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Christopher Romanowski-Kirchner: Zwischen Alltag und Time-Out

Rezensiert von Prof. Dr. Hans Günther Homfeldt, 28.09.2021

Cover Christopher Romanowski-Kirchner: Zwischen Alltag und Time-Out ISBN 978-3-7799-6358-5

Christopher Romanowski-Kirchner: Zwischen Alltag und Time-Out. Zum Nutzen der Hilfesituation zwischen Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2021. 538 Seiten. ISBN 978-3-7799-6358-5. D: 49,95 EUR, A: 51,40 EUR.

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Thema

Das Thema jugendliche Nutzer*innen zwischen Jugendhilfe- und Jugendpsychiatriesystem hat trotz nunmehr seit vielen Jahren währender Kooperationsprobleme nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Dies trifft vor allem auf die Gestaltung der Interaktionen zwischen den Professionellen der beiden Systeme zu. Von hoher Bedeutung ist vor diesem Hintergrund die Nutzenherstellung für die Kinder, Jugendlichen und Familien. Dieser Frage geht Christopher Romanowski-Kirchner in seiner qualitativ-empirischen Studie nach. Der Titel der Monographie deutet an, „dass im Nutzungsprozess immer wieder verhandelt wird, ob ein Krisengeschehen im Alltag stabilisiert werden kann oder ob ein temporäres `Time-Out` vom Alltag notwendig wird“ (S. 12). In der Studie bekommen beide Dienstleister bzw. Hilfesysteme eine jeweils spezifische Nutzenrolle zugewiesen. Für die Nutzer*innen sei dabei nicht von vorrangiger Bedeutung, so der Autor, in welchem System sich eine Hilfe verorte, als vielmehr wo und durch wen sie eine gebrauchswerthaltige Hilfegestaltung erführen (S. 12). Dazu erstellt der Autor ein empirisch begründetes Nutzenmodell in Gestalt eines Nutzenzirkels. Unter Einbeziehung beider Dienstleister durchlaufen die Nutzer*innen einen Nutzenzirkel solange, bis eine relativ autonome Lebensführung erreicht ist bzw. eine professionelle Hilfe aufgrund fehlender Nutzung abgebrochen wird.

Autor

Christopher Romanowski-Kirchner, Prof. Dr. phil., ist zwischen 2008 und 2020 Mitarbeiter und fachlicher Leiter am Coburger „Institut für Psycho-Soziale Gesundheit – Zentrum für Kinder- und Jugendhilfe“ gewesen. Seit dem Frühjahr 2020 ist er Professor für Soziale Arbeit mit dem Schwerpunkt Kinder- und Jugendhilfe an der DHBW Heidenheim.

Entstehungshintergrund

Die Monographie ist als Dissertation an der Fakultät Humanwissenschaften der Otto-Friedrich-Universität Bamberg vorgelegt worden.

Aufbau

Die Monographie gliedert sich in fünf unterschiedlich lange Teile. Teil I ist zweieinhalb Seiten lang, Teil IV über 250 Seiten. Befasst sich der sehr knappe Teil I mit jugendlichen Nutzer*innen zwischen Jugendhilfe und Jugendpsychiatriesystem (S. 11-13), so geht es im Teil II in fünf Kapiteln um theoretische Bezüge der Untersuchung, z.B. um den sozialpädagogischen Diskurs zur Gesundheit, um Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie sowie um Wirkungen und Nutzen im Kontext von Eingliederungs- und Erziehungshilfen. Im Zentrum des Teils III stehen Fragestellung und Methodologie. Hier geht es um die Entwicklung der Fragestellung, um das Feld und um die jugendlichen Nutzer*innen beider Systeme. Ferner werden das Forschungsinventar (problemzentriertes Interview und Grounded-Theory) wie auch Fragen von Erhebung und Datenauswertung dargestellt. Teil IV expliziert Ergebnisse auf der Grundlage des Nutzenzirkels vor dem Hintergrund des sozialpädagogischen Diskurses von Gesundheit und Krankheit. Zu Sprache gebracht werden Bedingungskategorien des Nutzens zwischen Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie (z.B. Beziehungserfahrungen mit Professionellen und Hilfeorientierungserleben), aber auch institutionelle Strukturkontexte im Nutzengeschehen wie auch Partizipations- und Kooperationserleben im Hilfeprozess. In diesem umfangreichen Teil IV geht es ferner um Nutzungs- und Nichtnutzungsstrategien zwischen Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie. Im abschließenden Teil V wird zusammengefasst und werden Schlussfolgerungen mit Blick auf die Forschungsfragen gezogen. Es geht u.a. um die Einordnung der Nutzenbedingungen im Kontext der Wirk- und Nutzenfaktoren, aber auch um Konsequenzen für eine nutzer*innenbezogene Praxis der Jugendhilfe mit Blick auf die Jugendpsychiatrie. Angesprochen werden schlussendlich auch Limitationen der Studie wie auch weitere Fragestellungen für die Disziplin der Sozialen Arbeit.

