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Kathrin Hohmann: Gemeinsam durch die Wut

Rezensiert von Prof. Dr. Jürgen Benecken, 17.01.2023

Cover Kathrin Hohmann: Gemeinsam durch die Wut ISBN 978-3-9822643-0-1

Kathrin Hohmann: Gemeinsam durch die Wut. Wie ein achtsamer Umgang mit kindlichen Aggressionen die Beziehung stärkt. edition claus (Limbach-Oberfrohna) 2021. 3., korrgierte Auflage. 252 Seiten. ISBN 978-3-9822643-0-1. D: 25,00 EUR, A: 25,70 EUR.

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Thema

„Die Schicksalsfrage der Menschenart scheint mir zu sein, ob und in welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden.“ – (Sigmund Freud „Das Unbehagen in der Kultur 1930, 136). Mal abgesehen von der unnötigen und antiquierten Annahme eines (primären) „Aggressionstriebes“, waren und sind die pessimistischen Ausblicke Sigmund Freuds nach wie vor hochaktuell.

Das, was in jungen Jahren als Wutanfall, Trotzanfall, oft als böser „Bubenstreich“ verniedlicht, häufig im Zusammenhang mit prekären Lebenslagen, daherkommt, kann höchst destruktiv mit einer großen gesellschaftlichen Relevanz teuer enden. Oder in Abwandlung eines Sprichwortes: „Was Hänschen einmal gelernt hat, verlernt Hans nur noch schwer“.

Andrerseits ist die Unterdrückung von Wut und Aggression als Mittel zur Selbstbehauptung bzw. das mühsame Wiederentdecken entsprechender Gefühle und Impulse und vorsichtige Äußern ein zentrales Thema in vielen Psychotherapien insbesondere im Zusammenhang mit psychosomatischen und depressiven Erkrankungen.

Die vorliegenden kriminologischen und entwicklungspsychologischen Daten (u.a. Asendorpf et. al. 2008; u.a. Mofitt, 1993; Stadler, 2012; APA/DSM 5, 2014) belegen die Brisanz des Themas, die Bedeutung eines achtsamen und gefühlsoffenen Umgangs mit der eigenen und der kindlichen Wut und der Gefahr eines Nichternstnehmens entsprechender Tendenzen im frühen Kindesalter („early starter“).

Wenn dies nicht gelingt, droht ein Teufelskreis, in dem die Gefahr besteht, dass sich ehemals „heiße“ Aggression zu einer „kalten“ instrumentalisiert und die sich so entwickelnden Kinder therapeutisch/pädagogisch nur noch schwer erreichbar sind (Redl/Wineman, 1951; 1998; Dornes, 2009).

Der Beschäftigung mit frühkindlichen Aggressionen in der Frühpädagogik kommt somit eine herausragende Bedeutung zu. Die Art und Weise wie die relevanten Bezugspersonen in Familie und Kindergärten auch im Zusammenhang mit ihren eignen „Arbeitsmodellen“ und „Verstrickungen“ auf die Äußerungen von Wut, Ärger und Aggressionen reagieren, bestimmt u.a. das „Schicksal“ dieser Gefühle.

Autorin

Kathrin Hohmann ist seit über 15 Jahren im Bereich der Frühpädagogik in zahlreichen Funktionen tätig (Gründerin eines Kindergarten-Vereins; Aufbau bilingualer Kitas; Leitungsfunktion von Kindergärten im In- und Ausland; Dozentin und Autorin von pädagogischen Fachtexten u.a. für das „Niedersächsische Institut für frühkindliche Bildung“ und das „Praxisjournal „Betrifft Kinder“. Seit 2016 betreibt sie einen eigenen Blog und Podcast für Eltern und Fachkräfte, seit 2018 promoviert sie über Mehrsprachigkeit bei Kindern. Sie ist Mutter von zwei Kindern.

Entstehungshintergrund

Ausgangspunkt sei eine Begegnung im Rahmen eines Praktikums in Finnland. Als die damals 20-jährige Autorin einem 5-jährigen Mädchen etwas nicht erlaubt, wird sie von dieser heftig getreten. Ihre und die Reaktion des Mädchens („Gefühlt hörten wir einen Moment auf zu atmen“… „ich spürte einen inneren Reflex“ … „Sie schien Angst zu haben vor meiner Reaktion“, S. 12) erinnert die Autorin als „Schlüsselmoment“.

