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Christian Abegglen: Unternehmen neu erfinden

Rezensiert von Prof. Dr. Christian Philipp Nixdorf, 27.07.2021

Cover Christian Abegglen: Unternehmen neu erfinden ISBN 978-3-96251-087-9

Christian Abegglen: Unternehmen neu erfinden. Das Denk- und Arbeitsbuch gegen organisierten Stillstand. Frankfurter Allgemeine Buch (Frankfurt am Main) 2021. 2., vollständig überarbeitete Auflage. 208 Seiten. ISBN 978-3-96251-087-9. D: 29,00 EUR, A: 29,80 EUR, CH: 40,90 sFr.

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Autor

Prof. Dr. Christian Abegglen, Wirtschaftswissenschaftler, ist Mitbegründer und Präsident der St. Galler Business School (SGBS) sowie Ehrenpräsident der St. Galler Gesellschaft für Integriertes Management. Er ist u.a. als Executive Senior Advisor am Institut für Supply Chain Management der Universität St. Gallen tätig, Mitglied im Harvard Club of Boston und Verfasser zahlreicher Beiträge im Bereich Integriertes Management, Strategie und Unternehmungsentwicklung.

Thema

Unter Zugrundelegung eines systemischen Verständnisses von Management, welches das St. Galler Management Konzept auszeichnet, beleuchtet Christian Abegglen, was die Aufgabe des Managements in Unternehmen ist. Er schildert, welche Wirkfaktoren und Anspruchsgruppen im Management mitgedacht werden müssen, um in sich wandelnden Umwelten langfristig erfolgreich zu sein. Zudem setzt der Autor sich mit der Frage auseinander, wann Adaption (Optimize) und wann Neu-Erfindung (Reinvent) im Unternehmen angezeigt ist. Er liefert und erläutert Werkzeuge, wie Veränderungsbedarfe analysiert und wie Veränderungen initiiert werden können.

Aufbau und Inhalt

Das Werk Unternehmen neu erfinden ist bei Frankfurter Allgemeine Buch, dem Verlag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, erschienen. Es umfasst 214 Seiten. Zieht man die Seiten ab, auf denen sich das Inhalts-, Abbildungs- und Literaturverzeichnis sowie Register und ganzseitige Fotos befinden, finden sich inhaltliche Sachinformationen auf ca. 175 Seiten. Auf diesen Seiten befindet sich nicht nur der Fließtext, in dem der Autor schreibt, wie Unternehmen sich neu erfinden – oder das gerade nicht tun – können, sondern es finden sich dort auch dutzende Zitate, Fotos, Schaubilder, Exkurse, Querverweise und Piktogramme, die den Text ergänzen. Ein Anliegen des Autors ist es, Leser*innen dabei zu unterstützen, Herausforderungen, Lösungsoptionen und Entscheidungen im Management integriert, aus einer systemischen Perspektive heraus, zu betrachten. Er will einen Ordnungsrahmen bereitstellen, der das (Er-)Finden neuer Handlungsoptionen in turbulenten Zeiten erleichtert.

Christian Abegglen legt den Fokus im Buch auf die Frage, wie Manager*innen erkennen können, ob es in ihrem Unternehmen einer Anpassung oder radikalen Neu-Erfindung von Prozessen und Gegebenheiten im Unternehmen bedarf. Er legt Möglichkeiten dar, wie prozessual und kommunikativ vorgegangen werden kann, um die nötigen Veränderungen zu erreichen und konstant zu analysieren, ob sie den gewünschten Erfolg bringen. Das tut der Autor primär mittels Bezugnahme auf das von Hans Ulrich und Walter Krieg begründete St. Galler Management Modells, das später von Knut Bleicher und auch vom Christian Abegglen selbst weiterentwickelt wurde. Obgleich es im St. Galler Management Modell unterschiedliche Strömungen gibt und das Modell, wie gesagt, in den letzten 50 Jahren weiterentwickelt wurde, ist eine Konstante, dass das Modell von systemtheoretischen und kybernetischen Überlegungen geprägt ist. Die Betonung des kontingenten, prozessorientierten Zusammenspiels von Umwelt, Organisation und Management steht im Fokus. Dieses Zusammenspiel konstituiert sich mittels Kommunikation im Unternehmen und vom Unternehmen in seinen Umwelten. Bedeutsam für das Modell ist ebenfalls das Denken in Rückkopplungsschleifen, also das Reflektieren dessen, welche Folgewirkungen gewisse Interventionen ggf. erst zeitverzögert haben können.

