Stefanie Schniering: Sorge und Sorgekonflikte in der ambulanten Pflege
Rezensiert von Monika Jansen, 02.03.2023

Stefanie Schniering: Sorge und Sorgekonflikte in der ambulanten Pflege. Eine empirisch begründete Theorie der Zerrissenheit. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2021. 317 Seiten. ISBN 978-3-8487-8049-5. 64,00 EUR.
Thema
Pflege in der Krise, Pflegenotstand, Pflegefachkraftmangel, ausgebrannte Pflegekräfte und vieles mehr kennzeichnet derzeit die prekäre Situation in der beruflichen Pflege. Das gesamte Berufsfeld Pflege ist in Aufruhr und im Fokus medialer Berichterstattung über alle Bereiche der pflegerischen Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland.
Um sich dem Thema grundsätzlich zu nähern, ist es notwendig sich das Handeln beruflich Pflegender in der ambulanten Pflege näher anzuschauen. Pflege kennzeichnet sich dadurch aus, dass sie die Bedürfnisse anderer Menschen in den Blick nimmt, ihre Probleme identifiziert, vorhandenen Einschränkungen wahrnimmt und daraus Handlungs- und Lösungsstrategien entwickelt und anbietet. Gleichzeitig charakterisiert sich Pflege als moralische Handlung mit dem Ziel, im besten Sinne und Interesse derjenigen zu handeln, die der pflegerischen Unterstützung bedürfen.
Mit der zunehmenden Ökonomisierung der Pflege und der damit einher gehenden Arbeitsverdichtung, der Standardisierung und Reglementierung pflegerischen Handelns verschwinden die Kernelemente pflegerischen Handelns wie Fürsorge, Mitgefühl, Anteilnahme, Beziehungsgestaltung und Individualität, über die sich die in der Pflegetätigen in ihrer beruflichen Identität definieren.
Solange diese Rahmenbedingungen bleiben und aktuell immer prekärer werden, wird sich Pflege als Beruf weder weiterentwickeln noch an Attraktivität gewinnen, um die zukünftigen Bedürfnisse und Bedarfe der Gesellschaft decken zu können.
Autorin
Stefanie Schniering ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW Hamburg) und hat im Rahmen ihrer Promotion die jetzt veröffentlichte Untersuchung „Pflegende zwischen Fürsorge und Selbstsorge – die ambulante pflegerische Versorgung alleinlebender Menschen mit Demenz“ veröffentlicht.
Entstehungshintergrund
Die vorliegende Veröffentlichung beschäftigt sich mit den Dimensionen der Sorge im Berufsalltag der Pflege und den daraus sich ergebenden Fragen nach den Handlungs- und Deutungsmustern beruflich Pflegender mit Schwerpunkt in der ambulanten Pflege.
Aufbau und Inhalt
Das 1. Kapitel beleuchtet das Thema zunächst grundsätzlich und legt die Basis für die spätere Untersuchung.
Als Untersuchungsgegenstand wählte Stefanie Schniering die Versorgung in der ambulanten Pflege, speziell die Versorgung alleinstehender Menschen mit Demenz.
Nach einem Rückblick auf die Entstehung und Entwicklung der ambulanten Pflege und deren konzeptionellen Rahmenbedingungen widmete sich die Autorin den besonderen Bedingungen der ambulanten Pflege bei alleinlebenden Menschen mit Demenz.
Dabei legt sie einen besonderen Fokus auf den professionellen Versorgungsanspruch und den standardisierten Bedingungen. Im Blick lag dabei vor allen die Entscheidungsfindung jeder einzelner Pflegekraft zwischen der subjektiven Versorgungsnotwendigkeit und den faktischen engbegrenzten Rahmenbedingungen. Bei der Betrachtung zeigte sich schnell das darin liegende Dilemma zwischen Professionalität und dem Willen Pflegender einer helfenden, auf die individuellen Bedürfnisse und die fast schon tagesaktuelle Situation bezogene Hilfeleistung. Diese beiden Pole stehen anscheinend konträr zueinander und sorgen so für eine besondere Situation in der pflegerischen Versorgung unter der nicht nur die Pflegebedürftigen, die Pflegenden und deren Angehörigen leiden und manchmal im wahren Sinne zerbrechen.
Im 2. Kapitel wird die methodische und methodologische Grundlage der Untersuchung kurz dargestellt, angefangen von der theoretischen Herangehensweise und Empirie, der Datengewinnung und Datenanalyse, bis hin zur Datenauswertung und den ethischen Aspekten der Untersuchung.
Im 3. Kapitel erfolgt die Darstellung der Ergebnisse der Untersuchung. Als Schwerpunkte identifiziert Stefanie Schniering die Zerrissenheit Pflegender in ihrer beruflichen Rolle, mit der damit einhergehenden persönlichen Betroffenheit in Abgrenzung zur Verdinglichung und Standardisierung der Handlungen und Maßnahmen im beruflichen Kontext. Stefanie Schniering fügt zum besseren Verständnis dieser prekären Situation unterschiedliche Erklärungs- und Deutungsmuster hinzu. Gleichzeitig weist sie auf die gesellschaftlichen und individuellen Bedingungen aus, wie z.B. die Macht- und Rahmenbedingungen im Deutschen Gesundheits- und Pflegesystem, die Ausbildungssituation, die Arbeitsorganisation usw.
