Wiebke Wüstenberg, Kornelia Schneider: Ich - du - wir
Rezensiert von Petra Evanschitzky, 25.08.2021

Wiebke Wüstenberg, Kornelia Schneider: Ich - du - wir. Wie Kinder in den ersten drei Lebensjahren ihre Beziehungen miteinander gestalten: Erkenntnisse aus Forschung und Praxis. Was mit Kindern GmbH (Berlin) 2021. 2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. 515 Seiten. ISBN 978-3-96791-006-3. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR.
Thema
Die Autorinnen widmen sich der Entstehung und Gestaltung von Beziehungen, die bereits sehr junge Kinder untereinander eingehen. Sie gehen den Fragen nach, wie Kinder unter drei dabei vorgehen, was sie für sich entwickeln, welche Kompetenzen sie dafür mitbringen und weiter ausbauen. Und sie setzen das Thema in den Kontext der Kindertagesbetreuung, die Antworten darauf finden muss, wie sie Kindern für deren Beziehungsgestaltung den Raum schafft.
Die erste Auflage des Werkes erschien 2014 unter dem Titel „Was wir gemeinsam alles können. Beziehungen unter Kindern in den ersten drei Lebensjahren.“ beim Cornelsen Verlag GmbH (Berlin). Für die bei wamiki erschienene zweite Auflage haben die Autorinnen das Thema komplett überarbeitet und erneut in den Kontext der aktuellen internationalen Forschung gesetzt.
Autorinnen
Wiebke Wüstenberg, Diplom Pädagogin, Professorin i.R. Frankfurt University of Applied Sciences; Arbeitsschwerpunkte in Lehre, Forschung, Weiterbildung: Frühe Kindheit, Kinderschutz, Pikler-, Reggio- und Freinetpädagogik, Betreuungsmodelle in Kitas, Kinder- und Familienzentren.
Kornelia Schneider, Erziehungswissenschaftlerin und Bildungsreferentin (i. R.), bis 2009 wissenschaftliche Referentin am Deutschen Jugendinstitut in München. Interessenschwerpunkte: Frühe Bildung und Lerngeschichten, Situationsansatz, Pikler- und Reggiopädagogik, Raumwahrnehmung und Konfliktverhalten von Kindern.
Entstehungshintergrund
Auch wenn die jüngsten Kinder inzwischen eine feste Größe in der Kindertagesbetreuung darstellen und sich die deutsche Forschung eingehend mit deren Bedarfen und den Konsequenzen für die Frühpädagogik beschäftigt, findet der wissenschaftliche Diskurs zur Bedeutung der jungen Kinder untereinander und die Auseinandersetzung mit daraus abzuleitenden pädagogischen Konzepten nach Wahrnehmung der Autorinnen im deutschsprachigen Raum nur am Rande statt. Die Frage „Wie schaffen es die Kinder, untereinander Beziehungen einzugehen und für ihre eigene Entwicklung davon zu profitieren?“ ist daher aktueller denn je.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist nach einem Vorwort und einer ausführlichen Einführung in 6 Hauptkapitel mit jeweils mehreren Unterkapiteln gegliedert. Die Kapitelüberschriften selbst geben bereits eine Orientierung für das darin enthaltene Thema. Neben einem sehr ausführlichen Literaturverzeichnis findet sich auch ein Indexverzeichnis mit zentralen Schlüsselbegriffen und entsprechenden Seitenverweisen.
Die Autorinnen bewegen sich mit ihren Ausführungen auf drei wesentlichen Ebenen: Sie stellen das Material dar, auf das sie sich beziehen: internationale Studien, Beobachtungen aus der Praxis und eigene Forschungen. Sie ziehen Schlussfolgerungen, machen eigene Interpretationen transparent und leiten fachliche Implikationen ab. Und auf der dritten Ebene erläutern sie kontinuierlich, wie sie zu ihrer Auswahl kamen, was ihre Motive jeweils waren und welche Empfindungen sie bei ihrer ausführlichen Recherche hatten. Farblich abgesetzt sind Beobachtungssequenzen aus Studien, anhand derer spezifische Aspekte verdeutlicht werden können. An relevanten Stellen finden sich Fazit und Erkundungsfragen für die eigene Reflexion
Vorwort. Die Autorinnen richten sich mit persönlichen Zeilen an die Leserschaft, machen ihre Beweggründe transparent und erläutern ihre fachliche Positionierung.
Einführung. Dieser Abschnitt trägt den Untertitel „Was wir wissen, hängt davon ab, worauf wir schauen“. Hier zeigen die Autorinnen auf, in welchen Spannungsfeldern sich Forschung, insbesondere frühpädagogische Forschung bewegt und welche Entwicklungen sich gerade abzeichnen. Es wird bereits deutlich, dass vor allem die internationale Forschung neue Wege beschreitet, Wissen und Verstehen zu generieren.