Inhalt

In den ersten beiden Kapiteln des zweiten Teils arbeitet Christopher Romanowski-Kirchner die theoretischen Bezüge von Sozialer Arbeit und Gesundheit als Framing für seine Untersuchung heraus. Eine besondere Relevanz fällt der sozialen und gesundheitlichen Ungleichheit zu und zwar auf der Grundlage des salutogenetischen Ansatzes, psychische Gesundheit und Krankheit als biopsychosozialen Prozess zu verstehen. Thematisiert werden im Kontext der Rahmungsreflexionen zur Bewältigung von Stressoren Grundannahmen der psychologischen Bewältigungstheorie, sozialisationstheoretische Bewältigungsmodelle, ausgewählte Annahmen der Resilienzforschung (im Hinblick auf die Ressourcenausstattung). Gemeinsam ist den verschiedenen biopsychosozialen Bewältigungstheorien, dass sie „Bewältigungsprozesse als interaktionelles Geschehen zwischen inneren und äußeren Stressoren und den zur Verfügung stehenden und sich ebenfalls dynamisch entwickelnden inneren und äußeren Bewältigungsressourcen“ (S. 44) sehen.

Im zweiten Abschnitt des Kapitels zwei wird Jugend als biopsychosoziale Bewältigungslage herausgearbeitet und dabei auf dem Hintergrund des Lebensbewältigungskonzepts von Lothar Böhnisch das Konzept der psychischen Störungen entwickelt. Anschließend geht es im Kontext psychischer Störungen um die Bereitstellung alternativer Erfahrungsräume als Aufgabe Sozialer Arbeit, insbesondere auch der Klinischen Sozialen Arbeit. Im Falle einer psychischen Störung im Jugendalter geht es im Rahmen der Jugendhilfe um die Herstellung adaptiver Formen der Lebensbewältigung. Sie sind von denen der Jugendpsychiatrie abzugrenzen (S. 70).

Entsprechend werden im dritten Kapitel des zweiten Teils die institutionellen Aufgaben von Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie auf dem Hintergrund der jeweiligen Sozialgesetzbücher (in Bezug auf das SGB VIII die Hilfen zur Erziehung in den §§ 27 ff und die Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche im § 35a) mit Blick auf die Einordnung der qualitativ empirisch ermittelten Ergebnisse herausgearbeitet. Die kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung handelt in der Logik des Gesundheitssystems (SGB V). Beide Systeme weisen Überschneidungen auf, aber sie unterscheiden sich auch deutlich (S. 83). Nicht zuletzt deshalb würden sich beide Systeme in ihrer Differenz brauchen und im besten Fall Heranwachsenden zur Bewältigung der Aufgaben der Lebensführung zu einer sozialen Unterstützung verhelfen.

