Rebecca Mörgen: In Beziehung treten
Rezensiert von Sarah Cleve genannt Klebert, 03.11.2021

Rebecca Mörgen: In Beziehung treten. Etablierungsprozesse von Beratungs- und Arbeitsbeziehungen im Feld der aufsuchenden sozialen Arbeit : eine Ethnographie im Kontext der Prostitution.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2020.
364 Seiten.
ISBN 978-3-7799-6156-7.
D: 39,95 EUR,
A: 41,10 EUR,
CH: 45,02 sFr.
Reihe: Soziale Probleme - soziale Kontrolle.
Thema
Die vorliegende Studie fokussierte körperleibliche Dimensionen der aufsuchenden Sozialen Arbeit im Kontext von Prostitution. Dabei werden gleichsam die Sozialarbeiter:innen und die Sexarbeiter:innen als Subjekte des Feldes betrachtet. Durch das ethnografisch erhobene Material werden körperleibliche Vollzüge bei Etablierungsprozessen von Arbeitsbeziehungen herausgearbeitet. Des Weiteren werden Herausforderungen, Irritationen und Schwierigkeiten bei Eintrittsmomenten und Besuchen in den Arbeitsumgebungen der Sexarbeiter:innen dargestellt. Ebenso wird das professionelle Handeln der Sozialarbeiter:innen analysiert.
Das Verhältnis von Körper, Sexarbeit, und (aufsuchender) Sozialer Arbeit sei in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen ein kaum beforschtes Feld, in das diese Studie intervenieren soll.
Zur Autorin
Rebecca Mörgen (geboren 1985) ist Diplom-Pädagogin. Seit 2012 arbeitet sie als wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für außerschulische Bildung und Erziehung der Universität Zürich. 2018 promovierte sie am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Zürich zu Etablierungsprozessen von Arbeitsbeziehungen der aufsuchenden Sozialen Arbeit im Kontext von Prostitution.
Aufbau
Die vorliegende Studie gliedert sich in elf Kapitel. Das erste Kapitel beleuchtet den Gegenstand der Forschung und den Forschungsbedarf. Im zweiten Kapitel werden theoretische Bezüge zum Forschungsgegenstand hergestellt und die Theoriezugänge erläutert. Kapitel drei und vier umfassen die Methodologie und die Erhebungs- und Auswertungsmethoden der Studie. Daran anschließend folgen sechs empirische Ergebniskapitel (Kapitel fünf bis zehn), die der prozessualen Logik der aufsuchenden Sozialen Arbeit folgen und jeweils signifikante Aspekte des erhobenen Materials beleuchten. Kapitel elf resümiert als Fazitkapitel die empirischen Ergebnisse und ordnet diese im Fachdiskurs ein.
Inhalt
Die Studie interessiert sich für die „körperleibliche Dimension des professionellen Handelns der aufsuchenden Sozialen Arbeit im Kontext Prostitution“ (S. 19). Dabei fokussiert Mörgen körperpraktische Herstellungsmechanismen des sozialpädagogischen Alltags und körperleibliche Vollzüge bei Etablierungsprozessen von Arbeitsbeziehungen. Betrachtet werden Sexarbeiter:innen und Sozialarbeiter:innen. Die Datenerhebung erfolgte in der Deutschschweiz in einer Beratungsstelle für Personen, die im Sex(dienstleistungs)gewerbe tätig sind. Des Weiteren werden Herausforderungen und Schwierigkeiten bei Eintrittsmomenten und Besuchssituationen in die Arbeitsumgebungen der Sexarbeiter:innen beleuchtet. Der ethnografische Zugang kombiniert sich in dieser Studie mit einer phänologisch-praxeologischen Perspektive, um einen differenzierten Blick auf sozialpädagogische Professionalität und professionelles Handeln im Kontext von Prostitution herauszustellen.
