Johanna Kiniger: Schulverweigerung als Entwicklungschance?
Rezensiert von Erik Weckel, 15.10.2021
Johanna Kiniger: Schulverweigerung als Entwicklungschance? Ein systemisch-lösungsfokussierter Ansatz – Das Neun-Phasen-Modell der Schulverweigerung.
Carl Auer Verlag GmbH
(Heidelberg) 2021.
200 Seiten.
ISBN 978-3-8497-9049-3.
D: 22,95 EUR,
A: 23,60 EUR.
Reihe: Verlag für systemische Forschung.
Thema
„Schulverweigerung als Entwicklungschance“ birgt einen neuen Blick. Mit einer systemisch-lösungfokussierten Methode interviewt Johanna Kiniger Schulverweigernde und arbeitet Ressourcen und Potenziale heraus, die zu neuen Perspektiven auf diese bildungspolitisch vernachlässigte Gruppe einlädt. Mit 20 qualitativen Befragungen mit Schüler_innen aus vier europäischen Ländern, deren Instrument Kiniger gemeinsam mit Schulverweigernden entwickelte, arbeitet die Autorin in Anlehnung an die Organisationsberatung ein „Neun-Phasen-Modell“ heraus. Mit diesem Modell werden „Weiterentwicklungen“ der Schüler_innen in der Zeit der Schulverweigerung dokumentiert, die zuvor verschüttet waren.
Autorin
Johanna Kiniger ist als lösungsorientierte Coach tätig in Beratung und Lehre und Vorstandsmitglied des „Austriann Solution Circle“ (ASC). Der ASC verbindet Menschen, die sich für den Lösungsfokussierten Ansatz interessieren und anwenden. Er bezieht sich auf die Arbeiten von Steve de Shazer und Insoo Kim Berg. Die Publikation ruht auf Kinigers Masterthesis an der Karl-Franzens-Universität Graz aus dem Jahre 2020. Sie ist Mutter zweier Töchter.
Aufbau
Der Band öffnet mit zwei würdigenden Geleitworten von vier Kolleg_innen aus dem Austrian Solution Circle (ASC). Der Einleitung folgt ein Vorwort von „Max, dem Schulverweigerer“, der den Band auch mit einem Schlusswort abschließt. Das dritte von 20 Kapiteln präsentiert Begriffe, Forschungsstand, Theorien, schultheoretische Aspekte und die aktuellsten Studien. Das vierte Kapitel öffnet den Dreischritt „Prävention, Intervention und Rehabilitation“, das fünfte Kapitel benennt alternative Beschulungseinrichtungen. Die nächsten drei Kapitel verknüpfen Schulverweigerung mit „Entwicklungsmodellen“, „Lösungsdenken“ und einem „systemisch-lösungsorientiertem Ansatz“. Letztere Beratungs- und Coachingvorstellungen folgen. Die Kapitel elf bis achtzehn entfalten den qualitativen Forschungsprozess bis zum Fazit. In der Zusammenfassung der Ergebnisse stellt Kiniger ihr „Neun-Phasen-Modell“ vor. Die „wundervolle Ideenstraße“ ist eine erste vorgestellte Idee ihres angekündigten „Methodenkoffers“, der für 2022 zur Publikation avisiert ist. Das Literaturverzeichnis ermöglicht die vertiefende Visitation.
Inhalt
Johanna Kiniger verknüpft zwei Anliegen: Zum Ersten erforschte sie Schulverweigerung aus einem neuen Blickwinkel. Durch Reframing soll ein UM- und NEUDENKEN in Gesellschaft und Schule angeregt werden. Des Weiteren sollte erforscht werden, ob eine „systemisch-lösungsorientierte Betrachtungsweise“ zu neuen Erkenntnissen führt, wie entsprechende Fragestellungen auf die Schüler_innen wirken und ob sich neue Perspektiven und Entwicklungsmöglichkeiten eröffnen. „Macht Lösungsfokus einen Unterschied“ fragt die Autorin in zentraler systemischer Weise (15).
