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Alexandra Wehrmann: Oberbilk

Rezensiert von Prof. Dr. Frank Eckardt, 25.01.2022

Alexandra Wehrmann: Oberbilk. Hinterm Bahnhof. Eigenverlag 2021. 302 Seiten. ISBN 978-3-00-068745-7.

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Thema

Das Buch gibt einen Einblick in die Entwicklung des Düsseldorfer Stadtteil Oberbilk.

Autorin und Autor

Alexandra Wehrmann ist Journalistin und berichtet seit 2015 auf ihrem Düsseldorf-Blog theycallitkleinparis. Markus Luigs ist Designer und Fotograph.

Entstehungshintergrund

Die Publikation wurde von „Arbeit und Leben“ des DGB/VHS NRW e.V. und von „demokratie leben“ der Landeszentrale für politische Bildung NRW unterstützt.

Aufbau

Das Buch besteht aus einem kurzem Vorwort von einer Seite, in der die generelle Motivation für dieses Vorhaben skizziert wird, und vor allem von 38 Porträts von Bewohner*innen des Stadtteils, die auf 6 Seiten dargestellt werden und deren Meinung zu den unterschiedlichen Aspekten des Lebens in Oberbilk wiedergegeben wird.

Inhalt

Wer Zeit hat, weil sie oder er am Düsseldorfer Hauptbahnhof den Anschluss verpasst und sich einmal am hinteren Ausgang umgesehen hat, der oder die könnte das eine oder andere Bild aus diesem Buch wiedererkennen. Der sich anschließende Stadtteil Oberbilk wird in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert. Für die einen repräsentiert er die gelungene Integration von Migrant*innen, für die anderen ist er eine Art Ghetto und No-Go-Area. Spätestens als im Jahr 2016 nach den Ereignissen der Kölner Silvesternacht hier eine großangelegte Razzia unter marokkanischen Bewohner*innen stattgefunden hat, ist Oberbilk zum Symbol für eine integrationspolitische Debatte geworden, in der die Perspektive der Bewohner*innen wenig Aufmerksamkeit findet. Viele Beiträge in diesem Buch adressieren dieses Thema und geben unterschiedliche Antworten auf dem Hintergrund der persönlichen Erfahrungen.

Oberbilk steht für viele aber auch für eine Diskussion um Gentrifizierung und sozialen Zusammenhalt, Vertreibung und Segregation. Schon seit ca. zwanzig Jahren gilt Oberbilk als ein Beispiel für eine beginnende Gentrifizierung. Wie weit ist dieser Prozess inzwischen fortgeschritten, wie wird er sich in den nächsten Jahren weiterentwickeln? Diese Fragen werden immer wieder in den Portäts aufgegriffen und sie können neben der Frage nach der Integration als eine Art Leitfaden der Publikation identifiziert werden.

Beiden Fragen noch übergeordnet ist das Thema, wie sich der Stadtteil generell verändert hat und wie sich diese Entwicklung weiter fortsetzen wird. Oberbilk  wurde durch die Eisen- und Stahlindustrie geprägt und war einst ein klassischer Arbeiterstadtteil. Nachdem die letzten Industrieunternehmen Anfang der 1980er Jahre schlossen, hat Oberbilk den Strukturwandel durchlaufen, der für die altindustriellen Regionen seitdem so kennzeichnend ist. Der De-Industrialisierung folgte der soziale und wirtschaftliche Abstieg. Im Gegensatz allerdings zu vergleichbaren Städten im Ruhrgebiet, ist die Lage Oberbilks als Stadtteil der Landes-, Universitäts- und Medienstadt Düsseldorf durch eine räumliche Nähe zu den boomenden Teilen der postindustriellen Ökonomie, vor allem dem Dienstleistungssektor. Doch diese Nähe hat anscheinend einen ambivalenten Effekt auf den Stadtteil. Ermöglichten niedrige Mietkosten die Ansiedlung von Migrant*innen und anderen Menschen am Rande der Gesellschaft, so ist der Druck auf dem Wohnungsmarkt auch in Oberbilk spürbar und wird der ehemalige Arbeiterstadtteil attraktiv für Besserverdiener und Immobilieninvestoren.

Der Wandel des Stadtteils wird auch in der Auswahl der Portraitierten deutlich, die nicht nur hinsichtlich ihrer kulturellen Herkünfte gemischt ist, sondern vor allem auch Menschen zu Wort kommen lässt, die als Zugezogene gerne in Oberbilk leben. Es ist nicht verwunderlich, dass dabei viele, die eher als „bildungsnah“ zu beschreiben sind, hier Raum gegeben wird: Ein Produkt- und Möbeldesigner, drei Sozialarbeiterinnen, ein Kabarettist, ein Pfarrer, ein Bibliothekar, zwei Musiker, eine Autorin, ein Interior Designer, ein Boardinghaus-Betreiber, eine Schulleiterin, eine Künstlerin, ein Pastor, eine Bildungsreferentin, eine Erzieherin, eine Theaterpädagogin, ein Geograph, ein Stadtführer und eine Modedesignerin. Doch auch ein Rapper, eine Rentnerin, eine Einzelhändlerin, ein Fahrzeugbauer, eine Grundschülerin, ein Schneider, ein Polizist, ein Schüler, ein Dreher, ein Veranstalter, eine Pflegedienstleiterin, ein Metzger, ein Boxer, ein Gastronom und zwei Obdachlose werden mit ihrer Lebensgeschichte und mit ihrer Sichtweise auf Oberbilk dargestellt, was das Buch besonders wertvoll macht.