Der Autor zitiert Knut Bleicher mit den Worten, dass sich die Welt zwar künftig einer immer größer werdenden Komplexität ausgesetzt sehen werde“, dass „erst wenige Unternehmen aber verstehen würden, dass der richtige Umgang mit Komplexität zum Kern jeder Management-Aufgabe gehören werde. Damit würde die Art und Weise, wie wir Unternehmen managen, einen fundamentalen Wandel erfahren. Komplexitätsbewältigende Instrumente wie den St. Galler Ansatz helfen dabei, ist der Autor überzeugt“ (S. 19). Wie dieser Ansatz Führungskräften und Organisationsentwickler*innen in der Praxis helfen kann, ihr Unternehmen mittels eines proaktiven Mindsets neu zu denken, wie Management funktioniert (oder besser funktionieren könnte), ist Christian Abegglens Thema in Unternehmen neu zu erfinden. Er reflektiert, warum und wie Management heute anders gedacht werden muss, als das in vielen Organisationen noch immer geschieht. Dabei setzt sich der Autor immer wieder mit der Frage auseinander, wann es für Unternehmen besser ist, auf kleinere Neuerungen bei weitgehender Beibehaltung des Erprobten, also auf Optimierung (inkrementeller Fortschritt) zu setzen, und wann es probat sein kann, ganz neu an Dinge heranzugehen etwas quasi Revolutionäres zu wagen (disruptiver Fortschritt). Das Buch liefert Denk- und Arbeitsanregungen, Probleme im Management nicht nur als Probleme, sondern auch als mögliche Chancen zu sehen, um nötige Veränderungen anzugehen. Der Autor selbst beschreibt die Thematik seines Buches so: „Unternehmen neu erfinden: Das ist das Denk- und Arbeitsbuch dazu. Werkzeuge und Anleitungen zum Nachdenken, Überdenken, Gestalten, Abbrechen und Aufbrechen gegen Stillstand helfen dabei. Es gibt keine feste Regel, womit Sie beginnen. […] Je öfter Sie die aus der St. Galler Schule stammende Methodik nutzen, desto besser enträtseln Sie Ihr Unternehmen, erkennen Sie, ob »Reinvent« oder »weiter wie bisher«“ (S. 5).

Eine Besonderheit des Buches ist, dass sich im Text zahlreiche Zitate von Unternehmer*innen und diversen anderen Personen finden, deren Darlegungen vom Autor hinsichtlich ihrer Bedeutung für integriertes Management kontextualisiert werden. „Unternehmen unterliegen, ebenso wie die Natur, bestimmten Zyklen. So können für Unternehmen, die gerade gegründet wurden, andere Faktoren ausschlaggebend für den Erfolg sein als für Unternehmen, die schon viele Jahre erfolgreich am Markt agieren. […] Wichtig ist daher, die Strategie permanent zu hinterfragen und gegebenenfalls neue Stoßrichtungen zu entwickeln bzw. Anpassungen an die Gegebenheiten des Marktes und des Unternehmens vorzunehmen“, erklärt Bettina Würth, die Vorsitzende des Beirats der Würth-Gruppe, die Weltmarktführer im Vertrieb von Montage- und Befestigungsmaterial ist in Christian Abegglens Buch (S. 12). Auf Seite 13 findet sich dann folgendes Zitat von Kim-Eva Wempe, Geschäftsführerin der Gerhard D. Wempe KG, die auf Herstellung und Vertrieb von Luxusuhren und Schmuck spezialisiert ist: „Hochwertige mechanische Uhren sind extrem kompliziert. Unsere GLASHÜTTE Uhren bestehen aus bis zu 400 Einzelteilen. Dabei sind alle Einzelteile miteinander verbunden und haben ihre Funktion. Ein Laie kann sich an einer solchen Uhr zwar erfreuen, doch kann er sie kaum durchschauen. Ein begnadeter Uhrmacher schon. Er hat das nötige Wissen über Einzelteile und das Ganze. Somit: Kompliziertheit ist ein Maß für Unwissenheit. Sie verschwindet durch Lernen“.