Kiniger dokumentiert dabei auch ihren eigenen Kernprozess, indem sie einleitend ausführt, dass sie von den Schüler_innen lernte. Sie nahm die „Eigendynamik von Prozessen“ an, die Kritik der ersten Proband_innen, und rekonzipierte mit ihnen gemeinsam die Fragestellung und den Fragebogen. Partizipation und Expertentum der Zielgruppe waren basales Prinzip (16). Ihre Ergebnisse bezeichnet sie als bahnbrechend (17).
Dies manifestiert sich mit „Max, dem Schulverweigerer“, der sowohl ein Vorwort als auch ein Schlusswort jeweils mit Tagebuchauszügen beitrug.
„Ich bin dann mal weg“ betitelt Kiniger das dritte Kapitel. Sie führt ein in Begriffsdiffusionen und Trennschärfenprobleme, sie wirft einen Blick in die Anfänge der Begriffswahl, in dem sie erinnert, dass der Begriff „Schulschwänzer“ anfangs auf die Lehrenden zielte, die nicht zum Unterricht erschienen (23). Erst später richtete er die Schüler_innen. Mit der Erforschung sogenannter Verwahrloster Ende des 19. Jahrhunderts und ersten psychologischen Erklärungsansätzen begann die Analyse marginalisierter junger Menschen, wie Markus Ottersbach (2021) [1] sie heute kategorisiert. Ein schneller Blick auf Diskurse wie die Kontroll-, Anomie- oder Subjekttheorien zentriert schließlich die Systemtheorie, die Kiniger leitet. Mit einem Exkurs zu schultheoretischen Aspekten konzentriert die Autorin auf die „Passung“ von Institutionen und Klientel und sieht in den Schulen mit Bezug auf Fritz Bohnsack eine Gefahr des Versagens (29). Die Schule verliert viele Schüler_innen. Das Phänomen beleuchten viele Disziplinen, deshalb sei Interdisziplinarität empfohlen. Die empirische Lage ist uneindeutig. Es existieren keine bundesweiten Statistiken, obwohl die Daten in den Schulen vorliegen müssten.
Das vierte Kapitel präsentiert vorliegende Studien seit 2007, partielle Wirklichkeiten. Schulverweigerung ist ein Prozess. Er lässt sich in Prävention, Intervention und Rehabilitation sequenzieren. Diese werden intensiv ausgearbeitet und mit Handlungsmöglichkeiten beschrieben.
Alternative Beschulungseinrichtungen streift das fünfte Kapitelchen.
Der interessierte Blick findet sich ab Kapitel sechs. Kiniger stellt Entwicklungsmodelle vor, erste Verlaufszyklen sind aufgeführt, Konzeptionen von Entwicklungsaufgaben Jugendlicher dargestellt. Potenziale, Räume und Entwicklungshandeln sind nachgezeichnet und die „Passung“ fokussiert. Verschiedene Aktivierungsmöglichkeiten sind skizziert wie Partizipation und Mitbestimmung, Bedürfnisorientierung, Notenfreiheit, individuelle Lebensrhythmen oder Elternarbeit bis zur Visionenarbeit. Mit „was wäre wenn …“ wird ein Auszug aus dem Gedicht von Meike Grams (2017) aufgenommen.
„Lösungswege“ aus der Sackgasse Schulverweigerung rücken im siebten Kapitel nach vorne. Analogiebildung und Wissenstransfer, die menschliche Würde oder die Theorie U öffnen Erkenntnisräume auch für Schulen. Schüler_innen und Lehrkräfte erkunden, erproben Zukunftsvisionen im Tun und entwerfen Prototypen für Lösungen.
Das achte Kapitel verbindet System und Lösung. Ihre Sichtweise, die Grundbausteine und Grundannahmen bilden das Gerüst für die weitere Arbeit. Schulverweigerung wird reframed zum Signal für Entwicklung und Veränderung und weiter zum „Lösungsfindungsprozess“, mit einer Differenzierung nach erster und zweiter Ordnung. Die zweite Ordnung ermöglicht neue Handlungsmuster. Schulverweigerung ist konflikthaft, mit Tendenz zum Dauerkonflikt, sowohl im Inneren als auch im Äußeren. Das Konfliktmanagement gerät in den Blick.
Die Kapitel neun und zehn zielen auf die Methoden systemisch-lösungsorientierter Beratung und Kurzzeit-Coaching mit Schulverweigernden.
