Boudewijn Chabot, Christian Walther: Ausweg am Lebensende
Rezensiert von Dr. sc. mus. Monika Nöcker-Ribaupierre, 28.10.2021

Boudewijn Chabot, Christian Walther: Ausweg am Lebensende. Sterbefasten - selbstbestimmtes Sterben durch Verzicht auf Essen und Trinken. Ernst Reinhardt Verlag (München) 2021. 6., überarbeitete Auflage. 226 Seiten. ISBN 978-3-497-03049-1. D: 21,90 EUR, A: 22,60 EUR.
Thema
Der 2015 eingeführte Paragraf § 217 StGB, der die sog. Geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung bzw. das selbstbestimmte Sterben durch Ärzte und Sterbehilfegesellschaften unter Strafe stellte, wurde 2020 annulliert. Damit wurde dem Menschen das Recht auf Beendigung des eigenen Lebens zugestanden. Trotzdem sind die Möglichkeiten zur Verwirklichung eines solchen Wunsches begrenzt. Dieses Buch beschreibt den Weg des selbstbestimmten/freiwilligen Verzichts auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF) als eine Möglichkeit, diesen Wunsch schwerkranker Menschen mit professioneller Hilfe zu unterstützen. Unter den hier ausgeführten Gesichtspunkten stößt dieser Weg auf weniger Vorbehalte als eine aktive Selbsttötung. Die Unterstützung beim FVNF ist keine strafbare Suizidhilfe.
Autoren
Dr.med. Boudewijn Chabot, PhD, Haarlem, Niederlande, Psychiater und Sozialwissenschaftler.
Dr. rer. nat. Christian Walther, Neurobiologe i.R., arbeitete am physiologischen Institut der Universität Marburg.
Entstehungshintergrund
Das erste Buch zum Thema Sterbefasten veröffentlichen die Autoren 2010. Die vorliegende 6. Ausgabe ist die ergänzende Überarbeitung nach der Annullierung des Gesetzes von 2015. Trotzdem vertreten in Deutschland alle relevanten Vereinigungen, die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin, die Landesärztekammern, der Deutsche Ethikrat, die Kirchen, die Deutsche Bischofskonferenz und die EKD zum Thema Sterbefasten unterschiedliche Positionen oder sie hüllen sich in Schweigen. Einzig die Königliche Niederländische Medizinische Gesellschaft hat hierfür einheitliche Richtlinien formuliert. Doch zunehmend wächst das Interesse daran, eine Leidenssituation auf legale, schmerzfreie und humane Art zu beenden. Die Autoren stellen sich detailliert den damit verbundenen humanen, medizinischen, organisatorischen, rechtlichen, ethischen und für (Ärzte und Pflegepersonal) standesrechtlichen Fragen. Das Hauptanliegen des Buches ist eine fundierte Wissensvermittlung für alle Beteiligten und Interessierten – gewidmet den Patienten, die freiverantwortlich für sich entscheiden, ihr Leben beenden zu wollen.
Aufbau und Inhalt
Die ersten drei (Praxis-bezogenen) Kapitel sind von dem Niederländer Boudewijn Chabot verfasst, der Dokumente zu fast 100 Fällen von Menschen ausgewertet hat, die durch Sterbefasten (in den Niederlanden) ihr Leben beendet hatten. Einige Fälle hat er selbst begleitet. Das ist die Grundlage für dieses Buch.
Im 1. Kapitel werden vier Fälle aus den Niederlanden beschrieben. Man erfährt daraus, wie sich der Entschluss, aus dem Leben zu gehen, bei den Menschen entwickelt und wie dieser mit dessen sozialen Umfeld besprochen und durchgesetzt wurde. Die Fälle beleuchten jeweils die soziale Situation und Persönlichkeit, die medizinischen Lage und Entscheidungsfindung, den Verlauf und abschließende Bemerkungen. Danach werden Positionen Außenstehender zum bewussten, vorzeitigen Sterben angesprochen.
Im 2. Kapitel (was man darüber wissen sollte) gibt es Informationen zum FVNF. Die Autoren legen ihre gegenwärtigen Kenntnisse u.a. über Vorkommen, Verlauf, Dauer von FVNF dar und stellen dies in Zusammenhang mit anderen Möglichkeiten, wie Beenden lebenserhaltender Maßnahmen oder Selbsttötung mit ärztlicher Beihilfe. Es folgen ein Überblick über den Verlauf von FVNF, der Umgang mit Fasten und Flüssigkeitsverzicht, dann Berichte über Patienten, die durch FVNF starben.
Das 3. Kapitel (was in diesen Situationen zu tun) behandelt die Rolle von Ärzten, Pflegenden und Angehörigen bei der Vorbereitung und als Basis für eine kooperative Begleitung. Im Detail und als Zusammenfassung werden die Maßnahmen beschrieben, die den Verlauf erleichtern, wie die mentale Vorbereitung und die Zustimmung der begleitenden Personen, den Umgang mit Hunger und Durst, der Mundpflege und anderen Informationen zur Gabe von Medikamenten, der Palliative Pflege und genaue Dokumentation.