Kapitel 1: Zehn Gründe, sich mit Beziehungen unter Kleinkindern zu befassen. Die Autorinnen beschreiben das derzeitige Wissen über die Entwicklung von Kleinkindern vor allem im Hinblick auf deren Fähigkeit, Beziehungen einzugehen. Sie formulieren diese Ausführungen als Motiv und Anlass, sich eingehender mit den Beziehungen zu beschäftigen und erläutern Kontextbedingungen und Problematiken für die Forschungsarbeit bei den jüngsten Kindern.
Kapitel 2: Kleinkinder entwickeln untereinander eine eigene Kultur. Die Bedeutung des kindlichen Spiels ist in Forschung und Praxis unbestritten. Welche spezifischen Merkmale es bei den Kleinkindern aufweist, wird mit dem von der schwedischen Forscherin Løkken geprägten Begriff „Toddler Style“ umfasst. Sehr detailliert zeigen sich hier die Facetten des kindlichen Spiels, abgeleitet aus den internationalen Studien, die die Autorinnen als Belege ausführen. Es wird zweierlei deutlich: Im Spiel der Kinder zeigt sich die Auseinandersetzung mit ihrer Lebensumwelt und der gegebenen Kultur einerseits: „Kleinkinder sind Kulturträger“ (S. 118). Und sie kreieren dabei andererseits ihre eigene Kultur: „Gerade in ihrer Fähigkeit, Gruppenspiele auf die Beine zu stellen, zeigt sich ihr Potenzial, eine eigene Kultur zu entfalten“ (S. 119). Das Kapitel schließt mit Erkundungsfragen für die Leserschaft, sich auf die Spuren dieser kulturellen Aneignung und Schöpfung bei den Jüngsten zu machen.
Kapitel 3: Fähigkeiten, die Babys und Kleinkinder in Spielpartnerschaften zu zweit entwickeln. In zwölf Unterkapiteln gehen die Autorinnen sehr detailliert auf die spezifischen Kommunikations- und Interaktionsformen der Jüngsten untereinander ein. Von der Mimik über die Gestik und den Einsatz des ganzen Körpers bis hin zur verbalsprachlichen Verknüpfung zeigt sich die reiche Palette an Möglichkeiten, die die Kinder bereits nutzen, um sich zu verständigen und Gemeinsamkeit herzustellen. Bereits bekannte und beschriebene Phänomene, wie z.B. Imitationsstrategien der Kinder, So-tun-als-ob-Spiele oder das so genannte Parallelspiel erscheinen durch den Detailblick in einem neuen Licht: „Entgegen der traditionellen Sichtweise, die Parallelspiel als mangelnde Gruppenreife einstuft, führten Beobachtungen zu einer neuen Bewertung: das Parallelspiel ist eine aktive soziale Strategie zur Integration in die Gruppe“ (S. 143). Die Leserschaft bekommt hier über die Verknüpfung mit den Studien selbst Anregungen, sich forschend der Frage zu nähern: „Wie machen sie [die Kinder] das nur?“ (S. 127)
Kapitel 4: Was in Freundschaften unter Kleinkindern besonders ist. Wie beim kindlichen Spiel ist es auch beim Thema Freundschaft lohnenswert, für die Altersgruppe der Kleinkinder bis drei Jahren den eigenen Erscheinungsformen nachzugehen und entsprechende Kriterien zu entwickeln. Hier machen die Autorinnen den Forschungsbedarf deutlich und verweisen auf die Problematik, wenn von Erwachsenenbeziehungen oder den Freundschaften bei Kindern und Jugendlichen ausgegangen wird. Es gilt, eigene Wertmaßstäbe herauszuarbeiten und vor allem den körperlichen und emotionalen Ausdrucksformen, die die Jüngsten zeigen, mehr Achtung zu schenken: die „wortlose Sprache von Freundschaft“ (S. 255) sollte in den Fokus der Forschung rücken. Aspekte wie körperliche Nähe und emotionale Intimität herstellen, Loyalität oder Signale dafür, dass jemand vermisst wird, erweisen sich aus den Studien, die die Autorinnen ausführen, als erste Anhaltspunkte. Dass und wie die pädagogische Praxis sich bereits jetzt auf den Weg machen kann, den Freundschaften der Kinder untereinander Raum zu geben, beschreiben die Autorinnen im Unterkapitel 4.6. Für die ersten Überlegungen helfen die Erkundungsfragen am Ende des Kapitels.
Kapitel 5: Wie mehrere Kleinkinder ihre Beziehungen miteinander gestalten. In diesem Kapitel wird die tiefe Bedeutung des WIR aus dem Buchtitel sichtbar: Kinder stellen Gemeinsamkeit und Zugehörigkeit her (togetherness) und betreiben dies auf mannigfaltige Weise. Wurde bislang das Thema Verbundenheit vor allem im Kontext der Erwachsenen-Kind-Beziehung fachlich diskutiert, wird hier mit Rückgriff auf die Erkenntnisse von Deci/Ryan (Self Determination Theory, 2017) deutlich: Sozial Eingebunden sein (social relatedness) geht über die Verbindung von Ich und Du hinaus, sie ist auch in der Kindergruppe eine Kraftquelle und Nährboden für die Entwicklung. Die Ausführungen in den Unterkapiteln 5.2 (Lachen, Quatsch machen und Humor, S. 319 ff) und 5.3 (Freudendialoge und Fröhlichkeitskonzerte, S. 336 ff) verweisen darauf, dass es sich lohnt, die Sinnhaftigkeit der für Erwachsene manchmal anstrengenden Aktivitäten der Kinder neu zu entdecken. Auch hier geben Erkundungsfragen dafür erste Anregungen.