Die obigen Zitate stehen exemplarisch für das, was Unternehmen neu erfinden wie ein roter Faden durchzieht. Dieser Faden ist nicht gerade gespannt, sondern im Sinne des Obliquity-Ansatzes von John Kay (2012) mit viele Schleifen und Knoten versehen, die Querlesen, Zurückblättern und Verknüpfen von Informationen aus unterschiedlichen Bereichen erfordern. Es geht dem Autor um die Auseinandersetzung mit der Frage, wann und wie Unternehmen sich verändern müssen, um weiterhin erfolgreich sein bzw. bleiben zu können. Selbst jene Organisationen, die sich nicht ändern wollen, müssen das schließlich dennoch tun, wenn sie nicht an Erfolg einbüßen oder gar von der Konkurrenz vom Markt gefegt werden wollen. Nokia und Kodak haben das gezeigt. Eine sich auf den ersten Blick widersprüchlich anhörende Aussage, die unterschiedlichen Urheber*innen zugesprochen wird, lautet, dass derjenige, der gleich bleiben wolle, sich verändern müsse. Das ist keineswegs ein Widerspruch, sondern eine Konsequenz der Kontingenz. Was ist, kann auch anders sein. Da die Umwelt, in der man sich bewegt und mit der man interagiert, sich im Laufe der Zeit ändert, muss man selbst darauf reagieren – oder es proaktiv antizipieren – und somit die eigenen Denk- und Handlungsmuster anpassen, sich also verändern, um weiterhin erfolgreich, also gleich, zu bleiben.

Das Buch ist unterteilt in einen Teil 1 (Leseraum, S. 29–111) und in einen Teil 2 (Arbeitsraum, S. 112–195). Der Leseraum dient dem Ziel, Leser*innen mit dem St. Galler Denk- und Wissensnavigator und dem St. Galler Management HAUS vertraut zu machen. Er soll dabei unterstützen, schreibt der Autor (S. 18), „erst grob den Handlungsbedarf herauszukristallisieren, dann die aktuelle Position sowie Ziele für eine vielleicht neue Welt zu finden und den künftigen Kurs zu bestimmen, diesen Prozess iterativ von Neuem zu durchlaufen, um schließlich überzeugt und sicher dorthin navigieren zu können“. Der Autor skizziert unter Zuhilfenahme diverser Schaubilder den St. Galler Management-Ansatz (S. 36 ff.). Er beschreibt Grundlagen sowie Werkzeuge der Unternehmensentwicklung, die später im Buch umfassender erläutert werden. Mit Hilfe des auf den Seiten 64 ff. beschriebenen Bauplans „St. Galler Management HAUS“ soll Leser*innen ermöglicht werden, Prozesse im Unternehmen zum Funktionieren zu bringen und zu optimieren, indem sie dazu informiert werden und Werkzeuge an die Hand bekommen, wie Prozesse auf normativen, strategischen und operativen Etagen miteinander verknüpft werden können. Mittels des Rekurses auf Erkenntnisse des Organisationspsychologen Dietrich Dörner (Die Logik des Misslingens) geht der Autor dabei auch auf die Bedeutsamkeit dessen ein, etwaige Wechselwirkungen mitzudenken.

Die Informationen dazu, wie das gelingen kann, werden im Buch mehrfach wiederholt, was der Autor als bewusste Redundanzen bezeichnet, die er gewählt hat, um den Lerngewinn zu steigern. Es werde „spiralförmig hin- und zurückgedacht (Iteration) – idealerweise auf unterschiedlichen Ebenen“, schildert Abegglen (S. 24). „Wir befassen uns mit deren »Rotatoren« gegen organisierten Stillstand“, erklärt der Autor. Der St. Galler Denk- und Wissensnavigator sei, so führt er aus, „das allumspannende, wichtigste Werkzeug für Unternehmensentwicklung, nebst seinen Instrumenten, deren Nutzen und Anwendung Sie auf den folgenden Seiten kennenlernen werden“ (S. 45). Sich einer metaphorischen Sprache bedienend, erklärt der Autor, es gehe darum, die Bausteine, mit denen Leser*innen Raum-Module für das Management HAUS zu planen, zu errichten, auszubauen, zurückbauen oder den einzelnen Räumen einen neuen Anstrich zu geben. „Die Raum-Module werden im Denk- und Arbeitsbuch in Seitenansichten in Form roter Quadrate sowie dreidimensional in transparenten Würfeln dargestellt“, beschreibt Abegglen. Durch Transparenz „werden die blauen Grundflächen dargestellt. Diese finden sich beim St. Galler Denk- und Wissensnavigator wieder“ (S. 45). Dieser soll Leser*innen dabei unterstützen, ihr Unternehmen metaphorisch gesagt „wie aus dem Cockpit eines Helikopters zu umkreisen, um aus verschiedenen Flughöhen mit Ihrer Führungsmannschaft bislang verborgene Marktchancen zu finden, aber auch nicht mehr kongruente Verhaltensweisen einzelner Akteure zu identifizieren“ (S. 44).