Das nachfolgende vierte Kapitel des zweiten Teils befasst sich ausführlich mit den Wirkungen und dem Nutzen im Kontext der Eingliederungs- und Erziehungshilfen allgemein und im Schnittfeld der Jugendpsychiatrie. Wirkungen und Nutzen werden dabei aus der Nutzer*innensicht in den Blick genommen. Der Autor hebt hervor (S. 88), dass es bislang keine Studie gebe, „die explizit den Nutzen und die Nutzung dieser komplexen Hilfesituation zwischen Dienstleistungen des Systems Jugendhilfe und des Systems Jugendpsychiatrie/​-psychotherapie sowie die damit in Verbindung stehenden Bedingungsfaktoren zu rekonstruieren versucht“ (S. 88). Eingegangen wird allgemein zuerst auf die Entwicklung des Wirkungsdiskurses in der Sozialen Arbeit aus unterschiedlicher Perspektive. Vorzugsweise geht es dem Autor um die Darstellung von wirkmächtigen Prozess- und Strukturmerkmalen im Jugendhilfekontext auf der Grundlage der Wirkungsforschung in der Sozialen Arbeit, um anschließend auf die Wirkungsforschung im Schnittpunkt zwischen Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie und theoretisch allgemein auf die Perspektive der Betroffenen einzugehen. Dabei werden „user studies“ ebenso angesprochen wie die Nutzer*innenforschung. Sie wird schlussendlich anhand der nutzer*innenbezogenen Forschung im Kontext der Erziehungs- und Eingliederungshilfen auf die eigene Fragestellung gerichtet und spezifiziert. Angesprochen wird Nutzen als dynamischer Prozess in Gestalt von Verlaufskurven aus der Nutzer*innenperspektive. Um die Bedingungsdynamiken im Kontext der Erziehungs- und Eingliederungshilfen für Jugendliche unter Einbeziehung psychiatrischer Behandlungshilfen und vor allem, wie diese von den Nutzer*innen eingeschätzt werden, geht es in den Teilen III und IV.

Im Teil III wird dazu die Fragestellung weiter expliziert und daran anschließend die Forschungslogik (Kapitel zwei) erläutert. Dazu gehören Fragen ihrer Umsetzung, inklusive ihrer Schwierigkeiten und Lösungsversuche. Eingangs stellt der Autor entlang seiner Praxiserfahrungen, seiner Literaturrecherche und einer Erläuterung seines Samples die Entwicklung seiner Fragestellung dar. Das Kapitel zwei ist sehr breit angelegt (z.B. durch Ausführungen zu wissenschaftstheoretischen Grundannahmen). Problemzentriertes Interview und Grounded Theory sind seine Erhebungs- und Auswertungsverfahren. Die Leitfadenkonstruktion, der Zugang zum Feld, die Zusammensetzung des Samples, forschungsethische Prämissen, der Ablauf der Interviewsituationen werden ausführlich begründet. Es folgt die Darstellung der Analysesequenzen (mit einem Beispiel vom Code zur Kategorie) im iterativ-zyklischen Forschungsprozess.

Im Teil IV wird „das integrierte Prozessmodell der Nutzenentwicklung zwischen den Dienstleistungen der Systeme Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie und die Kernkategorie des Nutzens der Hilfesituation“ (S. 199) im Schnittfeld beider Systeme dargestellt. Anhand der Prozesskategorien Nutzenbedingungen, Handlungsstrategien und Nutzenaspekte erfolgt eine ausführlich begründete Aufschlüsselung der Kernkategorie des Nutzens. Im Fokus stehen die einzelnen Nutzenaspekte zwischen Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie. Dabei zeigen sich die Nutzenaspekte auch als Phasen.

Der vierte Teil beginnt mit der Zusammenfassung der Einzelergebnisse zum daraus entwickelten Nutzenzirkel. Es folgen dann Einzelausführungen zu den jeweiligen am Material entwickelten Kategorien. Der Verfasser hält fest, die Darstellungslogik entspreche „dem Dreischritt von Nutzenbedingungen, darauf bezogene Handlungsstrategien und sich daraus ergebenden, nutzenbezogenen Konsequenzen“ (S. 201). Diese würden im Ablauf des Nutzenzirkels dargestellt.