Diese und zahlreiche weitere Erfahrungen in der frühpädagogischen Praxis und in der eigenen Elternrolle weckten ihre Neugierde, sich intensiver auf das Thema Wut und Aggression sowohl bei (jungen) Kindern als auch bei den mitagierenden Erwachsenden einzulassen, um insbesondere Erzieher und Eltern für ihr Verhalten und Ihre Gefühle zu sensibilisieren, sodass ein offener Umgang mit den dahinter liegenden Gefühlen möglich wird und „… diese Teufelskreise, in denen Wut und Aggressionen mit Aggression beantwortet werden…“ gebrochen werden können und „Engelskreise“ (39) entstehen können.

Ihr Anliegen ist es,„… es mit dem Wissen, was uns heute zur Verfügung steht, anders zu machen“ (81)

Aufbau

Das Buch ist in neun jeweils farbig markierte Kapitel unterteilt und umfasst insgesamt 247 Seiten. Zu den einzelnen Kapiteln:

  • Wut und Aggressionen erkennen
  • Wut und Aggressionen verstehen
  • Das kindliche Gehirn begreifen
  • Gefühle und Bedürfnisse erfahren
  • Konflikte und Aggressionen entschlüsseln
  • Aggressionen in der pädagogischen Praxis
  • Handlungsstrategien entwickeln
  • (Zusammenfassung und Quellen)

Der Text wird jeweils durch zahlreiche Illustrationen, Literaturhinweise, Merksätze, Schaubilder und Übungsanleitungen ergänzt und unterbrochen.

Inhalt

Anhand von zahlreichen Alltagsszenen aus Kindergärten und Familien werden themenspezifisch in den einzelnen Kapiteln Anregungen und Links zur Selbstreflexion und Übungen zur Verhaltens- und Einstellungsänderung vermittelt. Das Buch von Kathrin Hohmann ist ein „Arbeitsbuch“, das zwar mit seinen neun Kapiteln einem roten Faden folgt, in das man aber an unterschiedlichen Stellen ein- und wieder aussteigen kann. Ihre Ausführungen werden durch aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Bindungsforschung, Traumaforschung, Hirnforschung, Aggressionsforschung und Entwicklungspsychologie unterlegt.

Die Autorin sieht und versteht Äußerungen von Wut und Aggression auf dem Hintergrund eines komplexes Bedingungs-Auslösemusters auf Seiten des Kindes UND der Erwachsenen (28). Das störende, aggressive Verhalten sei dabei nur „die Spitze des Eisbergs“ (Hervorhebung durch die Autorin).

Die Reaktionen der Erwachsenen, sei es in pädagogisch professionellen oder privaten Kontexten, seien von „unseren Kenntnissen über die kindliche Entwicklung, dem eigenen Stressmanagement, eingebrannten Mustern und den uns zur Verfügung stehenden Konflikthandlungsstrategien abhängig“ (29)

Diese Bezugnahme auf die eigene Person und die Ermunterung, die eigene Lerngeschichte im Umgang mit negativen (gesellschaftlich tabuisierten, 33/34) Gefühlen wie Wut und Ärger und der Äußerung von Aggressionen zu erinnern und zu reflektieren, zieht sich wie ein roter Faden durch alle Kapitel. Das Buch bietet dafür zahlreiche Übungen und Links an. U.a. durch

  • Übungen zur Stärkung der eigenen Selbstregulation
  • Zusatzmaterial Podcast #6: „Prägungen, Erinnerungen, Visionen – unserem inneren Kind mit Liebe begegnen“
  • Schaubilder: Das kindliche Gehirn begreifen und das Handmodell nach Siegel & Bryson (2017)
  • Anleitungen zur Steuerung der Wut
  • Schaubilder zum Erkennen und zum Umgang mit Bedürfnissen

Angelegt an schematherapeutische Konzepte (Jeffrey Young) sieht die Autorin in der eigenen Selbstregulationskompetenz den „goldene(n) Schlüssel“ (106; Hervorhebung im Text) und die Voraussetzung einer gelingenden Co-Regulation. Dabei empfiehlt sie, sich evtl. von Beratungsstellen oder Psychotherapeuten unterstützen lassen.

In Anlehnung an Bryson wird auf die Bedeutung des „Benennens“ von Gefühlen ausdrücklich hingewiesen (122/123).

