Gabu Heindl: Stadtkonflikte
Rezensiert von Mag.a Valerie Scheibenpflug, 08.09.2021
Gabu Heindl: Stadtkonflikte. Radikale Demokratie in Architektur und Stadtplanung. Mandelbaum (Wien) 2020. 256 Seiten. ISBN 978-3-85476-869-2. D: 20,00 EUR, A: 20,00 EUR.
Thema der Publikation
Der Konflikt rund um die Aufteilung von urbanem Raum – das ist das zentrale Thema Gabu Heindls Dissertation, die 2020 unter dem Titel „Stadtkonflikte. Radikale Demokratie in Architektur und Stadtplanung“ erschienen ist. Die Autorin konzentriert sich in ihrem Buch auf Brennpunkte urbaner Kämpfe, insbesondere auf jene rund um Privatisierung und Kommodifizierung von öffentlichem Raum als auch Kapitalisierung von Wohnraum. Dabei zeigt Heindl nicht nur auf, wie sich Formen neoliberaler Kapitalakkumulation verstärkt auf die Gestaltung von urbanem Raum auswirken, sondern verortet auch Handlungsmöglichkeiten, um die Rolle von öffentlich-kollektiven Infrastrukturen in der Stadt zu stärken. In ihren Ausführungen verbindet Heindl ihre stadtplanerischer Expertise mit Wissen und Erfahrungen aus aktivistischer Praxis und radikaldemokratischer Theoriebildung. Dabei stellt die Stadt Wien immer wieder einen zentralen Bezugspunkt dar.
Vorstellung der Autorin
Gabu Heindl ist Architektin, Stadtplanerin und Aktivistin in Wien. Sie hat in Wien, Tokyo und Princeton studiert. Ihr Büro Gabu Heindl Architektur fokussiert auf öffentliche Raum, öffentliche Bauten, bezahlbares Wohnen sowie auf Kollaborationen in den Bereichen Geschichtspolitik und kritisch-künstlerische Praxis. Sie lehrt an der Akademie der Bildenden Künste Wien, an der Architectural Association London und ist Visiting Professor an der University of Sheffield.
Aufbau
Vor den drei Hauptteilen des Buches steht die Einleitung mit dem Titel Radikale Demokratietheorie, wo Heindl die theoretischen Grundlagen erläutert, die ihrer Auseinandersetzung mit Stadtkonflikten zugrunde liegen. Theoriegrundlagen für Heindls Auseinandersetzung mit den Debatten und Fragen der Stadtplanung sind Chantals Mouffes Theorie des Agonismus und Jacques Ranciéres dissenszentrierte Demokratietheorie. Heindl zeigt auf, wie konflikttheoretische Überlegungen für eine kritische Auseinandersetzung mit neoliberaler Stadtplanung fruchtbar gemacht werden können.
Der Aufbau ihres Buches spiegelt den im Buch verfolgten agonistischen Ansatz wider. Zunächst wird auf Funktionsweisen neoliberaler Stadtpolitiken verwiesen, wobei Heindl hier exemplarisch auf Finanzierungsmodelle der PPP (Public Private Partnership) zur Herstellung öffentlicher Infrastrukturen eingeht. Jenen drei P stellt Gabu Heindl drei andere gegenhegemoniale P gegenüber, die auch die drei Hauptteile des Buches bilden. Mit Politik, Planung und Popular Agency stellt Heindl drei anregende Bezugspunkte radikaldemokratischer Gestaltung urbanen Raums vor.
Inhalt
Für Heindl bilden Public Private Partnerships eine Gegenüberstellung von zwei extrem ungleich Beteiligten, deren Verbindung zu einer „Privatisierung der Gewinne und Sozialisierung der Verluste“ führt (vgl. Heindl 2020: 27). Die Autorin zeigt auf, wie neue Räume für die Akkumulation privaten Reichtums entstehen und Gestaltungsmöglichkeiten für öffentliche Akteure zunehmend schwinden. Mit Chantal Mouffe argumentiert Heindl, dass Möglichkeiten zur Gestaltung urbanen Raums durch postpolitische Narrative (Stichwort: TINA; There Is No Alternative) verschleiert werden. Heindl verortet einen neoliberalen Sieg innerhalb der Konfliktfelder stadtplanerischer Politiken, welcher sich in einer zunehmenden Verschiebungen von Gestaltungsmöglichkeiten (Agency) von Gemeinwohl-verpflichteter öffentlicher Hand zu profitorientierten Privatakteur*innen äußert. Dabei zeigt Heindl jedoch auch auf, dass die fortlaufende Produktion ökonomischer Ungleichheitsverhältnisse im öffentlichen Raum nicht in Stein gemeißelt ist, sondern kontingent und daher durch demokratische Prozesse agonistischen Streits veränderbar ist.