Das Forschungsdesign, die Durchführung der Interviews, die Stichprobe und die Auswertung lassen sich in den Kapiteln 12 bis 15 nachvollziehen.
Besonders spannend sind die Kapitel 16 und 17, in denen strukturierte Ergebnisse mit Auszügen aus den Transkriptionen und gewählten Kategorien erschließbar sind. Acht Kategorien von der Dauer der Schulverweigerung über Entscheidungen und Rechtfertigungen, Zirkularitäten und Phasen, Lösungswege, Bewältigungsstrategien und neue individuelle Lösungen, Aktivierungen und Weiterentwicklungen führen über Sinnfindungen und Lösungsvisionen in die „perfekte“ Zukunft. Das im Titel angekündigte „Neun-Phasen-Modell der Schulverweigerung“ ist bereitet. In der Zusammenfassung und Diskussion wird es entfaltet. Aus den Ursachen (Phase 1) wachsen „Türöffner“ (konkrete Impulse oder Situationen, Phase 2), die zu Entscheidungen zwingen (Phase 3). Muster werden gebrochen, der zumindest zeitweilige Ausstieg führt zu Euphorie und Wohlbefinden (Phase 4), dieses wiederum zu verstärktem Ausstieg und zu Transformationen (Phase 5), zu bereichernden informellen Lernerfahrungen und Entwicklung von Kompetenzen. Es bleibt jedoch nicht bei der Euphorie. Die Ernüchterung folgt, die Krise (Phase 6). Die Krise findet Erholung, Wechsel-Wirkungen (Phase 7) zeigen sich, Wechselwirkungen zwischen Verweigerung, Lösungsfindung und Entwicklungen. Das ist ein dynamischer Prozess, hier zirkulär verstanden, andere sprächen von Dialektik. Die Erholung schafft Raum und Zeit für Experimente und Neuorientierungen (Phase 8). In ihr wachsen die Weiterentwicklungen (Phase 9). Das Phasenmodell entstand in Anlehnung an Denkmodelle der Organisationsentwicklung von Königswieser und Exner (161). Ähnliche Entwicklungsverläufe sind aus der Sozialpsychologie bekannt, wie beispielsweise in der Forschung zu Erwerbslosen die Schock-Fatalismus-Kurve von Thomas Kieselbach und Ali Wacker (1985) [2]. Die Lösungswege offenbaren den gesamten Horizont subjektiver bis gesellschaftlicher Ideen, wie der Wahrnehmung der Schulverweigernden als Expert_innen oder der Veränderungsbedarfe des Schulsystems. Schüler_innen sehen sich als „Schulverweigerungsaktivist_innen“, wünschen mehr Partizipation und Mitbestimmung, schlagen eine Plattform vor zum Austausch, möchten die Schulnoten abschaffen, wünschen sich Beratung und Lehrkräfte mit Vertrauen. Sie zeigen Lernlust, Selbstreflexion und Aktivität, sie sind kreativ. Sie finden Ressourcen, Bewältigungsstrategien, entwickeln Kompetenzen und entfalten Potenziale. Sie finden einen Sinn in der Schulverweigerung und im Leben ohne Schule oder auch wieder mit Schule. Sie entwickeln Lebensvisionen, träumen von „perfekter Zukunft“.
Als Fazit resümiert Kiniger im 18. Kapitel, das Schulverweigerung eine Entwicklungschance ist. Und sie sieht, wie immer in Forschungsergebnissen, weiteren Forschungsbedarf. Kiniger hofft, dass ihre Ergebnisse Verbreitung finden und ein Umdenken in Gesellschaft und Schule anstoßen. Ein wichtiges Ergebnis war der Wunsch der Schüler_innen Schulverweigerung auch stärker in der Schule zu thematisieren. Dafür hatten sie Ideen und gemeinsam mit der Autorin entwickelten sie Übungen dafür, die sie in einem Methodenkoffer bündeln, der in 2022 veröffentlicht werden soll. Erste Übungen, z.B. die „wundervolle Ideenstraße“, findet sich im 19. Kapitel als Praxisempfehlung. Dies ist ein besonders hervorzuhebendes Ergebnis.