Der St. Galler Denk- und Wissensnavigator unterteile sich in „einen Vorausschaubereich, einen Lage- bzw. Beurteilungsbereich, einen Ziel- und Kursbereich […] sowie den Fahr- und Manövrierbereich“, schreibt der Autor (S. 45). Der Navigator soll Leser*innen Orientierung verschaffen und „auf den Weg zu einem universellen Prozess der Problemlösung“ führen, was stets im Sinne eines integrierten Managements erfolgen solle. Der Text sei, erklärt Abegglen (edb.), aber „kein Buch mit einer Ansammlung unbefriedigender Situationsbeschreibungen und verheißungsvollen Patentrezepten, sondern ein Werk, welches Sie am Ende zu Lösungen führt, die Sie selbst […] schwarz auf weiß zu Papier bringen werden. Dabei wenden Sie das Zwiebelschalenprinzip an – die Metapher für das Vorgehen von AUSSEN nach INNEN.“ Was das bedeutet und wie es vonstattengeht, beschreibt der Autor in seinem Buch. Wichtig sei es dabei, so schildert der Autor, zu berücksichtigen, „dass das Sichtbare aus der Historie resultiert. Hard-fact-orientierte Erfolge verabschieden sich, wenn Sie lediglich an den Stellschrauben der Vergangenheit drehen, selbst wenn diese einst wirkungsvoll waren“ (S. 44). Kurzum macht Abegglen auf die Gefahren dessen aufmerksam, von der Vergangenheit auf die Zukunft zu schließen und sich in falscher Sicherheit zu wiegen, weil man bisher erfolgreich gewesen ist. In einer volatilen Umwelt könne es schließlich sein, dass der Blick auf die Vergangenheit wenig Nützliches verspricht, was für die Zukunft anwendbar ist (Anmerkung des Rezensenten: Wer mehr darüber erfahren will, warum dies so wichtig ist, dem sei die Lektüre dies Aufsatzes The Myopia of Learning von Daniel Levinthal and James March wärmstens empfohlen. Sie dazu das Literaturverzeichnis).

Damit, wie man mit einem zukunftsorientierten Mindset ausgestattet an die Arbeit gehen und sich mit der Sicherstellung dessen befassen kann, dass das eigene Unternehmen erfolgreich bleibt, befasst sich der Autor im Arbeitsraum des Buches auf den Seiten 112 ff. Es geht in diesem Textteil darum, „Unternehmen in den Phasen des St. Galler Denk- und Wissensnavigators zu bewerten, zu konfigurieren und bei Bedarf neu auszurichten“, erklärt Abegglen (S. 114). Es finden sich im Arbeitsraum Abbildungen und Fragen, die man sich stellen sollte sowie Analyse-Werkzeuge und Management-Instrumente. Diese Werkzeuge sollen Leser*innen dabei helfen, sich ein umfassende(re)s Bild vom eigenen Unternehmen zu machen. Eine sorgsame Ist-Analyse ist schließlich die Basis dafür, um die Organisation adäquat zu erneuern und weiterzuentwickeln. Dass in diesem Arbeitsbereich die Perspektive gewechselt und von Lesen ins Handeln gegangen werden soll, zeigt sich auch darin, dass das Buch um 90° nach rechts gedreht werden muss, um mit ihm arbeiten zu können, da die Druckrichtung des Textes bzw. der Abbildungen hier geändert ist. Wer zum Arbeitsbereich gelangt und das Buch dreht, kommt also im wahrsten Sinne des Wortes ins Handeln.

