale und veränderte Familienformen einstellen. Hierfür brauche es nicht zuletzt ein hohes Maß an Ambiguitätstoleranz voraus. Qualifikation dürfe nicht allein als Anpassung an veränderte strukturelle Anforderungen verstanden werden, mahnt die Autorin. Ein pädagogisch verantwortlicher, souveräner Umgang mit Heterogenität und eine Praxis der Inklusion setze ein pädagogisches Grundverständnis voraus. Und hieran bleibe weiter zu arbeiten: „Eine auf (Selbst-)Reflexion gegründete Pädagogik – d.h. eine theoriedurchdrungene Praxis – gilt es in vielen Kindertageseinrichtungen noch zu entwickeln. Diese würde sich durch ein vertieftes Orientierungswissen auszeichnen, aber auch durch entsprechende Strukturen, die Reflexion im Sinne von Fach- und Teamberatung, Supervision, Coaching etc. in der pädagogischen Praxis ermöglichen“ (S. 28).
Auch Clemens Hillenbrand, der sich das Arbeitsfeld Schule vornimmt, ordnet die dortigen Qualifikationsanforderungen für Inklusion in die weitergehende Debatte um eine eigene Professionalisierung der Lehrkräfte ein. Qualifikation für inklusive Schulen richte sich sowohl an sonderpädagogische als auch allgemeinbildende Lehrkräfte, mit jeweils spezifischen Besonderheiten: Bei Ersteren stünden eher einzelne Entwicklungsbereiche im Vordergrund, wenn es um inklusionsorientierte Qualifikation gehe, bei Letzteren die curriculare Adaption angesichts des Auftrags zur Inklusion. Der Verfasser plädiert für mehr Kooperation: Sonderpädagogische Lehrkräfte haben spezifische Kompetenzen bei der Erstellung einer Förderplanung, die aber von den allgemeinbildenden Kolleginnen und Kollegen verstanden werden und umgesetzt werden müsse. Beide Gruppen müssten daher Kompetenzen in der Förderplanung erwerben.
2. Inklusion und Qualifikation für Förderdiagnostik, -planung und Beratung
Was Förderplanung im Kontext inklusiver Bildung bedeutet, vertieft Conny Melzer in ihrem Beitrag. Diese Aufgabe sei zwar mittlerweile rechtlich verankert, in den allgemeinen Schulen aber noch wenig umgesetzt. Detailliert zeigt Melzer auf, wie entsprechende Qualifizierungsmaßnahmen gestaltet werden könnten. Für sonderpädagogische Lehrkräfte sieht die Autorin dabei eine neue, spezifische Aufgabe: Sie könnten, nach eigener Fortbildung, als „Trainer on the job“ wirken.
Kathrin Wilfert und Conny Melzer weisen daraufhin, dass Schule auch eine Beratungsaufgabe habe. Und auch diese sollte ihren Teil für gelingende schulische Inklusion beitragen. Die beiden Verfasserinnen heben hervor, wie wichtig dabei ein partizipativer Ansatz ist, bei dem Inklusionskonzepte nicht übergestülpt, sondern letztlich eine Vorstellung von Inklusion von den Betroffenen selbst entwickelt werde: „Nur wenn die Beraterin bzw. der Berater der ratsuchenden Person zutraut, autonom und reflexiv zu agieren, über Verbalisierungs- und Kommunikationsfähigkeiten sowie Emotionalität zu verfügen, rational zu entscheiden und planvoll zu handeln, wird die Themeneinbringerin bzw. der Themeneinbringer eigene Lösungen finden. Und dies trifft auch für schulische Inklusion zu“ (S. 95). Vorgestellt wird am Ende eine Schrittfolge von Mutzeck, wie Fachkräfte für ein solches Verständnis von Beratung qualifiziert werden könnten: Orientierung – Information – Demonstration – Übung – Reflexion.
3. Inklusion und Qualifikation an der Hochschule
Die in den ersten beiden Teilen des Bandes genannten Aufgaben setzen auch eine entsprechende wissenschaftliche Begleitforschung voraus: ein Aufgabengebiet, dem sich der Lehrstuhl des Jubilars verschrieben hat, was im abschließenden Teil der Festschrift deutlich zum Tragen kommt. Jürgen Schuhmacher etwa plädiert dafür, mehr Schnittstellen zwischen den einzelnen Phasen der Lehrerausbildung zu schaffen – und verweist beispielhaft auf die jährlichen Austauschrunden zwischen den Münchner Lehrstühlen für Sonderpädagogik, der Regierung von Oberbayern und dem bayerischen Kultusministerium. Weitere Schnittstellen seien auch zwischen Sonderpädagogik, allgemeiner Pädagogik und Fachdidaktiken zu schaffen. Welche Fortbildungsformate in der ersten Phase der Lehrerbildung sinnvoll und wünschenswert sind, expliziert Schuhmacher an der Qualifikation von Lehrkräften für die Digitalisierung im inklusiven Unterricht. Technische Ausstattung ist das eine, ein überzeugendes pädagogisches Konzept, für das Lehrkräfte auch entsprechend qualifiziert werden, das andere, wenn die Digitalisierung der Schule tatsächlich gelingen und einen pädagogischen Mehrwert erbringen soll.