In dem Kapitel „Politik“ widmet sich Heindl einer kritischen Auseinandersetzung mit dem „Erbe des roten Wien“, insbesondere der Stadtplanungspolitik des sozialdemokratischen Wien der 1920er und 1930er Jahre. Die damals eingehobene Wohnbausteuer finanzierte einen wichtigen Teil der 64.000 Wohnungen, die in Wien zwischen 1923 und 1933 entstanden sind. Bis heute ist fast die Hälfte der Wohnungen Wiens in kommunalem Besitz. Für Heindl zeugen die Fassaden-Inschriften („aus den Mitteln der Wohnbausteuer…“) an den Gemeindebauten des Roten Wien von den Errungenschaften des Roten Wien, die sich mit den Ausführungen Heindls als räumlichen Sedimentierungen eines historischen Sieges des Proletariats lesen lassen. Neben diesen erspäht Heindl jedoch auch den heutigen Sieg neoliberaler Stadtplanung auf einem Plakat mit der Aufschrift: „You don't have to live in these apartments to love Vienna, owning them will do.“ (siehe Heindl 2020: 43) Heindl erkennt in jenen zwei unterschiedlichen Fassadeinschriften die Zeichen von Sieg und Niederlage, die sich im Zuge konflikthafter historischer Prozesse herausbilden. Hier kristallisiert sich eine spezifische Vorstellung von Geschichte und der Art und Weise der Gestaltung urbaner Räume heraus. Heindl folgend kann die Stadt als Ausdruck eines ununterbrochenen Gestaltungsprozess verstanden werden, als (räumlicher) Ausdruck kontinuierlicher Auseinandersetzungen und Kämpfe zwischen unterschiedlichen politischen Akteuren.
Gerade deswegen, so Heindl, erscheint die Kritik des Roten Wiens für Stadtplanung heute von Bedeutung. Kritik an dem Erbe des Roten Wien zu üben, bedeute dabei zugleich, Kritik als eine Art dieses Erbes zu verstehen (vgl. Heindl 2020: 43–57). Heindl macht deutlich, dass es konflikthafte Auseinandersetzungen waren, die das Rote Wien der 20er und 30er Jahre geprägt hatten. Dabei hat es Stimmen gegeben, die davor warnten, dass die progressive Gemeindereform des Roten Wien in den Widersprüchen kapitalistischer Rationalisierungslogik stecken bleiben könnte (Weihsmann), während andere wie Otto Bauer, dafür plädierten, die Lebensbedingungen von Arbeiter*innen in den Zeiten zu verbessern, in der der revolutionäre Kampf (noch) nicht zugespitzt ist. Dabei gelte es zugleich „die Bereitschaft zu radikalen Veränderungen nicht aus den Augen zu verlieren“. (Heindl 2020: 58)
Heindl zeigt, wie sich diese Debatten in den 20er und 30er Jahren auch rund um ästhetische Kritiken des Wohnens kristallisierten. Es entstand der Vorwurf, dass Rote Wien habe „Rote Wohninseln“ hervorgebracht, die den Rückzug des Proletariats in „idyllisierende Scheinwelten“ innerhalb der bedrohlichen Prekarität kapitalistischer Verhältnisse beförderten. Spannend an ihrer Darstellung der unterschiedlichen Positionen ist, dass es Heindl weniger darum zu gehen scheint, aufzuzeigen, welche Strategie oder welches Argument sich als das bessere darstellt. In ihrer Darstellung erscheinen sich die produktiven und gestalterischen Kräften linker Politik gerade durch die agonistische Auseinandersetzung und dem Aushalten von Widersprüchen zu entfalten. Heindl argumentiert hier hegemonietheoretisch und versteht die Bauten des Rote Wien insgesamt als Ausdruck eines zeitweiligen „Sieg im Hegemoniekonflikt“ (Heindl 2020: 78) und Ausdruck einer Stärke egalitärer Politik.
Gleichzeitig werden auch repressive Momente der roten Hegemonie gegenüber Selbstverwaltungsimpulsen und popularen Ermächtigungen veranschaulicht. So setzt sich Heindl in diesem Kapitel kritisch mit der Top-Down-Politik, dem Mangel an Gestaltungsmöglichkeiten, den paternalistischen Umgang mit der Siedler*innenbewegung und traditionellen Familien- und Geschlechterbildern im Roten Wien auseinander und zieht daraus Lehren für gegenwärtige Stadtentwicklungen und Stadtplanung. Heindls historische Darstellung enthält auch immer wieder Verweise auf heutige Konfliktlinien innerhalb Debatten rund um linke Stadtpolitik, wobei ihre Perspektive dazu einlädt, linke Politik innerhalb verschiedenster Konfliktfelder zwischen Institution und Bewegung zu verorten.