Diskussion

Unternehmensentwicklung ist, das betont der Autor, ein nie abgeschlossener Prozess, für den es kein Patentrezept gibt. Alfred Korzybski (1994;1933) verwies schon vor gut 90 Jahren auf die Fallstricke (aber auch den möglichen Nutzen) vereinfachender Modelle. Er prägte das in der Wissenschaftstheorie geflügelte Wort „The map is not the territory“. Ein Modell ist ein Modell. Es ist nicht Wirklichkeit, sondern vereinfachte Wirklichkeit, aber gerade dadurch nützlich, weil komplexitätsreduzierend, wobei man nie vergessen darf, dass die Welt komplexer ist, als das Modell suggeriert. Dessen ist sich Christian Abegglen bewusst. „Das Kopieren von Management-Rezepten oder das in fester Reihenfolge vorgegebene Ausfüllen von zig Checklisten“ garantiert im Ergebnis noch lange kein erfolgreiches Handeln, schreibt er (S. 21). Sein Anliegen ist es nicht, zu suggerieren, ein immer gültiges Patentrezept zu haben. Er präsentiert in seinem Buch unter Zuhilfenahme des St. Galler Management-Modells schlichtweg Anregungen, wie integriertes, komplexitätsbewältigendes Management vonstattengehen kann, aber nicht gehen muss. Der Autor ist vom Nutzen seines Modells überzeugt, betont aber dennoch die Kontingenz seiner Darlegungen. Er weiß um die Grenzen von Modellen und maßt sich nicht an, die eine beste Strategie gefunden zu haben. Diese müssen Manager*innen in Unternehmen selbst (er-)finden – und zwar immer wieder neu, ist der Autor überzeugt.

Christian Abegglen geht es darum, Denk-Anstöße zum Management zu liefern und Leser*innen einen Werkzeugkasten an die Hand zu geben, aus dem diese sich bedienen können, aber nicht bedienen müssen. Er will zum Nachlesen, Eintragen, Anschauen, Arbeiten, Schulen und Beraten einladen und in Kombination mit digitalen, praktischen Lehr- und Arbeitshilfen sowohl Kopf- wie auch Bauchentscheider*innen Lesenswertes bieten. Zu fragen ist nun freilich, ob dem Autor das mit Unternehmen neu erfinden gelungen ist. Die kurze Antwort lautet: Ja. Da der Informationsgehalt dieser Minimal-Antwort relativ dürftig ist und der Autor sich in seinem Buch immerhin mit Komplexität befasst, erscheint es geboten, der Komplexität in dieser Rezension Rechnung zu tragen, indem genauer beleuchtet wird, was es mit dem Werk Christian Abegglen auf sich hat und inwieweit sich die Lektüre für wen (nicht) eignet, um sich an die Arbeit zu machen, um das eigene Unternehmen also neu zu erfinden.

Festzuhalten ist zunächst einmal, dass das Buch deutlich anders ist als viele der sich am Markt zu findenden Business-Bücher. Die meisten Lehr- und Fachbüchern zum Management (wie z.B. Wöhe et al. 2016, Vahs & Schäfer-Kunz 2015 oder Schreyögg & Koch 2020) sind eher sachlich und schlicht gehalten. Abegglens Buch ist bunt und durchgehend farblich gestaltet. Zudem ist der Fließtext um zahlreiche Schaubilder, Fotos, Buchvorstellungen und Zitateinschübe ergänzt, vergleichbar mit Büchern wie Agile Organisationsentwicklung von Oestereich & Schröder (2019) oder Organisation für Komplexität von Niels Pfläging (2014). Unternehmen neu erfinden wirkt wie eine ausgesprochen bunte Collage aus Interviews, Gedankenskizzen, Arbeitsanregungen und Ergebnispräsentationen aus Workshops und Bar-Camps, in denen sich Menschen (nicht nur Manager*innen) über ihre Arbeit ausgetauscht haben. Das Vorgehen des Autors erinnert ein wenig an den Stil von Karl Weick in Der Prozess des Organisierens (1985), da beide Autoren sich Inspiration für ihre Überlegungen aus ganz unterschiedlichen Bereichen holen (bei Weick z.B. aus der Orchester-Leitungen und von Feuerwehrkräfte, bei Abegglen z.B. von Astronauten und Eisbergen). Manche Anekdoten und Zitate scheinen vordergründig nichts mit Management zu tun zu haben, halten aber doch Implikationen bereit, die auch im Management von Relevanz sind.