Der elfte und abschließende Beitrag des Bandes stellt in Kurzporträts explizit einzelne Forschungsprojekte des Lehrstuhls für Lernbehindertenpädagogik im Umfeld des Bandthemas vor. Eingeordnet werden diese in die Anforderungen, die mit der Ratifizierung der Behindertenrechtskonvention bildungspolitisch auf Deutschland zugekommen sind. An dieser Stelle kommt dann auch noch das berufsbildende Schulwesen in den Blick: durch das Projekt „Sonderpädagogik für Berufsschullehrkräfte“, das gemeinsam mit dem Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus zum Wintersemester 2017 entwickelt wurde. Das Projekt zielt u.a. darauf, wie Ulrike Sendelbach aufzeigt, Berufsschullehrkräfte für die individuelle Lernförderung bei Lernschwierigkeiten didaktisch zu qualifizieren. Angesichts des zunehmenden Fachkräftemangels wird diese Aufgabe für die Zukunft vermutlich noch deutlich an Notwendigkeit gewinnen.
Diskussion
Der Jubilar, dem die vorliegende Festschrift gewidmet ist, hat sich durch eine realistische Einschätzung der Chancen, aber auch Grenzen von Inklusion einen Namen gemacht. In seiner Einführung in die inklusive Pädagogik von 2019 schrieb Heimlich seinerzeit: „Teilhabe ohne Selbstbestimmung wird rasch totalitär und darf deshalb nicht zu einer Zwangsmaßnahme geraten.“ Dies gilt für die Lernenden wie für die pädagogisch Tätigen. Pädagogisch verantwortlich umgesetzt werden könne Inklusion nur, wenn der Blick auf die realen Herausforderungen der konkreten pädagogischen Praxis nicht verloren gehe, ist Heimlich überzeugt. Und noch etwas liegt ihm am Herzen: Wenn von Inklusion gesprochen wird, dürfe nicht der Blick auf die notwendigen Bedingungen verloren gehen, damit diese auch tatsächlich pädagogisch verantwortlich umgesetzt werden könne. Die Sonderpädagogik, seine eigene Disziplin, könne hierbei spezifische Kompetenzen einbringen.
Diesen Anliegen bleibt auch die vorliegende Festschrift treu. Immer wieder wird in den Beiträgen deutlich, das die Aufgaben, die Inklusion mit sich bringe, tatsächlich aus genuin pädagogischer Perspektive anzugehen seien, in diesem Fall die damit verbundenen Aufgaben im Bereich der Qualifizierung pädagogischer Fachkräfte und der damit verbundenen Begleitforschung. Wer die Festschrift liest, dem wird deutlich, welche veränderten Aufgaben der Sonderpädagogik damit zufallen. Die Disziplin hat sich mit Inklusion keinesfalls überholt – im Gegenteil. Aber – auch das macht die Festschrift an vielen Stellen deutlich – es braucht neue Modelle der Kooperation und Schnittstellenarbeit. Inklusion bleibt eine kooperative Aufgabe, bei der Sonder-, Allgemein-, Schulpädagogik, Didaktik und Fachdidaktik ihre je eigenen Kompetenzen einbringe sollten, hoffentlich ohne Kompetenzgerangel und disziplinbezogene Eifersüchteleien.
Gelingen wird dies nur, wenn Inklusion aus Perspektive der jeweiligen Disziplinen eigenständig gedacht wird. Denn Dialog und Zusammenarbeit gelingen nur, wenn die jeweilige Akteure dabei auch etwas einzubringen haben. Am Beispiel der Elementarbildung wird gleich zu Beginn der Festschrift deutlich, dass hier noch Nachholbedarf besteht. Die Kindheitspädagogik als Kind der Sozialen Arbeit ist erst dabei, sich zu einer eigenständigen Profession zu entwickeln. Dass mittlerweile vermehrt Ansätze zu einer eigenständigen Ethik der Kindheitspädagogik zu beobachten sind, kann darauf hindeuten, dass dieser Prozess künftig an Fahrt aufnehmen wird. Dies wird auch einer genuin elementarpädagogischen Sicht auf Inklusion vermutlich neue und starke Impulse geben.
Fazit
Die Festschrift hat, was bei diesem Genus nicht immer selbstverständlich ist, einen klaren thematischen Fokus und leuchtet überzeugend, pädagogisch fundiert und praxisorientiert ein wichtiges Teilthema der Inklusionsforschung aus.
Rezension von
Dr. Axel Bernd Kunze
Privatdozent für Erziehungswissenschaft an der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
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