Der Nutzenzirkel wird vom Verfasser verstanden als eine Rekonstruktion der Interaktionsprozesse der Nutzer*innen mit allen Dienstleistungen von Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie. Zu diesen zählen auch die Kooperationen zwischen beiden Systemen wie auch Überschneidungen in den Nutzenaspekten. Die Kernkategorie des Nutzens in der Sicht der Nutzer*innen ist auf der Grundlage der Rekonstruktion aus den Interviews, durchaus in Übereinstimmung mit Entwicklungsaufgaben des Jugendalters, die innere und äußere Autonomie im Sinne einer eigenständigen, selbstverantwortlichen Lebensführung gewonnen worden. Innere Autonomie wird als weitgehendes Freisein von den Zwängen des Störungserlebens verstanden, die äußere Autonomie als relative Unabhängigkeit von anderen Personen. Wie sich beide Formen im Einzelnen darstellen, wird an Ausführungen aus den Interviews sichtbar. Für die Entwicklung von Autonomie ist seitens der Dienstleister eine gewisse Flexibilität vonnöten, insbesondere in den Übergängen. Die Nutzer*innen durchlaufen Prozesse des Nutzens bis hin zur Beendigung der Hilfen. Beginnend mit der Ausgangslage wird zusammenfassend das zirkuläre Modell des Nutzenprozesses im Rahmen der Dienstleistungsinteraktion von Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie vom Autor beschrieben. Am Ende des Nutzenprozesses steht eine geglückte oder nichtgeglückte eigenständige Lebensführung. Im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie geht es in der Interaktion mit den Professionellen vor allem um die „psychische Arbeitsebene“, das meint die Beeinflussung der emotional-kognitiven Ebene der Problemsituation; im Jugendhilfekontext stehen hingegen die alltagsbezogenen Bewältigungsnotwendigkeiten im Vordergrund. Dabei stehen oftmals Fragen der Kooperation zwischen beiden Systemen im Vordergrund. Sichtbar werden in den Ausführungen von Christopher Romanowski-Kirchner trotz physischer Teilnahme der Heranwachsenden der „innere Abbruch“ bzw. die „innere Kündigung“ einer Maßnahme. Dabei stehen auch Schädigungserfahrungen zwischen den Systemen im Zentrum von Reflexionen. Es zeigt sich, dass positive Verlaufskurven auch immer wieder, an Beispielen verdeutlicht, von intensiven Krisensituationen unterbrochen werden können. Veranschaulicht werden allgemein die Verlaufsmöglichkeiten an einem Gesamtmodell des Nutzenzirkels entlang der Bedingungen, Handlungsstrategien und Nutzenkonsequenzen (S. 224).

Unterschieden wird in allgemeine und spezifische Bedingungen. Als allgemeine Nutzenbedingungen wurden identifiziert: Beziehungserfahrungen mit Professionellen und erlebte Hilfeorientierung der Professionellen. Als spezifische Nutzenbedingungen: Ausgangslage (Bedarfssituation), institutioneller Strukturkontext, Verankerung im normalen Leben, Einfluss hilfebeteiligter „Dritter“, Partizipationserleben und Kooperationserleben. Die Aspekte stehen in einem inneren Zusammenhang und konstituieren das Passungserleben.

Christopher Romanowski-Kirchner beschreibt und spezifiziert zuerst die beiden allgemeinen Bedingungen. Die Beziehungserfahrungen mit Professionellen werden gegliedert in: erlebte Haltung der Fachkraft gegenüber den Nutzer*innen, das Erleben von Empathie und lebensweltlichem Verstehen, Vertrauen in und durch die Fachkräfte, das Erleben von Wertschätzung und das Erleben von Kontinuität professioneller Beziehungen. Die einzelnen Facetten werden mit Hilfe von Textausschnitten aus den problemzentrierten Interviews illustriert.

Die zweite allgemeine Bedingung, das Hilfeorientierungserleben, wird verstanden als „die durch die Nutzer*innen in der konkreten Hilfeinteraktion erlebte Orientierung der professionellen Interventionsinteraktion“ (S. 261). Nachfolgend werden auch zu dieser Oberkategorie einzelne Unterkategorien anhand von Textauszügen verdeutlicht, z.B. das Hilfeorientierungserleben als Grundlage und Barriere einer Nutzung.