Stefanie Schniering zeigt dann die Ergebnisse auf verschiedenen Ebenen auf und ordnet diese den Sichtweisen der Pflegenden, der Gepflegten und der Angehörigen zu. Sie identifiziert dabei unterschiedliche Bedingungen und die Möglichkeit der Beeinflussung auf allen Ebenen und vor allem auf die gesamtgesellschaftlichen Gegebenheiten. Stefanie Schniering zeigt die jeweiligen Konsequenzen in Bezug auf die Zerrissenheit im pflegerischen Setting.
Nicht zuletzt zeigt sie auf der Grundlage ihrer Untersuchung zum Thema Strategien auf, die auf die einzelnen Ebenen, oder besser auf die einzelnen Betroffenen im System Pflege positiv wirksam werden könnten.
Stefanie Schniering folgert schließlich, dass die Zerrissenheit vor allem eine fehlende Anerkennung der professionellen pflegerischen Versorgung und den dabei individuell durchgeführten Maßnahmen, Handlungsstrategien und individuellen fachlichen Entscheidungsfreiheit darstellt. In der Schlussbetrachtung führt Stefanie Schniering die Leserschaft dazu, sich in eine Diskussion und Kritik an der Arbeits- und Zeitsituation, der Sozial- und Verständigungsmöglichkeiten, der Selbst- und Naturverhältnisse zu begegnen, um die Situation der und durch die Pflege zu verbessern.
Diskussion
Zwar stehen im Fokus der Untersuchung die Handlungs- und Deutungsmuster der Pflegenden im Vordergrund, aber sie gibt auch viele Hinweise auf weitere Einflussfaktoren die die Situation der Pflege treffend beschrieben.
Eigentlich dokumentiert die Untersuchung das, was alle im Feld betroffenen schon wussten und gefühlsmäßig sofort unterschreiben würden. Offensichtlich ist, dass Pflege an ihren persönlichen, ethischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen krankt. Es stellt sich dabei heraus, dass zum einen die Diskrepanz zwischen den externen Erwartungen der Gesellschaft, der Kostenträgern, der Angehörigen und vielen weiteren Akteuren im Arbeitsfeld und zum anderen das individuelle und subjektive Selbstverständnis der beruflich Pflegenden enorm voneinander abweichen.
Schon alleine die Dimension der Pflegenden kann als ein Kennzeichen der prekären Situation in der Pflege identifiziert werden. Doch die Zusammenhänge, die zur derzeitigen prekären Situation der Pflege führen sind weitaus dedizierter und liegen weit tiefer als die sich oberflächlich zeigenden Symptome. Das was vom Beobachter der Szene gesehen wird, ist meist nur die berühmte Spitze des Eisberges. Mit der Untersuchung von Stefanie Schniering und der von ihr zusammengetragenen Ergebnisse werden viele weitere Facetten eröffnet, die bislang verborgen geblieben sind. Wer an der Situation der Pflege wirklich etwas ändern will muss tiefer schauen, muss sich auch zu vermeintlichen Nebenschauplätzen und Abgründen auf machen. Das hat Stefanie Schniering für den speziellen Bereich ambulanter pflegerischer Versorgung alleinlebender Menschen mit Demenz getan.
Die Autorin hat in ihrer Untersuchung besonders die Versorgungssituation im ambulanten Bereich und die damit verbundenen Sorgekonflikte aus Sicht der Pflegenden theoretisch beleuchtet. Sie wählte dabei unterschiedliche Perspektiven, von beruflich Pflegenden, Pflegebedürftigen, betroffenen Angehörigen aus und versuchte das gesellschaftliche Ausmaß in den Blick zu nehmen und miteinzubringen.
Auch wenn die Untersuchung nur einen Teil der pflegerischen Versorgung betrachtet. Es lohnt sich die Ergebnisse ebenso auf allen anderen Bereichen pflegerischer Versorgung zu übertragen, um sich der vielfältigen Handlungs- und Haltungsdimensionen bewusst zu werden.
Fazit
Erstmals wird auf diesem konkreten Hintergrund wissenschaftlich belegt was berufliche Pflege im ambulanten Bereich, als gesellschaftlich und gesetzlich definierte Stärkung der familiären pflegerischen Unterstützung ausmacht. Die Untersuchung betrachtet dazu die besondere Situation der ambulanten Pflege bei alleinlebenden dementen Pflegebedürftigen. Mit den sich daraus ergebenden Ergebnissen konnten erste Handlungsnotwendigkeiten und -optionen aufgezeigt werden.
Rezension von
Monika Jansen
Erziehungswissenschaftlerin (M.A.) und Master of Organizational Management (MoM), ist tätig als Referentin für ambulante Dienste, Bereich Wirtschaft und Statistik eines großen Wohlfahrtsverbandes. Langjährige Berufserfahrung in Führungspositionen der unterschiedlichen Arbeitsfelder der Altenhilfe. Herausgeberin der beiden Werke „Pflege & Management“ und Pflegehandbuch des DUZ-Verlages.
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Zitiervorschlag
Monika Jansen. Rezension vom 02.03.2023 zu:
Stefanie Schniering: Sorge und Sorgekonflikte in der ambulanten Pflege. Eine empirisch begründete Theorie der Zerrissenheit. Nomos Verlagsgesellschaft
(Baden-Baden) 2021.
ISBN 978-3-8487-8049-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28658.php, Datum des Zugriffs 01.04.2023.
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