Paul Collier, John Kay: Das Ende der Gier
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 15.09.2021

Paul Collier, John Kay: Das Ende der Gier. Wie der Individualismus unsere Gesellschaft zerreißt - und warum die Politik wieder dem Zusammenhalt dienen muss. Siedler Verlag (München) 2021. 288 Seiten. ISBN 978-3-8275-0142-4. D: 24,00 EUR, A: 24,70 EUR, CH: 33,07 sFr.
Wir sind ahnungslos - sind wir auch machtlos?
Der anthrôpos, das mit Verstand ausgestattete, zur Bildung von Allgemeinurteilen befähigte, zwischen Gut und Böse, Richtig und Falsch unterscheidungsfähige Lebewesen, ist ein verletzbares, unfertiges Subjekt. Es bedarf, um sich der Conditio Humana mächtig zu werden, der aktiven Bildung und Aufklärung (Angela Janssen, Verletzbare Subjekte. Grundlagentheoretische Überlegungen zur conditio humana, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/25043.php). Das Dilemma wird philosophisch, anthropologisch, psychologisch, soziologisch und ökonomisch immer wieder thematisiert. Die Erwartungshaltung und Hoffnung, dass der Mensch als Individuum und Gemeinschaftswesen zu ethischen und moralischen Einstellungen finden möge, wie sie in der „globalen Ethik“, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 zum Ausdruck kommt – „Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte bildet die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“ – ist Ziel der Conditio Humana. Besonders in den Zeiten von Gefährdungen, wie sie die globale Covid-19-Pandemie erzeugen, zeigen sich Eigenschaften und Verhaltensweisen, bei denen der Homo Egoisticus all seine schlechten Eigenschaften zum Vorschein bringt: „Ich ist das Wichtigste!“. Diesen Fehlentwicklungen entgegen zu treten ist individuelle und kollektive Aufgabe.
Entstehungshintergrund und Autorenteam
Die (theoretischen) Forschungen zu Fragen, ob und wie Gesellschaften Pandemien bewältigen, geben Antworten, die nicht immer mit den Wirklichkeiten übereinstimmen. So hat die Johns-Hopkins-Universität in Baltimore ermittelt, dass die USA, Großbritannien und die Niederlande mit ihren Strukturen und Maßnahmen am besten gegen SARS-CoV-2-Ausbrüchen gerüstet seien. Als der Virus sich dann jedoch ausbreitete, zeigte sich, dass diese Länder keinesfalls einen besseren Schutz gegen die Ansteckung boten. Was also ist es, das die Pandemie bewältigt?
Der Ökonom Paul Collier hat sich bereits mehrfach zu Fragen der lokalen und globalen Gerechtigkeit zu Wort gemeldet, und die Ungerechtigkeiten in der Welt angeprangert (Sozialer Kapitalismus, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/25338.php). In Zusammenarbeit mit dem Wirtschaftswissenschaftler John Kay macht er sich auf die Suche, wie in Zeiten von Unsicherheiten und Gefährdungen Licht und Zuversicht in den Kampf gegen die globale Seuche gebracht werden kann. Sie identifizieren den extremen Individualismus als Treiber der weltweiten Heimsuchung. Die Konsequenz: Ins individuelle, lokale und globale Bewusstsein bringen, dass die wichtigste Ressource eines gerechten, menschenwürdigen Zusammenlebens eine intakte Gemeinschaft ist. Es ist die Solidarität, die ein gutes, gelingendes, gesundes Leben ermöglicht: „Zugehörigkeit erlegt uns keine Bürden auf, vielmehr macht sie uns erst zu vollgültigen Menschen“.
Aufbau und Inhalt
Das Essay wird in drei Kapitel gegliedert. Im ersten setzen sich die Autoren mit dem „Triumph des Individualismus“ auseinander; im zweiten werden Bedeutung, Möglichkeiten und Grenzen des Staates diskutiert, wenn es um die Bewältigung von „Krisensymptomen“ geht; und im dritten Kapitel wird die „Gemeinschaft“ als Alternative zu Ego und Momentanismus-Einstellungen benannt. Die Autoren nehmen die britischen und westlichen pandemischen Entwicklungen als Grundlage, um Perspektiven für eine globale, humane Bewältigung von Gefährdungen zu erarbeiten. Es ist die abweichende, gemeinschaftszerstörende Haltung der Gier, die als Habsucht und Habenmentalität (Erich Fromm) Denk- und Handlungsweisen hervorruft und Humanität auf ökonomischen und allgemeingültigen Lebensformen unmöglich macht (Hans Bürger, Der vergessene Mensch in der Wirtschaft. Ökonomie zwischen Gier und Fairness, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14184.php).