Ausführlich werden die spezifischen Bedingungen, beginnend mit der Kategorie des Hilfeeintritts, thematisiert (S. 277 ff.). Mit Hilfeeintritt ist auch der Übertritt von einer Institution der Jugendhilfe in die Jugendpsychiatrie, zumindest ein Bruch des bisherigen Alltags gemeint. In der ersten Kategorie geht es noch nicht um erlebte Gestaltung der Übergänge, sondern um die nutzer*innenseitigen Ausgangsbedingungen. Sie sind äußerst divers. Grundsätzlich kann von einem selbstbestimmten und fremdbestimmten Hilfeeintritt gesprochen werden. Erlebte Zwangssituationen können die Nutzung der Angebote erschweren.

Ein wichtiger Aspekt der Nutzung beider Dienstleistungen ist die Aufrechterhaltung oder Entwicklung der lebensweltlichen Bezüge, also eines Lebensbezuges jenseits der Einrichtungen von Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie. Der Autor schreibt von „Verankerung im normalen Leben“ (S. 288 ff.). Eingeschlossen ist dabei der Einfluss hilfebeteiligter „Dritter“. Nicht zuletzt deshalb sind auch Elternteile (z.B. „Frau Lutz“) Interviewbeteiligte, nicht nur im Hinblick auf sozialisatorische Prozesse, sondern auch wegen Fragen des konkreten Nutzens von Hilfeangeboten. Sichtbar wird auch, dass das Aufgeben des Einbezugs von Eltern bzw. die Elternarbeit (Beispiel „Anna“) durchaus den Hilfenutzen für die Jugendliche erhöhen kann. Einen anderen wichtigen Beziehungsaspekt, der die Nutzung von Angeboten beeinflussen kann, bilden die Peerbeziehungen, insbesondere das Zugehörigkeitsgefühl.

Von großer Bedeutung im Nutzengeschehen wird der institutionelle Strukturkontext angesehen. Er bezieht sich auf die Angebotsstruktur (auf Abläufe, Vorgaben und Taktungen), die den Alltag je nach Art der Dienstleistungen (ambulant, teilstationär, stationär) bestimmen. Vor allem jedoch ist die Personalstruktur (Verfügbarkeit, aber auch Fachlichkeit) relevant. Relativ flexible, oftmals schwache Strukturen finden sich im Blick der interviewten Nutzer*innen im Bereich der ambulanten Jugendhilfe, während ambulante Psychotherapie bisweilen als zu wenig flexibel angesehen wird. Als besonders stark/eng strukturiert wird die geschlossene Psychiatrie eingestuft (totale Strukturierung des Alltags). Nicht unbedingt negativ wird dies von „Marla“ in der total strukturierten suchttherapeutischen Einrichtung gesehen. Es zeigt sich in der Sicht der Interviewten, dass allgemeine Angebote in den Einrichtungen ihren Gebrauchswert verlieren können. Von großer Bedeutung gilt aus der Nutzer*innenperspektive in quantitativer wie qualitativer Hinsicht -wie bereits angesprochen- die personale Struktur. Nicht zuletzt gilt dies im Bereich der Qualität für Eigenschaften wie Auftreten, Persönlichkeits- und Interaktionsstil, aber auch insbesondere für die klinische Fachlichkeit, indem die professionelle Person mit Störungserleben umzugehen versteht bzw. in welcher Weise die verschiedenen Arbeitsebenen der Nutzung verfügbar sind. Christopher Romanowski-Kirchner unterscheidet hier zwischen einer reflexiv-interaktionellen und biopsychischen Beeinflussung (psychische Arbeitsebene) sowie einer direktiv-kompetenzbezogenen sowie sozial-integrativen Arbeitsebene.

