John-Dylan Haynes, Matthias Eckoldt: Fenster ins Gehirn
Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 20.12.2021

John-Dylan Haynes, Matthias Eckoldt: Fenster ins Gehirn. Wie unsere Gedanken entstehen und wie man sie lesen kann. Ullstein Verlag (München) 2021. 297 Seiten. ISBN 978-3-550-20003-8. D: 24,00 EUR, A: 24,70 EUR, CH: 27,50 sFr.
Thema
In den letzten Jahrzehnten haben die Neurowissenschaften u.a. auch aufgrund der bildgebenden Verfahren eine wachsende gesellschaftliche Resonanz erfahren. Hirnforschung, Neurobiologie und deren konkrete Anwendungsbereiche wie z.B. geistige Optimierungsstrategien einschließlich der pharmakologischen Produkte (Gehirndoping) werden zunehmend popularisiert und Themen des öffentlichen Diskurses. Die kognitiven Neurowissenschaften bilden einen Teilbereich dieses neuen Wissenschaftsfeldes. Sie können als Fusion aus Neurophysiologie, kognitiver Psychologie und Neuropsychologie verstanden werden. Es bedarf aber des Hinweises, dass wir letztlich über unser Gehirn als Ganzes trotz immensen Detailwissens nahezu kaum etwas Essentielles wissen, wie u.a. das „Manifest“ der Neurowissenschaftler selbstkritisch offenbart. Bei der vorliegenden Veröffentlichung handelt es sich um eine populärwissenschaftliche Abhandlung mit der Themenstellung der Erfassung geistiger Prozesse mit dem Ziel des „Gedankenlesens“ mittels bildgebender Verfahren (MRT).
Autoren
John-Dylan Haynes (Dr. rer. nat.) hat laut Wikipedia Psychologie und Philosophie in Bremen studiert und ist seit 2006 Professor für Theorie und Analyse weiträumiger Hirnsignale am Bernstein Center for Computational Neuroscience und am Berlin Center for Advanced Neuroimaging (BCAN) der Charité und der Humboldt-Universität in Berlin.
Matthias Eckoldt ist laut Wikipedia ein deutscher Schriftsteller, Wissenschaftsautor und Radiomacher. Er studierte Philosophie, Medienwissenschaft und Germanistik an der Humboldt-Universität in Berlin und promovierte über Systemtheorie und die Foucault’sche Machtanalytik mit einer Schrift über „Das Machtdispositiv der Massenmedien“.
Aufbau und Inhalt
Die Arbeit besteht aus zwanzig Kapiteln nebst Vorwort und Epilog.
Zu Beginn beschäftigen sich die Autoren mit den philosophischen Fragestellungen des Verhältnisses von Körper und Geist, wobei zwei Positionen konträr zueinander stehen, der Dualismus und der Monismus. Dualismus bedeutet hierbei, dass Körper und Geist zwei voneinander unabhängige Seinsebenen sind, die sich bei Lebenden nur temporär miteinander verbinden. René Descartes versuchte im 17. Jahrhundert als einer der ersten, diesen Sachverhalt empirisch zu überprüfen. Befragungen in Deutschland und auch anderen Ländern ergaben, dass die Mehrheit die Position einer dualistischen Weltsicht vertritt (Seite 22f). Angeführt wird in diesem Zusammenhang u.a., dass z.B. alte Holzhäuser im Alpenraum eine verschließbare Öffnung in der Wand besitzen: das so genannte „Seelenfenster“, das kurz vor dem Tod eines Menschen geöffnet wurde, damit die Seele des Sterbenden fortfliegen konnte (Seite 29). Die Identität von Geist und Körper oder Geist und Gehirn (Monismus) wird hingegen als Weltanschauung oder Arbeitshypothese überwiegend in Kreisen der Neurowissenschaften vertreten.
