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Heinz-Jürgen Voß (Hrsg.): Westberlin - ein sexuelles Porträt

Rezensiert von Dr.phil. Dr.jur. Rüdiger Lautmann, 05.10.2021

Cover Heinz-Jürgen Voß (Hrsg.): Westberlin - ein sexuelles Porträt ISBN 978-3-8379-3108-2

Heinz-Jürgen Voß (Hrsg.): Westberlin - ein sexuelles Porträt. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2021. 324 Seiten. ISBN 978-3-8379-3108-2. D: 44,90 EUR, A: 46,20 EUR.
Reihe: Angewandte Sexualwissenschaft.

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Thema

Berlin, heute Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland, blickt auf eine äußerst wechselvolle Geschichte zurück, in deren Verlauf es sich häufiger und dramatischer wandelte als vergleichbare Metropolen. Die Stadt verfügt über kein historisch gefestigtes Selbstverständnis; sowohl die Bewohner*innen als auch das zuströmende Publikum verbanden unterschiedliche Vorstellungen mit ihr. Noch einmal zugespitzt gilt das für die Jahrzehnte zwischen 1960 und 1990, die Zeit des Geteiltseins und der gelockerten Zugehörigkeit zur westlichen Bundesrepublik. Nicht Ordnung und Leistung schwebten vielen Zuwandernden vor, sondern so etwas wie Flucht aus Ordnungsstrenge und Leistungszwang. Auch viele Einheimische erinnerten sich nur zu gerne an die Roaring Twenties, als die Metropole schon einmal der Entfaltungsraum für besondere Lebensentwürfe gewesen war. Knapp zwanzig Menschen, die ein solches Programm auf den Feldern Geschlecht und Sexualität verfolgten, berichten über ihre Erfahrungen, die sie in den westlichen Sektoren von Berlin vor der deutschen Einheit gemacht haben und sich dadurch haben prägen lassen.

Herausgeber*innen

Heinz-Jürgen Voß bekleidet in der Sexualwissenschaft die einzige vornehmlich der Forschung gewidmete Professur, die es gegenwärtig in Deutschland gibt, an der Hochschule Merseburg. Die von ihm herausgegebene Reihe zur Angewandten Sexualwissenschaft kommt bereits auf dreißig Bände.

Entstehungshintergrund

Der Herausgeber hat das ‚alte West-Berlin‘, wie es heute oft genannt wird, nicht selbst erlebt und verfügt somit über die kritische Distanz, die für ein solches Stadtporträt nötig ist. Seine Forschungsaktivitäten bewegen sich oft in den Bereichen nichtnormativer Geschlechtlichkeit, wodurch sich seine Aufmerksamkeit für die im Buch geschilderten wahrlich außergewöhnlichen Biographien begründet.

Aufbau

In drei Teilen werden die Schwerpunkte dieser Stadtgeschichte präsentiert. Als ‚Eröffnung‘ (S. 27–73) dienen Impressionen, die auf die Themen Frauen, Schwule und Migration verweisen. Auf 27 Farbtafeln werden Bilder von einschlägigen Demonstrationen der 1970er Jahre gezeigt. Auch später im Buch finden sich immer wieder Abbildungen. Unter ‚Kunst – Kultur – Politik‘ (S. 77–204) präsentieren sich gleichgeschlechtlich orientierte Biographien. Und als ‚Geschlechterräume‘ (S. 205–323) kommen Variationen von Transgender zu Wort.

Inhalt

In der Einleitung (S. 7–24) umreißt Voß das Kaleidoskop von „Geschlecht und Sexualität im Grenzbereich“. Voß blickt mit einer intersektionellen Perspektive auf die Besonderheiten in den Bereichen von Gender, Sexualorientierung, Zuwanderungsstatus, Wohnungsqualität und Einkommensarmut. Vor allem diese fünf sozialen Differenzierungen leiten die Auswahl der Beiträge an, und ihre Überschneidungen – oft sind es Doppelungen von Diskriminierung und Unterprivilegierung – treten immer wieder hervor.

Zu den nichtnormativen Sexualitäten berichten Manuela Kay, Peter Hedenström, İpek İpekçioğlu, Katharina Oguntoye, Manfred Herzer-Wigglesworth, Wilfried Laule, Egmont Fassbinder, Dieter Telge, Koray Yılmaz-Günay und Jayrôme C. Robinet. Sie alle haben einen Klang: sowohl in ihren Subkulturen als auch für den interessierten Beobachter (wozu der Rezensent sich zählt). Sie haben früh ihr Going-public vollzogen und damit überregional zum Öffentlichwerden der diversen Gleichgeschlechtlichkeiten beigetragen. Damit stehen sie als Exempel für den anfangs schwierigen, aber schließlich erfolgreichen Kampf um Anerkennung, den die besonderen Sexualitäten im verflossenen Jahrhundert durchgängig geführt haben. Die Selbstdarstellungen verschweigen nicht die erlittenen Blessuren, und sie registrieren uneitel die eigenen Leistungen. Ein Eingesessener schildert seine erotische Biographie, die komplett hier spielt (Herzer-Wigglesworth, S. 103–125). Nicht wenige Stellen lesen sich als komische Verwunderung darüber, aus welch moralisch beengten Verhältnissen die heute erreichte Lockerheit erarbeitet wurde – und das innerhalb eines historisch kurzen Zeitraums.