Zwei weitere bedeutsame Aspekte sind die Phänomene der Partizipation und Kooperation, insbesondere im Schnittfeld zwischen Kinder- und Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie. Thematisiert werden Partizipations- und Kooperationserleben. Beide bilden für die Nutzer*innen eine duale Einheit. Partizipation ist die Beteiligung der Nutzer*innen an den sie betreffenden Entscheidungen und Handlungen (S. 336) im Rahmen der beiden Dienstleister. Sichtbar werden Beispiele für „Scheinpartizipation“ als auch solche gelungener Partizipation. Der Autor stellt heraus, Partizipation könne wegen eines Zuviels an Selbstbestimmung in akuten Krisen auch überfordernd wirken und wenig zielführend sein. Eine partizipative Gestaltung zeichne sich durch ein dynamisches, subjektorientiertes Handeln im Dialog zwischen Nutzer*innen und Professionellen aus (S. 341). Kooperation meint „das zweckgerichtete Zusammenarbeiten zwischen den unterschiedlichen Hilfesystemen […], bezogen auf die biopsychosozialen Bewältigungsaufgaben der Nutzer*innen“ (S. 342). Am Ende des zweiten Kapitels des vierten Teils werden Partizipations- und Kooperationserleben als verbundene Nutzenbedingungen der Hilfesituation zwischen Jugendhilfe und Jugendpsychiatrier reflektiert. Nutzenbedingungen sind als ein dynamisches Arrangement zu fassen: Die Fallbeispiele zeigen, dass eine eingangs negativ wahrgenommene Gebrauchswerthaltigkeit sich positiv wenden kann; jedoch gilt dies auch umgekehrt. Überwiegend berichten die Interviewten von positiven Nutzensequenzen. Es werden jedoch auch Beispiele für Nichtnutzenstrategien in Gestalt offenen und latenten Widerstands vorgestellt: latenten Widerstands in Form von Scheinanpassung (z.B. aufgrund expertokratischer Wirklichkeitsdurchsetzung) und Vermeidung.

Geht es in den ersten Kapitels des vierten Teils vorrangig um die Bedingungen der Nutzbarmachung der jeweiligen Dienstleistungen zwischen Erziehungshilfe und Jugendpsychiatrie, so richtet sich im ausführlichen vierten Kapitel der Blick auf „den potentiellen Nutzen der jeweiligen Dienstleistungen“ (S. 363). Es geht dabei um die Frage, „inwiefern sich im Prozessgeschehen spezifische Nutzenaspekte und damit über die institutionelle Rahmung hergestellte typische „Rollen“ der Systeme aus der Nutzer*innenperspektive erkennen lassen“ (S. 363). Vorgestellt werden auf diesem Hintergrund die phasenbezogenen Gebrauchswertkategorien der jeweiligen Dienstleistungen. Stabilisierung stellt sich als eine beide Systeme übergreifende Nutzenkategorie heraus. Nicht immer vollzieht sich eine Stabilisierung erwartungsgemäß („Stabilisierungskrisen“ z.B. in Form psychischen Störungserlebens). Stabilisierungskrisen können zur Überforderung in der Erziehungshilfe führen und die „schützende Funktion psychiatrischer Stationen“ (S. 380) im Sinne einer notwendig werdenden Entlastung vom Alltag nötig werden lassen. In den Interviews erhält dabei die Eindämmung psychischer Symptome mittels pharmakologischer Behandlung der Psychiater*innen mit dem Ziel einer biopsychischen Stabilisierung im Blick von Interviewten eine nicht unwichtige Rolle. Gleichwohl spielt die Medikation zur Frage ausschlaggebender Nutzenbedingungen im Vergleich zu sozialpädagogischen und psychotherapeutischen Interaktionen eine untergeordnete Rolle (S. 381). Angesprochen werden im Kontext der Kategorie psychischer Stabilisierung als erster Phase möglicher Nutzungsprozesse sowie einer relativen Belastungsfähigkeit auch Fehlpassungen im Sinne einer Nichtnutzengeschichte.