Es folgen Ausführungen über die Hirnphysiologie und erste Versuche, das Hirnverhalten mittels verschiedener Techniken zu messen: das Elektroenzephalogramm (EEG), das bereits in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelt wurde. Es misst und zeichnet die Hirnströme (Alpha- und Betawellen) auf. Die bildgebenden Verfahren wie die Positronen-Emissions-Tomografie (PET) und die Magnetresonanztomografie (MRT) werden im Anschluss beschrieben, wobei besonders das MRT laut Einschätzung der Autoren regelrecht eine „Revolution in der Erforschung des menschlichen Gehirns“ auslöste, denn bei diesem Verfahren werden virtuelle Schnitte des Körpergewebes in größtmöglicher Auflösung angefertigt. Diese Bilder zeigen in vivo den Stoffwechsel in bestimmten Regionen des Hirns, wobei beim funktionellen MRT (fMRT) besonders der Sauerstoffgehalt gemessen wird. Umgangssprachlich kann man sich diesen Vorgang dergestalt vorstellen, dass das Denken sich in bestimmten Arealen in einem erhöhten Sauerstoffwechsel manifestiert, der sich u.a. in einer Rotfärbung des Bildmaterials zeigt.
Recht ausführlich wird das Ansinnen beschrieben, mithilfe des fMRT Gedanken lesen zu wollen. Das erfordert eine sehr intensive Vorbereitungsphase in Gestalt eines Codierungsprozesses. Diese Codierung beinhaltet eine Zuordnung eines konkreten gedanklichen Prozesses wie z.B. ein Bild erkennen zu einem bestimmten Hirnareal, das dann stoffwechselt und damit aufleuchtet. Gedankenlesen im engeren Sinne lässt sich mit dieser Vorgehensweise noch nicht bewerkstelligen, doch anhand der fMRT-Bilder kann mit recht hoher Wahrscheinlichkeit auf bestimmte Gedankeninhalte geschlossen werden.
Hieran anschließend berichten die Autoren über verschiedene und überwiegend irreführende Beeinflussungs- und Manipulierungsstrategien mit dem Ziel, durch sublime Reizimpulse unbewusste Reaktionen und Verhaltensweisen bei den Adressaten hervorrufen zu können (Werbung, NewAge-Musik u.a.). Auch auf das Schlaf- und Traumverhalten unter Einsatz von Hirnmessungsmethoden (EEG u.a.) wird kurz eingegangen. Des Weiteren wird auf Untersuchungen bezüglich der Hirnaktivitäten bei bestimmten Emotionen verwiesen, die im Hirnscanner ermittelt wurden. Ein Themenschwerpunkt bei dieser Forschung war die These des Anthropologen Paul Ekman aus den 70er Jahren, dass die menschliche Emotionalität angeboren ist und somit nicht kulturell durch die Umwelt erworben wird. Seine Theorie geht von sechs „Basisemotionen“ aus: Wut, Ekel, Freude, Trauer, Angst und Überraschung, die sich in der Mimik widerspiegeln (Seite 120f). Neuere Forschungen diesbezüglich führten zu dem Ergebnis, dass die Komplexität des Gefühlsspektrums auf insgesamt 27 Grundgefühle beruht (u.a. Nostalgie, Erleichterung, Verlangen und Triumpf). In diesem Zusammenhang konnte u.a. die Erkenntnis gewonnen werden, dass das Furchtverhalten eng mit dem Emotionszentrum des Mandelkerns oder der Amygdala verknüpft und somit nicht auf verschiedene Hirnareale verteilt ist. Der Schlüssel hierbei war wieder mal wie oft in den Neurowissenschaften eine neurologische Beeinträchtigung: Patienten mit selektiven Schädigungen der Amygdala waren nicht fähig, Furcht zu empfinden. Aber alle anderen Emotionen konnten sie angemessen erleben (Seite 126).
Ein weiteres bedeutsames und in der Öffentlichkeit jahrelang diskutiertes Themenfeld, der „freie Wille“, wird eingehend beschrieben. So beobachtete Benjamin Libet 1983 mittels des EEGs, dass eine drittel Sekunde vor einem Entscheidungsimpuls der Probanden bereits ein so genanntes Bereitschaftspotenzial registriert wurde. Dies führte besonders in den Feuilletons und in den Geisteswissenschaften zu Kontroversen über die Willensfreiheit und deren Grenzen. Neuere Untersuchungen stellten bereits sieben Sekunden vor dem Entscheidungsimpuls der Probanden das entsprechende Bereitschaftspotenzial fest. Die Autoren konstatierten jedoch aufgrund der aktuellen Forschung, dass das Bewusstsein noch bis zu 200 Millisekunden vor dem Entscheidungsimpuls zu einer Neuentscheidung in der Lage ist (Seite 184f).