Diskussion

Wenn man die oben genannten, unausgesprochen leitenden Fragen dieses Buchs nach der Lektüre der vielen Porträts beantworten will, dann kann man sich der einen oder anderen Lesart von Oberbilk anschließen. Stellenweise klingt ein bisschen Melancholie, auch in den ausgewählten Fotos, an, mit der die Geschichte des Stadtteils als frühere Heimat für Arbeiter und ihre Familien, den kleinen Geschäften und einer Arbeiterkultur, die verloren zu gehen droht, wiedergegeben wird. In den meisten Porträts wird der Stadtteil gegenüber Differenz als tolerant dargestellt und wird die Normalität von Diversität betont. Besonders beeindruckend ist die Darstellung der Arbeit des integrativen Projekts „Königinnen und Helden“, dass sich den Schwierigkeiten von Aufwachsenden in marokkanischen Familien widmet. Auch andere soziale Probleme, die sich durch den Drogenhandel ergeben, oder die Prostitution werden in diesem Buch nicht ausgespart. Insgesamt erscheinen die Porträts in dieser Hinsicht ein realistisches Bild abzugeben von den verschiedenen Aspekten des Zusammenlebens in einem Stadtteil, der durch den Wegfall der Integrationsmaschine Arbeit nach neuen Formen des Miteinanders und der Solidarität suchen muss.

Während dieser gesellschaftliche Transformationsprozess noch im vollen Gange ist, ist der Prozess der Gentrifizierung wesentlich schwieriger fassbar. Aufschlussreich von daher vor allem auch das Interview mit dem Georgraphen Helmut Schneider, der nach der Razzia 2016, den Runden Tisch Oberbilk gegründet hat, und der schon 1998 Anfänge des Verdängungsprozesses thematisiert hatte (Glebe/​Schneider 1998): „Mittlerweile ist ein Aufwertungsdruck entstanden, der indirket von Großprojekten wie dem neuen Quartier Grand Central ausgeht, aber auch von Hotels, die wie Pilze aus dem Boden schießen. Folge solcher Projekte ist, dass die Mieten in den umliegenden Bestandswohnungen ebenfalls steigen.“ (S. 271). Das führt durch die Umlage von Modernisierungskosten auf die Miete zu Verdrängungen. Für manche ist diese Verdrängung nicht sichtbar, weil sie nicht mit dem Entstehen einer Hipster-Kultur einhergeht, die klischeehaft immer mit Gentrifizierung verbunden wird.  Dennoch ist die Verdrängung durchaus merkbar, wenn man sich von einem solchem stereotypen Bild löst. „In zehn Jahren wird das Viertel ein anderes sein“, meint deshalb die Schulleiterin Dr. Antonietta P. Zeoli (S. 130). Für sie ist klar, dass aber die Renovierungen der oftmals heruntergekommenen Altbauten auch positiv zu sehen ist. Wichtig ist für sie jedoch, dass die Menschen mit den steigenden Mieten nicht im Stich gelassen werden dürfen: „Wir dürfen auf keinen Fall versäumen, denen, die sich die hohen Mieten nicht leisten können, Alternativen anzubieten“. (S. 135)

Fazit

In der Stadtforschung haben sich die Themenbereiche kulturelles und soziales Zusammenleben und Gentrifizierung in den letzten Jahren stark auseinanderentwickelt. Der durch dieses Buch gewonnene Einblick in die Lebenssituation von Menschen in Oberbilk zeigt sehr deutlich auf, dass diese Spezialisierung in zwei weitgehend voneinander getrennte Diskurse an der Komplexität der lokalen Verhältnisse vor Ort vorbeigeht.

Die sensiblen und empathischen Porträts sind allesamt sehr lesenswert und bereichern unseren Blick auf einen Stadtteil, der in relativ kurzer Zeit einen massiven Abstieg als Arbeiterstadtteil und nun einen anhaltenden Aufwertungsprozess durchläuft. Das Buch erlaubt es, für das Verständnis dieser zweifachen Transformation weitergehende Hypothesen zu diskutieren. Da es sich nicht um ein akademisches Anliegen handelt, dass mit dieser Publikation verfolgt wird, ist eine solche Diskussion hier noch nicht geführt worden, aber sie wäre angesichts der gesellschaftlichen Fragmentierung, die sich hier manifestiert, dringend.

Den Herausgeber*innen ist jedoch zu danken, dass sie diesen Stadtteil zu Wort kommen lassen, der in der akademischen Stadtforschung bislang leider keine Aufmerksamkeit bekommen hat.

Literatur

Günthe Glebe, Helmut Schneider (Hrsg.): Lokale Transformationsprozesse in der Global City, Düsseldorf-Oberbilk – Strukturwandel eines citynahen Stadtteils. (= Düsseldorfer Geographische Schriften. 37). Geographisches Institut der Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf 1998, ISSN 0935-9206, S. 59ff, S. 92 ff.

Rezension von
Prof. Dr. Frank Eckardt
Professor für sozialwissenschaftliche Stadtforschung an der Bauhaus-Universität Weimar
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Es gibt 12 Rezensionen von Frank Eckardt.

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ISSN 2190-9245