Die zweite Phase möglicher Nutzung benennt Christopher Romanowski-Kirchner als psychosoziale Bewältigungsarbeit. Entsprechend der subjektiven Gebrauchswerthaltigkeit vollzieht sich die Bewegung der Nutzer*innen dabei zwischen Erziehungshilfe und Jugendpsychiatrie/​Psychotherapie. Es lassen sich in diesem Zusammenhang durchaus systemübergreifende Nutzenaspekte rekonstruieren. Insgesamt spielen dabei eher immaterielle Nutzenaspekte eine größere Rolle in den Erzählungen als konkrete materielle Hilfeaspekte (z.B. in Form des Bezuges einer eigenen Wohnung). Letztere können jedoch auch als Ermöglichungsvehikel für einen immateriellen Nutzen dienen. Herausgestellt wird ebenso die professionelle emotionale Unterstützung, u.a. auch in Form einer unspezifischen emotionalen Unterstützung (etwa als innere Verarbeitung und Klärung im Kontext psychosozialer Bewältigung). Psychosoziale Bewältigung wird verstanden als „psychische Integration traumatischer oder psychisch nicht verarbeiteter Ereignisse“ (S. 407).

Übergeordnete Nutzenaspekte beider Dienstleister stellen die bewältigungsbezogene Entwicklung von personalen und sozialen Ressourcen dar. Konkret sichtbar wird die Entwicklung einer personalen Ressource am Beispiel der Entwicklung einer Selbstwirksamkeitserwartung zwischen Klinik und Alltag und grundsätzlich eines Selbstverständnisses sowie einer Veränderung des Selbstkonzeptes. Bei den sozialen Kompetenzen geht es z.B. um die Entwicklung sozialer Beziehungen und um die Integration in bedeutsame Teilsysteme (z.B. um familiale Beziehungen).

Nach den Stabilisierungsphasen und der Entwicklung von Kompetenzen und Ressourcen geht es in einem weiteren Schritt um den Austritt aus den jeweiligen Systemen, am besten in ambulanten Settings über eine Phase der Konsolidierung um eine Bewährung bzw. Festigung bzw. Sicherung im „echten Leben“. Es zeigt sich, dass das Störungsgeschehen bei den einzelnen Interviewten sehr unterschiedlich wahrgenommen wird. Es reicht bis zu Problemeskalationen nach der Hilfebeendigung.

In einem weiteren Abschnitt wird das Gegenteil von Nutzen, nämlich Schädigungserleben zwischen Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie thematisiert, indem Hilfeangebote als überfordernd, unpassend oder gar in Interaktionen im Dienstleistungskontext als traumatisierend empfunden werden. Hervorgehoben werden auch biophysische Schädigungen im Kontext psychiatrischer Dienstleistungen aufgrund von Medikationsbehandlungen.

Der abschließende fünfte Teil fasst die empirischen Ergebnisse und Erkenntnisse aus dem vierten Teil mit Rückbezug auf den zweiten Teil zur Wirkungsforschung zusammen. Schlussendlich werden Limitationen der Studie zur Einordnung der Ergebnisse dargestellt. Eingangs werden die drei Forschungsfragen (die Nutzenaspekte der beiden Systeme, die Nutzenbedingungen, die Bewältigung der biopsychosozialen Problematik) zusammenfassend beantwortet. Anschließend geht es um die Rolle von Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie/​-psychotherapie in den Reflexionen der Nutzer*innen, u.a. um die Vielfalt der Nutzungswege. Die Darstellungen des Verfassers bleiben trotz des Anspruchs zusammenzufassen überaus facettenreich und detailliert. Gleiches gilt für die Einordnung der Nutzenbedingungen im Kontext der bekannten Wirk- und Nutzenfaktoren (z.B. zu Partizipation und Kooperation).