Vom Vorgehen und Text-Design des Autors dürften sich in erster Linie solche Manager*innen, Unternehmensberater*innen und Organisationsentwickler*innen angesprochen fühlen, die lieber Frederic Laloux (Reinventing Organizations) und Brian Robertson (Holocracy) statt Nils Brunsson (The Irrational Organization) oder James March (The Pursuit of Organizational Intelligence) lesen. Christian Abegglens Zielgruppe dürften primär Menschen sein, die sich als expeditive, leistungsorientierte Performer begreifen. Es handelt sich um eine international ausgerichtete, leistungsversierte Zielgruppe, in der Berater*innen Consultants, Alleinstellungsmerkmale Unique Selling Points, Chancen Opportunities, Leistungsträger*innen High Performer und Chancen-Risiken-Abwägung SWOT-Analysen genannt werden. Um sie adäquat anzusprechen, ist es folgerichtig, dass der Autor so schreibt, wie er das tut. Dies hier hervorzuheben ist daher keineswegs als negative Kritik gemeint. Es ist lediglich als Hinweis für potenzielle Leser*innen zu verstehen. Abegglen richtet sich mit seinem Buch an Menschen, die eine hohe Offenheit gegenüber Neuem (sowohl im Handeln wie auch in der Präsentation dieses Handelns) mitbringen. Menschen mit eher konservativem Mindset sind wahrscheinlich auch wenig geneigt, ihr Unternehmen gänzlich neu zu erfinden. Ob sie sich vom Text angesprochen fühlen, ist daher eher fraglich.

Eine Gefahr, die mit der experimentellen Informationspräsentation verbunden ist, die der Autor in seinem Buch an den Tag legt, ist sicherlich dass sich manche Leser*innen von diesem collagenhaft-modernen Vorgehen eher abgeschreckt statt angesprochen fühlen, weil sie Struktur vermissen, das viele „Denglisch“ im Text ablehnen und ihnen das Werk insgesamt zu bunt und verspielt vorkommt. Wer sich Informationen am liebsten mittels der Lektüre von viel Text schwarz auf weiß aneignet und einen konservativeren, wissenschaftlicheren Stil bevorzugt, für den kann es beim Durcharbeiten des Buches von Christian Abegglen zu einer regelrechten Reizüberflutung kommen. Außerdem ist zu sagen, dass es für Leser*innen, die mit dem St. Galler Management Konzept nicht vertraut sind, schwer sein kann, sich in Unternehmen neu erfinden zurechtzufinden, weil die Hintergrundinformationen zu dem vorgestellten und angewandten Modell doch recht spärlich ausfallen. Im Buch Das Konzept Integriertes Management von Knut Bleicher (2004), den Christian Abegglen selbst zitiert und auf dem basierend er im Herbst 2021 eine Neuauflage besagten Buches herausbringt, sind die Grundlagen des St. Galler Management Konzept deutlich umfangreicher sowie in einem klassischen Fachbuch-Stil beschrieben.

Alles in allem ist zu sagen, dass der Autor mit dem St. Galler Management Konzept einen Werkzeugkasten präsentiert, in dem sich Instrumente finden, mittels derer Unternehmen sowohl auf normativer, strategischer und operativer Ebene analysiert und bearbeitet werden können. Das Vorgehen, für das der Autor plädiert, ist von systemtheoretischen Überlegungen geprägt, was die Lektüre auch für systemisch arbeitende Organisationsberater*innen interessant macht. Es finden sich am Markt zwar so manche Publikationen, in denen der Nutzen der Systemtheorie auch fürs Management betont wird (hervorzuheben sind vor allem die Werke des Carl-Auer Verlags), es ist aber auch so, dass konkrete systemische Methoden (und vor allem Gesamt-Konzepte), die sich in der alltäglichen Management-Praxis anwenden lassen, in vielen Büchern eher spärlich gesät sind. Es mangelt oft an verständlichen, praxisorientierten Arbeitsinstrumenten, die sich wirklich nutzen lassen. Das Verdienst des Autors ist es, dass er solche in seinem Buch liefert. Betont werden muss aber auch, dass längst nicht alle Menschen, die sich für integriertes Management interessieren, das vom Autor Präsentierte auch wirklich anwenden und umsetzen können – einfach deshalb nicht, weil sie in der „falschen“ Organisation und/oder auf der „falschen“ Stelle im Unternehmen sitzen.