Im ersten Kapitel werden grundlegende Begriffe bestimmt und die historische und gesellschaftliche Verortung von Prostitution im Kontext der Forschung dargestellt. Ebenso wird die (aufsuchende) Soziale Arbeit im Kontext von Prostitution in ihrem Forschungsstand geklärt und daraus folgend erklärt sich der Forschungsbedarf der Studie.
Das zweite Kapitel stellt theoretische Bezüge zu Körper(-lichkeit), Leib und körpertheoretische Perspektiven dar. In einem Zwischenfazit wird unter anderem festgehalten, dass die sozialwissenschaftliche Untersuchung von Körper und Leib als Gegenstände nur gelingen kann, wenn Körper gleichsam als eine materielle Gegebenheit und als eine soziale Konstruktion betrachtet wird. Ebenso entsteht bei Besuchen der Sozialarbeiter:innen eine „körperleibliche Kopräsenz“ (S. 83), bei der die Deutung des Sprechens als Handlung wichtig ist. Neben der verbalen und nonverbalen Kommunikation wird die Interaktion mit materiellen Dingen und Artefakten des Feldes betrachtet.
Das dritte Kapitel stellt die Methodologie der Studie heraus. Die ethnografische Studie nutzt teilnehmende Beobachtungen für die Teilnahme im Feld. Dabei bietet das ethnografische Vorgehen das Verknüpfen von drei qualitativen Forschungsmethoden: teilnehmende Beobachtung, Interviews und Dokumente/​Artefakte. Mit diesem Zugang können situative Praktiken als auch subjektive Wahrnehmungen und Perspektiven der Sozialarbeiter:innen erhoben werden. Darüber hinaus fertigt die Forscherin Feldnotizen und Beobachtungsprotokolle an, die ebenfalls wichtig für die Auswertung sind.
Das vierte Kapitel umfasst die Einschätzung der Feldzugänge, die Datenerhebung und die Auswertungs- und Analysestrategien. Die Auswertungsmethoden sollten vergleichsweise offen sein, um gleichsam den Umgang mit Körpern und routinierte Körperpraktiken empirisch rekonstruieren zu können. Somit nutzt die Forscherin das Codierverfahren der Grounded Theory, Ansätze der literaturwissenschaftlichen Textanalyse und sequenzanalytische Verfahren.
Das fünfte Kapitel analysiert Praktiken des Sich-Kleidens. Die Kleidung im Setting der aufsuchenden Sozialen Arbeit im Kontext von Prostitution ist von Bedeutung. Bekleidung verweist hierbei auf Professionalität und kann als symbolisches Kapital verstanden werden. Ebenso dienen Praktiken des Sich-Kleidens der Akzeptanz durch die Akteur:innen des Feldes.
Im sechsten Kapitel wird die Sichtbarkeit des Sexdienstleistungsgewerbes, Eintrittsschwellen zu und Innenräume der Sexarbeiter:innen betrachtet. Hierbei zeigt sich, dass Orte des Sexdienstleistungsgewerbes Eintrittsschwellen aufweisen, die den Übergang in das Rauminnere regulieren. Dabei werden markante Schwellenelemente in der Analyse deutlich. Die Innenräume selbst lassen sich ebenfalls als Schwellenräume deuten, da sie zumeist Aktions- und Rückzugsraum zugleich sind.
Im siebten Kapitel werden Praktiken der Kontaktaufnahme und des Zugangs in Bezug auf das situative In-Beziehung-Treten der Sozialarbeiter:innen rekonstruiert. Dabei werden zwei Zugangspraktiken differenziert: Zugangspraktik I – „Miteinander ins Gespräch kommen“ und Zugangspraktik II – „Die Herstellung von Zugang zwischen Kontrollpraxis und Unsicherheitsbearbeitung“. Es werden verschiedene Eingangscharakteristika und feldspezifische Begrüßungsrituale herausgearbeitet.