Max hat die Matura geschafft.
Diskussion
Der vorliegende Band präsentiert Forschungsergebnisse eines systemisch-lösungsorientierten Ansatzes. Dieser fokussiert auf die Ressourcen und Potenziale von Schulverweigernden. Die Subjektperspektive zeichnet ihn aus und ist als Stärke zu sehen. Diese Perspektive wird in der Praxis weitgehend ausgeblendet. Deutlich wird in den Interviews der qualitativen Untersuchung, dass die Perspektiven der Schüler_innen stärker zu beachten sind. In ihnen stecken Potenziale, die Schule nicht wahrnimmt. Dies ist Chance und Herausforderung zugleich. Die Passung von Schule und Schüler_innen wird eingefordert. Schule hat sich zu verändern. Inwiefern Schulen und Lehrkräfte diese Botschaften aufnehmen und Bereitschaft zeigen, bleibt abzuwarten. Das Schulsystem ist gefordert. Über den angezeigten Forschungsbedarf hinaus sind auch die Unterstützungsbedarfe der Schüler_innen in der Schule und ihrer Eltern bedeutsam. Wenn ein_e Beschäftigte_r in der Arbeitswelt zu einem Krisengespräch mit einer/m Vorgesetzten geht, hat sie/er das Recht und die Möglichkeit, sich Unterstützung mitzunehmen, eine_n Kolleg_in, Betriebsrät_in oder Anwält_in. In der Schule sind diese Unterstützungsformen unterentwickelt. Auch Schüler_innen oder Eltern können sich Unterstützung mitnehmen, Eltern, Mitschüler_innen, Schüler- oder Elternvertretende oder auch Anwält_innen. Dies ist eine Möglichkeit, die strukturelle Machtasymmetrie zwischen Schule und Schüler_innen oder Eltern besser auszubalancieren. Hier gibt es vor allem Bildungs- und Aufklärungsbedarfe, Schule hat dazu einzuladen. Alle schulrelevanten Fragen sind Gegenstand für die Vertretungen der Schüler_innen und Eltern. Schulverweigerung ist von ihnen auf die Agenda zu setzen. Diese wäre auch ein Schritt zu mehr Demokratie in der Schule, eine weitere Entwicklungschance.
Fazit
Die subjektiven Perspektiven der Schüler_innen zeigen Handlungsorientierungen auf, die Mut machen. Gespannt sein wird man, ob diese Impulse von der Schule und den Verantwortlichen wahrgenommen werden. Sie könnten auch Anregungen für Schulverweigernde selbst sein, sich mutig für ihre Bedürfnisse und Interessen einzusetzen und ihre Erfahrungen auszutauschen, stärker selbst in die Öffentlichkeit zu treten. Für die Schüler- und Elternvertretungen könnten die Erkenntnisse ein Anstoß sein, sich mit dem Thema zu beschäftigen und ihre Vertretungsaufgaben ernst zu nehmen. Die Stärkung demokratischer Strukturen in der Schule sind wünschenswert. Der angekündigte Methodenkoffer macht neugierig. Ich nehme die Literatur in mein Seminar auf.
[1] Ottersbach, Markus (2021): Soziale Arbeit mit marginalisierten Jugendlichen, Stuttgart
[2] Kieselbach, Thomas;Wacker, Ali (Hg., 1985): Individuelle und gesellschaftliche Kosten der Massenarbeitslosigkeit, Weinheim
Rezension von
Erik Weckel
M.A., Politikwissenschaftler, Dozent an verschiedenen Hochschulen, u.a. an der HAWK Hildesheim in der Sozialen Arbeit, Erwachsenenbildner
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Es gibt 14 Rezensionen von Erik Weckel.
Zitiervorschlag
Erik Weckel. Rezension vom 15.10.2021 zu:
Johanna Kiniger: Schulverweigerung als Entwicklungschance? Ein systemisch-lösungsfokussierter Ansatz – Das Neun-Phasen-Modell der Schulverweigerung. Carl Auer Verlag GmbH
(Heidelberg) 2021.
ISBN 978-3-8497-9049-3.
Reihe: Verlag für systemische Forschung.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28715.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.
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