Limitationen der Studie bezieht der Autor u.a. auf die pragmatische Fallauswahl und darauf, dass keine Rückbindung der Ergebnisse an die Nutzer*innen stattgefunden hat. In einem nächsten Kapitel folgen weitere mögliche Fragestellungen für die Soziale Arbeit. Es folgen Überlegungen zu Konsequenzen für eine nutzer*innnbezogene Praxis der Jugendhilfe am Schnittpunkt zur Jugendpsychiatrie. Christopher Romanowski-Kirchner hebt hervor, dass die Konsolidierungsphase bzw. die Beendigung der Hilfen eine kritische Phase für den weiteren Verlauf bilden, z.B. aufgrund negativer Eskalationen nach Beendigung der Hilfen. Zum Schluss merkt der Autor an, dass die problemzentrierten Interviews ihm verdeutlicht haben, dass es die Nutzer*innen verstehen, sich sehr differenziert mit ihren Erfahrungen zwischen Erziehungshilfe und Jugendpsychiatrie auseinanderzusetzen.

Diskussion

Die Studie von Christopher Romanowski-Kirchner will zeigen, welche Prozesse des Nutzens bis hin zur Beendigung der Hilfen die Heranwachsenden zwischen Erziehungshilfe und Jugendpsychiatrie/​Psychotherapie durchlaufen. Dazu erstellt der Autor ein zirkuläres Modell des Nutzens im Rahmen der Dienstleistungsinteraktion von Erziehungshilfe und Jugendpsychiatrie. Die Facetten des Nutzens werden anhand von Auszügen aus problemzentrierten Interviews belegt. Hierin liegt die empirisch fundierte Leistung der Studie. Aufgrund ihres vielfältigen Erkenntnisgewinns liefert sie mannigfache Anregungen für weiterführende Studien. Die Vielfalt der Ergebnisse macht es dem Rezensenten aber nicht immer leicht, dem vorgezeichneten Roten Faden folgen zu können. Zwischenzeitig entstand die Idee, eine zweite auf diese Studie fußende Monographie so zu fassen, dass sie für Professionelle in Erziehungshilfe und Jugendpsychiatrie/​Psychotherapie zu einer ihre Praxis qualifizierenden Lektüre wird, zumal die inhaltlichen Darstellungen dafür eine gehaltvolle Fundgrube bilden. -

Das biopsychosoziale Verständnis von Gesundheit und Krankheit liefert die theoretische Rahmung. Sie wird im zweiten Teil ausführlich vorgestellt, sicherlich getragen von der Vorstellung, auf sie im Schlussteil bei der analytischen Explikation zurückzugreifen. Dies hätte in meiner Sicht noch dichter geschehen können.

Ausführlich werden in allgemeiner Hinsicht Ergebnisse zur Nutzen- und Wirkungsforschung im zweiten Teil der Studie referiert. Da es sich hier vorwiegend um Vorwissen handelt, hätte darauf weitgehend verzichtet werden bzw. bei Bedarf im vierten Teil bei der Interpretation der empirischen Ergebnisse von Fall zu Fall eingebaut werden können.

Fazit

Diese überaus materialreiche qualitativ-empirische Studie, die – nunmehr positiv gewendet – auch Grundlagenwissen (z.B. zur Wirkungs- und zur Nutzer*innenforschung) für interessierte Leser*innen anbietet, ist keine leichte Lektüre, nicht zuletzt wegen oftmals komplizierter sprachlicher Wendungen (lange Satzkonstruktionen, Heinrich von Kleist hätte vielleicht seine Freude daran gehabt!). Gleichwohl überzeugt der Erkenntnisreichtum. Dieser kann für Anschlussprojekte, vielleicht auch bereits für qualitativ angelegte Masterarbeiten Anregungen für spezifische Fragestellungen liefern, insbesondere zur Nutzer*innenforschung.

Rezension von
Prof. Dr. Hans Günther Homfeldt
Prof. em. an der Universität Trier, Fach Sozialpädagogik/ Sozialarbeit
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Zitiervorschlag
Hans Günther Homfeldt. Rezension vom 28.09.2021 zu: Christopher Romanowski-Kirchner: Zwischen Alltag und Time-Out. Zum Nutzen der Hilfesituation zwischen Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2021. ISBN 978-3-7799-6358-5. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28668.php, Datum des Zugriffs 04.12.2024.


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