Das achte Kapitel analysiert Etablierungsprozesse einer Arbeitsbeziehung seitens der Sozialarbeiter:innen. Die situativen und prozessualen Aushandlungsmomente in der Arbeitsumgebung der Sexarbeiter:innen werden deutlich. Die Etablierungsprozesse sind fragil und situativ abhängig. Kurzberatungen und Informationsgespräche werden in den Settings von den Sozialarbeiter:innen durchgeführt. Blickverhältnisse und Körperbewegungen sind in den Aushandlungsmomenten bedeutsam, da selten alle Anwesenden dieselbe Sprache sprechen beziehungsweise verstehen können.
In Kapitel neun werden Praktiken des Zeigens zwischen kontrollierender Fürsorge und aufklärender Professionalität analysiert. In der Analyse wird deutlich, dass der Akt des Zeigens situativ und performativ zu einer Aufführung der Sozialarbeiter:innen wird. Die gezeigten Artefakte dienen als körperbezogene Wissensvermittler, sowie auch als Grenzobjekte mit denen die Situation ausgehandelt wird. Das Setting der Gesundheitsprävention wird im Prozess der Begegnung und unter Einsatz der spezifischen Artefakte gestaltet.
Das zehnte Kapitel umfasst die Thematik von Schwangerschaft und Mutterschaft im Sexdienstleistungsgewerbe. Hierin wird rekonstruiert, wie Schwangerschaft von den Sexarbeiter:innen in der aufsuchenden Sozialen Arbeit zu einem Thema gemacht wird und welche Möglichkeiten die Thematisierung eröffnen oder einschränken. Ersichtlich werden situative Widersprüchlichkeiten und Irritationen. Die Forscherin macht deutlich, dass die Sozialarbeiter:innen sich bei dieser Thematik in einem Balanceakt zwischen Akzeptanz, Thematisierung, Fürsorge und Kontrolle befinden.
Das elfte Kapitel fungiert als Fazitkapitel und resümiert die empirischen Ergebnisse und ordnet diese in den Fachdiskurs ein. Herausgestellt werden kann hierbei, dass die Etablierung von Arbeitsbeziehungen ein relationaler Prozess ist, der auf Reziprozität und Sozialität beruht. Handlungsparadoxien, Dilemmata und potenzielles Scheitern sind alltägliche Arbeitsherausforderungen der Sozialarbeiter:innen, die es zu überwinden gilt. Die Alltagsherausforderungen des fragilen Interaktionsgeflechts zwischen Sozialarbeiter:innen und Sexarbeiter:innen wurden deutlich aufgezeigt.
Diskussion
Rebecca Mörgen stellt ihre ethnografischen Erlebnisse und Beobachtungen als Forscherin sehr anschaulich und nachvollziehbar dar. Chronologisch führt sie durch das Material. Die grafischen Darstellungen der Dienstleistungsräume unter Einbeziehung der anwesenden Körper schafft ein bildich-vorstellbare Ebene für Lesende. Hierin wird der Fokus auf die körperleibliche Dimension deutlich. Durch vorhandene Feldnotizen und Beobachtungsprotokolle werden Empfindungen aus den Situationen festgehalten und innerhalb der Analyse reflektiert.
Fazit
Die Studie von Rebecca Mörgen stellt anschaulich körperleibliche Dimensionen professionellen Handelns der aufsuchenden Sozialen Arbeit im Kontext von Prostitution dar. Herausforderungen, Irritationen und feldspezifisches Handeln wurden bei Etablierungsprozessen von Arbeitsbeziehungen differenziert herausgestellt. Die verschiedenen Handlungsmuster und das settingspezifische Interagieren der Sozialarbeiter:innen mit Akteur:innen des Feldes der Prostitution wurden umfangreich und detailliert dargestellt. Mit dieser Studie füllt Rebecca Mörgen eine Forschungslücke.
Rezension von
Sarah Cleve genannt Klebert
Studierende des Masterstudiengangs Bildungswissenschaft an der OvGU Magdeburg
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