Potenzial für emanzipatorische urbane Bewegungen erkennt Heindl in Neuen Munizipalismen. Diese würden eine starke Beteiligung von Frauen aufweisen und eine Fokus auf Bottom-Up-Politiken stärken. Auch Bemühungen um eine Urban-Citizenship und die Herausbildung von Sanctuary Cities als rebellische Städte, die sich beispielsweise gegen Abschiebepraktiken wehren und Rechte von Geflüchteten und Sans Papiers verteidigen, stellen für Heindl heute wichtige neue Politikformen dar, an die auch ihre Projekte anknüpfen.
Im Kapitel „Planung“ untersucht die Autorin, erneut in der Gestalt einer historisch argumentierenden Analyse, Konfliktfelder stadtplanerischer Theorie und Praxis in der neoliberalen Stadt. Wie schon im vorherigen Kapitel veranschaulicht Heindl ihre Thesen anhand des Beispiels der Stadt Wien, die im internationalen Vergleich oft als Vorzeigemodell in Hinblick auf Lebens- und Wohnqualität herangezogen wird. Heindls Ausführungen machen deutlich, dass starke Tendenzen einer zunehmenden Reduktion staatlicher Steuerungsmöglichkeiten und die Verschiebung von öffentlichem Interesse zu privatem Interesse in europäischen Großstädten auch Wien betrifft. In ihren Überlegungen, wie Planung anders aussehen könnte, befragt Heindl unter anderem das Konzept der Anwaltsplanung und der equity planung. Sowohl die Anwaltsplanung, als politisch-parteiische Planung und equity Planung mit dem Ziel der Herstellung von Chancengleichheit bespricht Heindl hinsichtlich ihrer Möglichkeiten und Grenzen zwischen Top-Down und Bottom-Up-Prozessen.
In ihrem letzten Kapitel „Popular Agency“ plädiert Heindl dafür „vermessen zu fordern“, im Sinne eines „Sich nicht Zufriedengeben mit den unter der Hand normalisierten Minima“ (Heindl 2020: 195), beispielsweise, wenn es um Fragen nach einem Existenzminimum von Wohnraum oder Raumverteilungsfragen geht. Immer wieder findet man zwischen dem Text Fotos und Abbildungen von Projekten des Architekturbüros Gabu Heindl Architektur, wie beispielsweise ein Foto, auf dem man Kinder auf einer neu gebauten Dachterrasse der öffentlichen Schule BG Zehnergasse spielen sieht oder auch einen Plan von dem kollektiven Wohnprojekt SchloR.
Populare Handlungsmacht versteht Heindl mit Stuart Hall in erster Linie als ein Feld der Ausverhandlung von gesellschaftlichen Konflikten, in der unterschiedliche Akteur*innen agieren. Hier schenkt sie der Rolle der akademisch geschulten Stadtplanung große Aufmerksamkeit und argumentiert mit Gayatri Spivak, dass es, um ein „ethisches Moment der Selbstentfremdung“ (Heind 2020:174) zu vertiefen, für Architekt*innen darum gehe müsste, die eigenen Privilegien zu verlernen. In dem letzten Kapitel zeigt Heindl, wie stadtplanerische Expertise mit popularer Handlungsmacht zusammenwirken kann. Dabei verweist sie auf die Bedeutung urbaner sozialer Bewegungen wie „Recht auf Stadt“, „Occupy“, „Housing for All“, die für Heindl zentral für urbane Politiken sind und die in einem engen Bezug zu radikaldemokratischer Stadtplanung stehen. Ansätze für die Aussicht auf ein stärkeres Zusammenwirken von Politik, Stadtplanung und Popular Agency entwickelt Heindl unter anderem anhand des „Fallbeispiels“ Donaucanale für Alle in Wien. Demonstrant*innen besetzten 2015 die Donaukanalwiese, um sie vor der kommerziellen Nutzung durch Gastronomie-Investor*innen zu schützen. Dabei bezogen sich die Protestierenden explizit auf einen „Nichtbebauungsplan“, den Gabu Heindl zuvor mit anderen der Stadtentwicklungskommission vorgelegt hatte.