Diskussion

Das Buch von Kathrin Hohmann verdient eine absolute Leseempfehlung und ist wohl nicht umsonst nach so kurzer Zeit schon in der 3. Auflage erschienen. Ohne Rezepte anzubieten, regt es dazu an und hilft dabei, sich auf eine persönliche Art mit diesem so wichtigen Thema und den dahinterliegenden Gefühlen und Kontexten auseinanderzusetzen. Die Autorin vermittelt die Inhalte sehr authentisch, verständlich, respektvoll und „achtsam“ und was besonders hervorzuheben ist, immer auch fundiert auf dem Hintergrund der aktuellen Forschung.

Interkulturellen Aspekten wird m.E. nur marginal Beachtung geschenkt. Da sich in Kitas, insbesondere in Großstädten, viele Kinder aus unterschiedlichen Kulturen mit unterschiedlichen Werten und Menschen-(kinder)-bildern befinden, hätte man sich zumindest in der Einleitung entsprechende Hinweise dahingehend gewünscht, dass das Buch sich eher an Kinder/​Eltern aus dem westeuropäischen Kulturkreis richtet und die Inhalte für die Anwendung in kulturgemischten Regionen und Einrichtungen entsprechend kultursensitiv adaptiert werden müssen.

Diese Einschränkungen möchte der Rezensent als Hinweis und weniger als Kritik verstanden wissen. Denn insoweit aggressive Verhaltensauffälligkeiten auch als „Mentalisierungsstörungen“ (Fonagy, u.a. 1995) verstanden werden können, kommt der Benennung und dem Reden wohl eine kulturübergreifende besondere Bedeutung zu.

Das Buch ist zugleich auch eine „Fundgrube“ für Erzieherinnen, Sozialarbeiterinnen und Lehrerinnen mit vielen Anregungen für die Gestaltung von Elternkursen, Teamsupervision und Elterngesprächen.

Auch Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen können unabhängig von ihren jeweiligen therapeutischen Ausrichtungen für ihre psychoedukative Arbeit gerade mit jüngeren Kindern und deren Bezugspersonen profitieren.

Nicht zuletzt soll die Arbeit des Verlages „Edition Claus“ und der Illustratorin Anna Lena Wollny positiv erwähnt werden: Die zahlreichen Illustrationen, ein insgesamt sehr kreatives und gelungenes Layout in Form einer großen Schrift, farbiger Markierungen, vieler Absätze, sowie Hervorhebungen einzelner Worte setzen Anker, fokussieren die Aufmerksamkeit und erleichtern und beschleunigen das Lesen.

Fazit

Das Buch von Kathrin Hohmann ist ein hervorragendes, wissenschaftlich fundiertes Arbeitsbuch mit zahlreichen themenspezifischen Anregungen und weiterführenden Hinweisen und Links zur Selbstreflexion, Teamarbeit und Fortbildung mit einer breiten Zielgruppe.

Literaturangaben

APA [American Psychiatric Association] (2015). Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-5® (2. korrigierte Auflage). Göttingen: Hogrefe.

Asendorpf, J. B., Denissen, J. J. A. & van Aken, M. A. G. (2008): Der lange Schatten der frühen Persönlichkeit. In W. Schneider (Hrsg.), Entwicklung von der Kindheit bis zum Erwachsenenalter. Befunde der Münchner Längsschnittstudie LOGIK (S. 124–140): Weinheim: Beltz Psychologie Verlags Union

Benecken, J. (2014). Kinder, die hassen im Kontext von Psychotherapie und Pädagogik. In I. Brock (Hg.). Psychotherapie und Empowerment. Opladen: Budrich (81-100)

Dornes, M. (1997; 2009). Die frühe Kindheit. Fischer: Frankfurt

Fonagy, P.; Target, M. (1995). Kinderpsychotherapie und Kinderanalyse in der Entwicklungsperspektive: Implikationen für die therapeutische Arbeit. Kinderanalyse 2: 150 – 186

Freud, S. Das Unbehagen in der Kultur (1930). Wien: Internationaler Psychoanalytischer Verlag

Moffitt, T.E. (1993): „Life-course persistent” vs. „adolescent-limited” antisocial behavior: A

developmental taxonomy. Psychological Review 100: 674–70

Redl, F.; Wineman, D. (1951/dt: 1979 f). Kinder, die hassen. München: Piper

Stadler, C. (2012). Übersichtsarbeit Störungen des Sozialverhaltens. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 40, 7–19.

Rezension von
Prof. Dr. Jürgen Benecken
appr. Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut; Dozent für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Diploma Hochschule
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Es gibt 3 Rezensionen von Jürgen Benecken.

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ISSN 2190-9245