Die Transgender-Biographien liefern Nora Eckert, Jayne County, Gérôme Castell, Bilbo Calvez, Cihangir Gümüştürkmen und Danielle de Picciotto. Ihr Thema hat derzeit einen Lauf, dessen Hürden sich analog zum Kampf der Gleichgeschlechtlichen darstellen. Nur war im alten West-Berlin immer schon eine Branche des Unterhaltungsbetriebs etabliert, wo transvestitische Performance die Relativität binärer Geschlechtszuweisung auf die Bühne brachte. „Statt Massenkonsens zu folgen, fordere ich zu Heldentum auf: nämlich Individualität – was ‚mein‘ Berlin in den 80ern war – individuell! Individualität fördert Einheit durch Unterschiedlichkeit – anstatt der Mehrheit als Masse zu folgen.“ (Castell, S. 266 f.) Die abgedruckten Berichte verlebendigen diese Zeit sehr anschaulich. Sie ist heute vergangen, und einige der früheren Exot*en leben sogar etabliert, wie beispielsweise Nora Eckert.

Die Autobiograph*en dieses Buchs schwärmen nicht nur von ihrer eigenen Jugend, sondern vor allem von einer verschwundenen Stadt. Der Ausnahmezustand, in dem Berlin (und gar nicht einmal allein der westliche Teil) sich in den Jahrzehnten seit 1950 permanent befunden hat und der heute kaum noch zu erspüren ist, tritt vielfach in farbigen Formulierungen hervor: „Wir hatten alle unseren Spaß in dieser ‚magischen Stadt‘, wie Zazie rückblickend Berlin charakterisierte, die wie eine Insel anmutete, ‚auf der alle explodieren möchten‘. ‚Es gibt alle Möglichkeiten für Minderheiten, sich zu entwickeln, sich zu verwirklichen‘. ‚Es ist eine Stadt, in der Minderheiten zu Wort, zur Tat kommen‘“ (S. 225).

Diskussion

Die Erzählungen machen meist keinen Halt im Jahre 1990. Geschrieben sind sie ohnehin heute, im Rückblick. Die aufregenden Phasen lagen im abgekapselten West-Berlin; danach konsolidierte sich die ökonomische Situation; zudem senkte sich die biographische Kurve – das Trajekt –, wie üblich im Älterwerden. Für viele war das dem eigenen Lebensunterhalt zur Verfügung stehende Geld notorisch knapp. Der Mythos, hier könne mit wenig auf gutem Niveau gelebt werden, machte (und macht) einen Teil der Anziehungskraft von Berlin aus. Auch half die Solidarität innerhalb der eigenen Randgruppe. Wie die Autor*innen sich aus Notlagen herausgearbeitet haben, wie sie schier unüberwindlich erscheinende Barrieren überwunden haben und letztlich zu einer erfolgreichen Lebensgeschichte gelangt sind, das kann aus fast jedem Beitrag als Lesegewinn gezogen werden.

West-Berlin war ohne das klassische Zentrum und ohne sein Hinterland ein Torso. Der Inselcharakter – weit weg von der Heimat, abgeschnitten von einem unmittelbar zugänglichen Umland – konnte an den Zugewanderten etwas zum Vorschein bringen, das im Herkunftsort nicht zu leben war. Und insofern dieses ominöse Etwas dem Sexuellen angehörte, ergriff es Besitz von der gesamten Lebensführung. Nur hier konnte es so sehr ins Zentrum einer Existenz gestellt werden, weswegen sich von keiner anderen Stadt ein so reichhaltiges „sexuelles Porträt“ schreiben ließe.

Unverkennbar leiten editorische Kriterien die Auswahl der Beiträge; viele andere Personen hätten Vergleichbares zu berichten. Neben der Präsentation von Lebensentwürfen, die sich in geschlechtlicher und sexueller Hinsicht vom heteronormativen Hauptstrom abheben, ist es vor allem die Intersektionalität. Interkulturelle Überschneidungen und der Verzicht auf ein Normalarbeitseinkommen prägten die Lebensverhältnisse in diesen Subkulturen. – Der Herausgeber fordert ältere Leser*innen mit seinem Begriff ‚Westberlin‘ heraus. So lautete nämlich nur der Name der ‚selbstständigen politischen Einheit‘ zwecks Unterscheidung zur ‚Hauptstadt der DDR‘. Wir lächeln darüber, zumal wir Wessis damals bloß von ‚Berlin‘ sprachen.

Fazit

Das Buch zeichnet ein buntes Bild der ehemaligen Halbmetropole, gesättigt mit anschaulichen Schilderungen und bizarren Erlebnissen. Es ist diese Geschichte von Berlin, welche ihr heute eine weltweit wirksame Ausstrahlung verleiht. Die unerwartete Anziehungskraft trägt übrigens auch zur wirtschaftlichen Gesundung der ehemaligen Problemregion bei. Das West-Berlin von damals wirkt heute nur noch hintergründig auf den Lebensstil von Gesamt-Berlin ein, so wie die ehemalige ‚Hauptstadt der DDR‘ ihren Einfluss immer noch spüren lässt. Das macht einen Reiz des Bandes aus: Hier hat das irritierende Ereignis der deutschen Vereinigung faszinierende Gestalt angenommen, die ohne Kenntnis ihrer Geschichte nicht zu verstehen ist.

Rezension von
Dr.phil. Dr.jur. Rüdiger Lautmann
Jg. 1935, arbeitete von 1971 bis 2010 als Professor für Soziologie an der Universität Bremen und lebt jetzt in Berlin. Zahlreiche Publikationen zu Recht und Kriminalität, Geschlecht und Sexualität.
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Es gibt 5 Rezensionen von Rüdiger Lautmann.

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Zitiervorschlag
Rüdiger Lautmann. Rezension vom 05.10.2021 zu: Heinz-Jürgen Voß (Hrsg.): Westberlin - ein sexuelles Porträt. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2021. ISBN 978-3-8379-3108-2. Reihe: Angewandte Sexualwissenschaft. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28700.php, Datum des Zugriffs 01.04.2023.


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