Diskussion
Obwohl ihr Buch theorieaffin ist, wird deutlich, dass es Heindl nicht nur um eine philosophische Reflexion auf den Streit rund um die Gestaltung der Stadt geht – vielmehr stellt ihr Beitrag selbst eine theoretische Intervention innerhalb des demokratischen Streites dar. Dabei bleibt Heindls These von einer zunehmenden Neoliberalisierung der Stadt in ihren Ausführungen keine leere Floskel – vielmehr werden anhand von Beispielen konkrete Probleme und Herausforderungen festgemacht. Neoliberale Planungspolitik verortet Heindl beispielsweise in der Aufwertung privater Grundstücke zur Erhöhung der „rent gap“, d.i. der Unterschied des Ertrags, den ein Grundstück vor oder nach einer planerischen „Verbesserung“ abwirft (vgl. Heindl 2020: 112).
Heindls Perspektive lädt dazu ein, Konflikte innerhalb linker Politiken nicht nur als Hindernis, sondern mitunter als Motoren emanzipatorischer Politik zu begreifen. Dabei verweist sie immer wieder auf “historische Siege” linker Politiken, denen in Heindls Darstellung niemals ein einheitlicher kollektiver Wille vorausgegangen und deren historischer Entwicklungsgang nie linear und harmonisch war.
Dieser politisch-theoretische Zugang zeigt sich auch in Heindls Auseinandersetzung mit Nikolai Roskamms Konzept der „unbesetzten Stadt“. Unbesetzt bedeutet hier vor allem, dass es keine vollständige, dauerhafte, stabile und gänzlich unveränderbare Besetzung der Stadt geben kann. Demgegenüber betont Heindl, dass unbesetzte Räume der Stadt über kurz oder lang meist in einer „Kapital-Besetzung“ resultieren. Das klingt plausibel, wenn man bedenkt, wie schwierig es ist, privatisierten Raum, wieder zu enteignen, wenn er einmal von profitorientierten Akteur*innen besetzt wurde. Einmal durchgeführte Privatisierungen des öffentlichen Raumes sind meist sehr stabile und äußert schwer veränderbare Setzungen. Setzt man der These von der „Kapital-Besetzung“ die These von der „Unbesetzen Stadt” gegenüber, wirkt letztere womöglich recht zahnlos. Gabu Heindl spielt diese Thesen jedoch nicht gegeneinander aus, sondern macht beide für ihren radikaldemokratischen Zugang fruchtbar. Für Heindl ist es möglich, die Stadt als prinzipiell unbesetzt zu denken, ohne dabei die Macht von Kapital-Besetzungen in den Hintergrund zu rücken. Dabei verweist sie immer wieder auf konkrete Herausforderungen neoliberaler „Setzungen“ und zeigt, wie diese drohen, die Stärke und Offenheit popularer Handlungsmacht zu beschränken.
Heindl lenkt den Blick der Leser*innen auf gesellschaftliche Neugründungen, die sich in konflikthafter Auseinandersetzung herausbilden: Kollektive Handlungsmacht, Solidarität und Planung sind Setzungen strittiger Aus-einander-setzung. Wie neue „Gründungen“ aussehen könnten, bleibt in Heindls Darstellung dabei weitgehend offen. Gleichzeitig scheut Heindl aber auch nicht davor zurück, sich an gewissen Stellen klar zu positionieren: Perspektiven für urbane Neugründungen sieht sie in Forderungen nach Teilhabe in der Stadt, Wahlrecht, Anspruch auf Mitgestaltung, Zugang zu Urbanität, bezahlbarem Wohnraum und solidarischen Lösungen für die Klimakrise.
Fazit
Heindls Buch stellt einen gelungenen Versuch dar, aktivistische und praktisch-stadtplanerische Erfahrungen mit politisch-theoretischen Konzepten und Überlegungen aus dem akademischen Feld zu verbinden. Aus Heindls Perspektive ist der Weg zu solidarischen Infrastrukturen mit der Bildung von Allianzen unterschiedlicher Akteur*innen verbunden, die auf verschiedenen Ebenen und in einem Da-zwischen von Institution und Bewegung agieren. Dieser Weg, den sie auch in ihren Buch geht, scheint vielversprechend, originell und in vieler Hinsicht weiter nachgehenswert. Ihr Buch ist für alle lesenswert, die sich für neue urbane Politiken, linke Allianzen und damit verbundenen politisch-theoretischen Überlegungen interessieren.
Rezension von
Mag.a Valerie Scheibenpflug
Prae-Doc-Assistentin am Institut für Politikwissenschaft Wien (Fachbereich: Politische Theorie)
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Zitiervorschlag
Valerie Scheibenpflug. Rezension vom 08.09.2021 zu:
Gabu Heindl: Stadtkonflikte. Radikale Demokratie in Architektur und Stadtplanung. Mandelbaum
(Wien) 2020.
ISBN 978-3-85476-869-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28717.php, Datum des Zugriffs 08.11.2024.
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