In weiteren Kapiteln werden die folgenden Gegenstandsbereiche allgemeinverständlich erläutert: das Lügen und der Lügendetektor (mittlerweile bereits auch mittels Hirnscanner) und das „Neuromarketing“. Bei dieser Forschungsrichtung („Neuroökonomie“) geht es vor allem um die Untersuchung der Kaufimpulse, wobei man vorwiegend auf das „Glückshormon“ Dopamin und das Hirnareal für die Belohnungen (Nucleus accumbens) zurückgreift (der „Kaufknopf“ in Gehirn, Seite 205). Diese Untersuchungen und Annahmen werden von den Autoren als wissenschaftlich nicht ausreichend fundiert eingeschätzt und auch recht ausführlich widerlegt (Seite 208ff). Es folgen Hinweise über die Forschung der Schnittstelle Hirnverhalten (Denken u.a.) und Computer (Brain-Computer-Interface) einschließlich der Anwendung in der Medizin bei der Muskelsteuerung. In den letzten Kapiteln wird u.a. über die medizinische Forschung über den Einsatz von Hirnimplantaten bei Querschnittsgelähmten, die „mentale Privatsphäre“ beim so genannten „Brain Reading“ und der Einsatz von „Wahrheitsdrogen“ (Scopolamin) berichtet.
Diskussion
Ein zentrales Thema seit Menschengedenken über das Sein und Bewusstsein wird in diesem Buch unter dem Aspekt der Selbstwahrnehmung bearbeitet. Kann man Immaterielles wie einen Gedanken oder ein Empfinden materialisieren, indem man Stoffwechselprozesse in bestimmten Hirnarealen misst und hieraus ein Gedankenmuster oder Code destilliert? Die Technik scheint hier mittels der bildgebenden Verfahren schon einige neue Wege zu weisen. Sehr ausführlich beschreiben und erläutern die Autoren die Komplexität dieser Prozesse, wobei sie zur Veranschaulichung viele Fallbeispiele und verschiedene Visualisierungsformen anwenden. Positiv ist hier ergänzend anzuführen, dass das Buch ein Literaturverzeichnis und ein Register enthält.
Neben der Darstellung des aktuellen Wissensstandes einschließlich der eigenen Untersuchungen über den Einsatz von bildgebenden Verfahren in verschiedenen Anwendungsbereichen wie der Medizin oder Grundlagenforschung skizzieren die Autoren die Bandbreite an Popularisierung, Verkürzung und zugleich auch Fehlinterpretation neurowissenschaftlicher Erkenntnisse im Alltagsgeschehen. Die Neurobiologie hat sich somit zu einem wirkmächtigen Orientierungs- und Bezugsrahmen der Gegenwart entwickelt, auf den viele psychische und soziale Handlungsmuster reduziert werden. Wurde vor ca. 50 Jahren Alltägliches noch psychoanalytisch interpretiert („anale Typus“ etc.), so müssen gegenwärtig vor allem Hormone und Neurotransmitter (Dopamin und Serotonin) als Erklärungszusammenhänge herhalten.
Fazit
Gedankenlesen mithilfe einer Maschine (MRT) zur Messung der Hirnstoffwechselprozesse ist ein Weg, der vielleicht in Bälde u.a. aufgrund der „Künstlichen Intelligenz“ (KI) weiterreichendes Wissen eruieren wird. Hier wird dann in der Regel die Computerröhre die Modalität für den Blick ins Innere, so wie für Galileo Galilei vor einigen Jahrhunderten das Fernrohr den Blick ins Äußere (u.a. Sonnensystem und Weltall) erweiterte. Die Seele als Konstrukt des Metaphysischen wird in diesem Zusammenhang von den Autoren als bekennende Monisten hierbei auch gar nicht gesucht, ihnen reicht als Materialisten das neurophysiologische Geschehen. Leser, die sich für diesen Forschungszweig der Neurowissenschaften interessieren, werden der vorliegenden Veröffentlichung reichlich neues Wissen entnehmen können.
Literatur
Eckoldt, M. (2013). Kann das Gehirn das Gehirn verstehen? Gespräche über Hirnforschung und die Grenzen unserer Erkenntnis. Heidelberg: Carl Auer Verlag.
Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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