Das Maximum aus der Lektüre von Christian Abegglens Buch herausholen können Menschen, die ein hohes Maß an Gestaltungs- und Veränderungsmacht in ihrem Unternehmen haben. Dem strategischen Element dessen, eine Vision zu haben, wohin es gehen soll und wofür das eigene Unternehmen steht, wird im Text denn auch viel Raum gegeben (was sich metaphorisch gesagt auch in manchen Fotos zeigt, die sich im Buch finden und die z.B. space debris im Weltall oder die Welt vom All aus betrachtet zeigen, was die Notwendigkeit indiziert, eine neue, umfassendere Perspektive einzunehmen). Einiges von dem, was in Unternehmen neu erfinden angeregt wird, können nur Personen leisten, die auf Positionen sitzen, auf denen sie Einfluss nicht nur auf das operative Geschäft, sondern auch auf die strategische Ebene nehmen können. Team- und Abteilungsleiter*innen oder OE-Fachspezialisten in Stabsstellen können das oftmals nur bedingt. Das heißt nicht, dass diese Personen nicht von der Lektüre des Buches profitieren können – ein gut gefüllter Methoden-Koffer ist schließlich immer hilfreich, um nicht dem Fehler anheimzufallen, sich jeder stellenden Aufgabe immer mit dem gleichen Werkzeug anzunehmen, weil man nur dieses eine hat. Aus eigener Erfahrung als Angestellter, der ein Faible für integriertes Management hat, als Angestellter in Unternehmen aber sehr weit unten in der Hierarchie stand, will der Rezensent nur auf folgende Paradoxie aufmerksam machen: Statt die eigene positive Macher-Mentalität zu befeuern, kann die Lektüre von Christian Abegglens Buch bei Personen, die gerne mehr gestalten würden, die eine Vision haben, wie ihre Organisation aussehen könnte und was zwecks dessen getan werden müsste, auch zu Frust und Resignation führen. Das kann dann geschehen, wenn sich diese Personen gewahr werden, was alles möglich wäre, worauf sie aber mangels Macht keinen Einfluss nehmen können. Diese Erfahrung dürfte vielen top qualifizierte Mitarbeiter*innen in Wirtschaftsunternehmen (wie auch im Öffentlichen Dienst), die auf eher „einfachen“ Posten sitzen, durchaus vertraut sein.

Summa summarum kann der Rezensent die Lektüre des Buches Unternehmen neu erfinden empfehlen. Er empfindet das vom Autor gewählte Design durchaus als ansprechend, an manchen Stellen hat er es aber als zu bunt empfunden und hätte das Credo des Weniger-ist-mehr bevorzugt. Auch hätte sich der Rezensent manchmal etwas mehr Strukturiertheit gewünscht. Diese will Christian Abegglen aber gar nicht bieten. Er schreibt selbst, dass es bei ihm „keine feste Regel“ gäbe, womit Leser*innen beginnen. „Das Inhaltsverzeichnis dient der Orientierung, die Reihenfolge ist nicht zwingend einzuhalten, Vor- und Zurückblättern ist ausdrücklich erwünscht“ (S. 5). Dieses Vor- und Zurückblättern hat der Rezensent tatsächlich oft vorgenommen, um nachzuvollziehen, was der Autor jeweils darlegt und welche Relevanz das für die Management-Thematik hat. Es ist dem Text anzumerken, dass die Lektüre zum Quer-Denken (im gestalterischen Sinne) anregen soll. Der Autor will das Mindset der Leser*innen hin zu einer Gelingens-Unterstellung des Das-kriegen-wir-hin statt Das-klappt-hier-eh-nicht bewegen. Es geht ihm darum, Leser*innen aufzuzeigen, dass es hilfreich sein kann, die Perspektive zu wechseln, wenn man sich mit vermeintlichen Problemen konfrontiert sieht. Der Autor will das Bewusstsein dafür schaffen, dass Probleme keineswegs per se schlecht sein müssen, sondern dass sie auch als Chancen begriffen werden können. Warum das so ist und wie das gelingen kann, legt Christian Abegglen verständlich und ansprechend dar.