Es sind die Vorstellungen von der „individualistischen Selbstverwirklichung“, die den Wert des Kollektivs schmälern und seine konstitutiven Möglichkeiten geringschätzen (Gabriele Jähnert, Hrsg., Kollektivität nach der Subjektkritik, 2013, www.socialnet.de/rezensionen/15958.php). Der Staat, als gemeinschaftsstiftende Institution, weckt Erwartungshaltungen; er bietet den Individuen Lebens- und Bildungsperspektiven; gleichzeitig aber fordert er den Willen und die Kompetenz zur Mitgestaltung. Besonders in Krisensituationen entwickeln sich individuelle und extreme Einstellungen an den Rändern der Gesellschaft (Markus Gabriel / Gert Scobel, Zwischen Gut und Böse. Philosophie der radikalen Mitte, 2021, www.socialnet.de/rezensionen/28603.php). Die zu befürwortenden demokratischen Entwicklungen werden immer wieder angegriffen und gestört durch ego-, ethnozentristische und populistische Aktivitäten (Heribert Prantl, Vom kleinen und großen Widerstand. Gedanken zur Zeit und Unzeit, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/25281.php). So ist es gerade heute angezeigt, die konstitutiven und existenten Werte der Gemeinschaft zu betonen. Es sind die unterschiedlichen Konzepte und Theorien, die in der Spannweite von „kommunitaristischer Governance“ bis hin zu Gedanken der „Allmende“ (Elinor Ostrom / Silke Helfrich) und zum „effektiven Altruismus“ (MacAskil / Singer) reichen. Die zahlreich aufgeführten Beispiele von gelingenden und misslingenden Initiativen zeigen, wie in der aktuellen, coronalen Zeit der Irritationen eine individuelle, lokale und globale Entwicklung vom „Ich“ zum „Wir“ geschaffen werden kann: Den Staat nicht zu überfrachten mit Regelungen und Verordnungen hin zu einem guten, gelingenden Leben für alle Menschen auf der Erde, sondern jeden einzelnen Menschen instand zu setzen, selbst in Gemeinschaft mit den Mitmenschen freiheitliches Leben zu ermöglichen.
Diskussion
Der Homo oeconomicus wird im ökonomischen Diskurs als ein unsympathisches Lebewesen charakterisiert, das „mit seiner Habgier und seiner potentiellen Faulheit ( ) den Besitzindividualismus (verkörpert)“. Das dabei praktizierte „Shareholder-Value-Konzept“ sollte auf diese Eigenschaften reagieren und das kapitalistische Nutzendenken salon- und alltagstauglich machen. Hier tut sich eine Falle auf: Denn Nutzen (an sich) ist ein positiver Wert, der erst dann zum Unwert wird, wenn die Gier das empathische, solidarische Bewusstsein überdeckt (Michael J. Sandel, Was man für Geld nicht kaufen kann, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14242.php). „Individualismus ist Einsamkeit, nicht Befreiung“ – diese Einsicht sollte ermöglichen, sich individuell und kollektiv daran zu beteiligen, im ökonomischen, ökologischen und anthropologischen Prozess zur Beendigung der Gier beizutragen.
Fazit
Die 2020 in London erschienene Originalausgabe „Greed is Dead. Politics After Individualism“ wurde 2021 in deutscher Sprache vom Penguin Random House / Siedler-Verlag herausgebracht. In der deutschen Ausgabe fragen im Vorwort die Autoren: „Warum jetzt?“. Die Analyse, dass der lokale und globale Aufstieg des Individualismus die Kompetenz der Menschen schwächt oder gar verhindert, „gemeinsam auf bestimmte Ziele hinzuarbeiten“, durch SARS-CoV-2 verstärkt wird, erfordert ein neues Nachdenken und Tun der Menschheitsfamilie: „Es herrscht ein neues Verlangen danach, Dinge selbst in die Hand zu nehmen, und die Einsicht, dass die Fülle der Ängste… nur dadurch bewältigt werden kann, dass man zusammenkommt“. Von Philip Morrison (1959) stammt die Erkenntnis: „Die Wahrscheinlichkeit eines Erfolgs ist schwer einzuschätzen, aber wenn wir nie suchen, ist sie gleich null“. Der Umwelt- und Menschenrechtsaktivist Hans A. Pestalozzi (1929 – 2004) hat in seinem Buch „Nach uns die Zukunft“ (1979) von der „positiven Subversion“ gesprochen; und in einem lateinamerikanischem Gedicht ist die Aufforderung zu lesen: „Lass uns zusammenkommen unter diesem Baum, der noch gar nicht gepflanzt ist“. Es sind die optimistischen Erwartungshaltungen, zu denen uns die Autoren Paul Collier und John Kay führen!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 15.09.2021 zu:
Paul Collier, John Kay: Das Ende der Gier. Wie der Individualismus unsere Gesellschaft zerreißt - und warum die Politik wieder dem Zusammenhalt dienen muss. Siedler Verlag
(München) 2021.
ISBN 978-3-8275-0142-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28719.php, Datum des Zugriffs 28.09.2023.
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