Kapitel 4 beschreibt die physiologischen Aspekte des FVNF, subjektive Erfahrungen sowie den Umgang mit nicht mehr einwilligungsfähigen Patienten. Beschrieben werden die Änderungen im Stoffwechsel, die Erfahrungen mit stark reduzierter Flüssigkeitsaufnahme bei Patienten, die spontan Nahrung und Flüssigkeit verringern und das im Zusammenhang mit den physiologischen Aspekten von Durst und Durstgefühl, dazu Forschungsergebnisse und drei Fallbeispiele.
Abschließend wird die Frage bei Beenden der Flüssigkeitsversorgung bei nicht mehr einwilligungsfähigen Patienten erörtert.
Kapitel 5, 6 und 7 beinhalten rechtliche, ethische und praktische Aspekte des FVNF, verfasst von dem Neurobiologen Christian Walther.
In Kapitel 5 werden rechtliche Fragen zum beabsichtigten vorzeitigen Versterben durch den FVNF besprochen, Fragen, die u.a. auch allgemein bei der Abfassung einer Patientenverfügung zu berücksichtigen sind, außerdem Unterstützungshandlung, Garantenpflicht, Freiverantwortlichkeit und Patientenverfügung und die Verlautbarung der Bundesärztekammer. Auch wird hier über das ärztliche Ethos und Standesrecht gesprochen, sowie organisatorische Fragen, Den Abschluss bilden weitere Empfehlungen für die Praxis.
Das 6. Kapitel widmet sich ethischen Aspekten im Zusammenhang mit FVNF: die Autonomie des Patienten als Verneinung einer Fremdbestimmung, die Menschenwürde und gesellschaftliche Aspekte. Es folgt eine Gegenüberstellung: ist Sterbefasten, Selbsttötung oder ein natürlicher Tod? Am Ende werden moralische Fragen der an dem FVNF beteiligten Personen thematisiert.
Das abschließende 7. Kapitel behandelt „Sterbefasten und Hospizbewegung.“ In den letzten Jahren hat das Interesse der Palliativmedizin und der Hospizbewegung am FVNF sehr zugenommen. Trotzdem wirft das Sterbefasten in der Hospizbewegung viele schwierige Fragen auf, deren Beantwortung je nach Standpunkt unterschiedlich ausfallen dürfte. Der Autor geht sehr vorsichtig auf die Möglichkeiten in dieser Arbeit ein, obwohl es hierfür noch keine Forschung gibt und auch deshalb eine verbindliche Rechtslage fehlt. Ausführlich beschrieben werden die geschichtliche Entwicklung dieser Bewegung mit Hinweisen auf die Hürde der Suizid-Problematik und vor allem das Thema Grenzen wahren – Grenzen ziehen.
Der Text schießt mit sieben Punkten für die Diskussion zum Weiterdenken und einem Ausblick auf die mögliche Entwicklung gesellschaftliche Haltung zu FVNF. Es folgen 30 Seiten mit informativen Anmerkungen, die zur Erklärung des Textes beitragen, sowie eine ausführliche Literatur und ein formaler Vorschlag zum Sterbefasten, ähnlich einer Patientenverfügung.
Diskussion
Den beiden Autoren ist sehr zu danken, dass sie dieses Buch über ein so schwieriges, aber wichtiges Thema vorlegen bzw. immer wieder aktualisieren. Glücklicherweise ist durch die 2020 erfolgte Annullierung des Gesetzes von 2015, das die sog. Geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung bzw. das selbstbestimmte Sterben durch Ärzte und Sterbehilfegesellschaften unter Strafe stellte, jede Art von Selbsttötung kein Strafbestand mehr. Der (psychische) Unterschied zwischen Suizid und Sterbefasten wird hier klar formuliert. Sterbefasten durch den freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit ist eine selbstbestimmte und zugleich humane Möglichkeit, aus dem Leben zu gehen. Alle Aspekte hierzu werden mit umfassendem Wissen und Sachkenntnis auf der Basis langjähriger empathischer Begleitung und Erfahrung beschrieben. Die fachlichen Anmerkungen im Anhang sind äußerst hilfreich, es lohnt sich damit zu beschäftigen. Die abschließenden sieben Punkte zum Weiterdenken bilden einen humanen und ethischen Rahmen, das Thema FVNF auf persönliche Art zu reflektieren.
Fazit
Die Rezensentin hat selbst Erfahrung in der Begleitung von Menschen, die – schwerstkrank – nicht mehr weiterleben wollten. Dieses Buch ist sehr hilfreich für alle, die sich mit dem Sterbewunsch eines anderen Menschen konfrontiert sehen oder die sich für sich selbst ein Bild davon machen wollen, wie ein „würdevolles Schneller-Loslassen einer gefühlt unerträglichen Situation“ sein könnte.
Rezension von
Dr. sc. mus. Monika Nöcker-Ribaupierre
Dipl. Musiktherapeutin DMtG, Vice President der International Society for Music in Medicine ISMM.
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