Fazit

Leser*innen, die Unternehmen managen oder als Unternehmensberater*innen oder Organisationsentwickler*innen tätig sind, finden im Text viele Denkanstößen und Werkzeugen, die die Entscheidung erleichtern, wie sie vorgehen können, um Prozesse zu analysieren und ins Handeln zu kommen. Das Buch zeigt Möglichkeiten auf, wie strukturiert analysiert, reflektiert und dokumentiert werden kann, ob in einer Organisation eher ein inkrementelles oder ein disruptives Lernen nötig ist. Der Autor gibt Leser*innen Werkzeuge an die Hand, mittels derer Gegebenheiten und Prozesse sowohl auf normativen, strategischen wie auch operativer Ebene bearbeitet werden können. Zudem zeigt er die Verbindungslinien dieser Ebenen auf. Für Leser*innen, die mit dem St. Galler Management Konzept nicht vertraut sind, kann es allerdings schwer sein, sich im Text zurechtzufinden. Wer das Konzept schon kennt oder mit ähnlichen Management-Modellen vertraut ist, kommt im Buch auf seine Kosten. Wer sich Instrumente wünscht, die helfen, den Ist-Zustand im Unternehmen systematisch zu erfassen, Soll-Zustände zu visionieren und Change-Prozesse gekonnt umzusetzen, für den ist Unternehmen neu erfinden ein sehr lesenswertes Anregungs- und Arbeitsbuch. Aufgrund der Besonderheit des Layouts müssen Leser*innen aber des Öfteren umblättern und quer lesen. Dem innovativen Quer-und Vernetz-Denken kann das indes nur förderlich sein.

Literatur

Bleicher, Knut: Das Konzept Integriertes Management. Frankfurt und New York 2017 (9. Aufl.)

Brunsson, Nils: The Irrational Organization. Irrationality as a Basis for Organizational Action and Change. Chichester u.a. 1985

Dörner, Dietrich: Die Logik des Misslingens. Strategisches Denken in komplexen Situationen. Hamburg 2003

Kay, John: Obliquity – Why Our Goals Are Best Achieved Indirectly. London 2012

Korzybski, Alfred: Science and Sanity. An Introduction to Non-Aristotelian Systems and General Semantics. Englewood 1994

Laloux, Frederic: Reinventing Organizations. Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit. München 2015

Levinthal, Daniel A.; March, James G.: The Myopia of Learning. In: Strategic Management Journal Vol. 14, Special Issue: Organizations, Decision Making and Strategy (Winter 1993), Abrufbar unter: https://www.jstor.org/stable/​2486499 (12.07.2021)

March, James G.: The Pursuit of Organizational Intelligence. Malden 1999

Oestereich, Bernd; Schröder, Claudia: Agile Organisationsentwicklung: Handbuch zum Aufbau anpassungsfähiger Organisationen. München 2019

Pfläging, Niels: Organisation für Komplexität: Wie Arbeit wieder lebendig wird – und Höchstleistung entsteht. München 2014

Robertson, Brian J.: Holacracy. Ein revolutionäres Management-System für eine volatile Welt. München 2016

Schreyögg, Georg; Koch, Jochen: Management: Grundlagen der Unternehmensführung. Wiesbaden 2020

Vahs, Dietmar, Schäfer-Kunz, Jan: Einführung in die Betriebswirtschaftslehre. Stuttgart 2015

Weick, Karl E.: Der Prozeß des Organisierens. Frankfurt am Main 1985

Wöhe, Günter; Döring, Ulrich; Brösel, Gerrit: Einführung in die Allgemeine Betriebswirtschaftslehre. München 2016

Rezension von
Prof. Dr. Christian Philipp Nixdorf
Sozialwissenschaftler, Diplom-Sozialarbeiter/-pädagoge (FH), Sozial- und Organisationspädagoge M. A., Case Management-Ausbilder (DGCC), Systemischer Berater (DGSF), zertifizierter Mediator, lehrt Soziale Arbeit und Integrationsmanagement an der Hochschule der Wirtschaft für Management (HdWM) in Mannheim.
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Zitiervorschlag
Christian Philipp Nixdorf. Rezension vom 27.07.2021 zu: Christian Abegglen: Unternehmen neu erfinden. Das Denk- und Arbeitsbuch gegen organisierten Stillstand. Frankfurter Allgemeine Buch (Frankfurt am Main) 2021. 2., vollständig überarbeitete Auflage. ISBN 978-3-96251-087-9. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28678.php, Datum des Zugriffs 04.10.2023.


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