Kapitel 6: Peer-Beziehungen im Kita-Alltag Raum geben. Mit ihrem Begriffsverständnis von Raum geben die Autorinnen ihren Ausführungen die Richtung: „Er ist mehr als ein im Voraus existierender Behälter für Dinge und Praktiken, denn er konstituiert sich erst in der Wechselwirkung von Beziehungen und Macht.“ (S. 358) Es ist der gelebte soziale Raum, der konzeptionell mehr Beachtung finden sollte. Die Forschungslage dazu ist nach Einschätzung der Autorinnen dünn; Raumwahrnehmung, Raumergreifung der Kinder innerhalb ihres gemeinsamen Tuns und im Umkehrschluss die Wirkung der örtlichen Gegebenheiten auf ihr Handeln und Erleben scheint bislang nur wenig im wissenschaftlichen Fokus zu stehen. Und das, obwohl in den Bildungsplänen und Vorgaben für Konzeptionen Ausführungen zur Raumgestaltung eingefordert werden. Was Kinder darin unterstützt, ihre Peer-Beziehungen zu leben, leiten die Autorinnen somit vor allem indirekt aus den in den vorangegangenen Kapiteln dargestellten Erkenntnissen ab. Anhaltspunkte ergeben sich aus Schlüsselsituationen im Kita-Alltag (Kapitel 6.2, S. 376 ff.), z.B. Miteinander vertraut werden, das morgendliche Ankommen oder Unterhaltungen beim Essen, verbunden mit der leitenden Frage: welchen Raum finden die Kinder dafür vor, Eigenes im Miteinander zu entwickeln? In diesem Kapitel wird die notwendige Verschiebung des Fokus Richtung Kinder untereinander besonders deutlich: Pädagog:innen stellen Raum zur Verfügung, Sie entwickeln non-direktive Umgangsweisen (Kapitel 6.4 S. 407), moderieren Aushandlungsprozesse der Kinder untereinander (individuelle und kollektive Rechte, S. 417), ohne sie in eine erwünschte Richtung zu lenken. Das Kapitel endet damit, dass die Peer-Beziehungen stärker Bestandteil der pädagogischen Reflexionen werden sollten. Denn das macht den Mehrwert einer Kita in unserer Kultur schlussendlich aus: Kinder erleben andere Kinder, lernen von und mit ihnen.
Diskussion
Dieses Buch ist eine Fundgrube – doch für wen? Es spricht eine sehr deutliche forschend-neugierig-machend, wissen und verstehen wollende Sprache. Und diese Sprache können Pädagog:innen in der Kita-Praxis genauso sprechen und verstehen wie angehende Wissenschaftler:innen, Menschen in der Ausbildung oder Personen, die bereits in Lehr-Lernsettings routiniert unterwegs sind. Sie alle können über dieses Buch erfahren: Die Welt der Kinder im Miteinander ist ein Kosmos an Möglichkeiten, aus dem die Kinder für ihre eigene Entwicklung schöpfen. Inwieweit wir Erwachsenen dafür unsere Wahrnehmung sensibilisieren, hat maßgeblich Einfluss darauf, welche Räume in den Kitas geschaffen werden. Und auch, welche Forschungsfragen gestellt werden, welche Studien letztendlich stattfinden. Insofern richtet sich das Buch auch an die Community der etablierten frühpädagogischen Forschung: Gerade die Art und Weise, wie andere Länder sich dem Feld der kindlichen Entwicklung nähern, welche Forschungsdesigns sie erstellen, wie sie zu ihren Forschungsfragen kommen und wie sie Erkenntnisse verknüpfen, lässt die Frage entstehen: Und wo bewegt sich die deutsche Forschungslandschaft?
Fazit
ICH-DU-WIR hält was der Titel verspricht: Das Buch erläutert sehr detailliert und gut strukturiert die Facetten der Beziehungsgestaltung der Kinder untereinander. Die Kapitelüberschriften sind passend gewählt und ermöglichen auch ein Querlesen. Forschungsfragen, Bestandteil vor allem internationaler Forschung und ihre Implikationen für die pädagogische Praxis werden leser:innenfrendlich miteinander verwoben. Die Forschungsperspektive der Autorinnen selbst wird dabei immer wieder erkennbar. Ihr eigenes fasziniert Sein und Staunen ob der Fähigkeiten der Jüngsten lässt beim Lesen den Funken überspringen und macht selbst Lust, sich neugierig-fragend auf die Spuren der Kinder zu begeben.
Rezension von
Petra Evanschitzky
Systemische Organisationsberaterin, Trainerin und Autorin im Arbeitsfeld Frühpädagogik
Mailformular
Es gibt 2 Rezensionen von Petra Evanschitzky.