Regina Remsperger-Kehm, Astrid Boll: Verletzendes Verhalten in Kitas
Rezensiert von Zlatija Milovanovic, 15.12.2021

Regina Remsperger-Kehm, Astrid Boll: Verletzendes Verhalten in Kitas. Eine Explorationsstudie zu Formen, Umgangsweisen, Ursachen und Handlungserfordernissen aus der Perspektive der Fachkräfte. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2021. 110 Seiten. ISBN 978-3-8474-2556-4. D: 18,00 EUR, A: 18,60 EUR.
Thema
Das vorliegende Buch ist ein Forschungsbericht über verletzendes Verhalten von Fachkräften in Kindertageseinrichtungen. Hier greifen die Autorinnen die aktuelle Situation in den Kindertageseinrichtungen auf, welche durch Personalmangel und Corona-Bedingungen geprägt ist, um das verletzende Verhalten der Fachkräfte den Kindern gegenüber zu untersuchen.
Autorinnen
Prof. Dr. Astrid Boll ist Erzieherin, studierte Bildungs- und Sozialmanagerin B.A. und verfügt über einen M.A. im Studienfach Soziale Arbeit. Prof. Dr. Boll promovierte an der TU in Dresden (Fakultät Erziehungswissenschaften). Aktuell ist Prof. Dr. Boll als Professorin für Kindheitspädagogik an der Europäischen Fachhochschule (EuFH) tätig.
Prof. Dr. Regina Remsperger-Kehm ist promovierte Erziehungswissenschaftlerin und Professorin für pädagogische Grundlagen der Sozialen Arbeit und Kindheitswissenschaften an der HS Koblenz. Ihre Arbeitsschwerpunkte und Forschungsinteressen sind unter anderem Interaktionen zwischen Kindern und Erwachsenen und Arbeitsbedingungen pädagogischer Fachkräfte.
Entstehungshintergrund
Die erschwerten Bedingungen für pädagogische Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen haben bei den Autorinnen den Verdacht ausgelöst, dass dies die Alltagsgestaltung erschwert oder sogar verletzendes Verhalten gegenüber Kindern begünstigt.
Aufbau
Das Buch besteht aus 8 Kapiteln auf 110 Seiten.
Inhalt
Kapitel 1: Hintergrund der Studie
Die Autorinnen weisen auf die Einführung des Rechtsanspruchs auf Kitaplätze für Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr und dem politischen Willen die Kinder immer länger und immer früher in Kindertageseinrichtungen zu betreuen hin. Gleichzeitig machen sie auf die besorgniserregende Personalsituation aufmerksam. Die Folgen des Personalmangels wurden mit Ergebnissen mehrere Studien dargelegt, (DKLK-Studie 2020 und auch Wolters Kluwer 2020), insb. größere Gruppen, das Streichen der pädagogischen Angebote und die Minimalbetreuung. Längerfristige Auswirkungen sind an der Fachkraft-Kind-Interaktion beobachtbar.
Kapitel 2: Forschungsstand
Der Forschungsstand wird aus vier verschiedenen Perspektiven dargestellt:
1. Stress und Belastungen von pädagogischen Fachkräften
In Abgrenzung zu anderen Berufen werden pädagogische Fachkräfte hohen psychischen Belastungen ausgesetzt. Hier werden Studien vorgestellt, welche die Auswirkungen von verschiedenen Stressfaktoren bei Fachkräften aufzeigen. Die Folgen sind unangemessenes und verletzendes Verhalten den Kindern gegenüber, das in schlecht geführten Einrichtungen zur Verflachung und zum Verschweigen der verletzenden Verhaltensweisen der pädagogischen Fachkräfte führt.
2. Feinfühlige Beziehungs- und Interaktionsgestaltung als Grundlage des Wohlergehens von Kindern
Diese Perspektive zeigt auf, wie wichtig das sensitiv-responsive Interaktionsverhalten der Fachkräfte für die kindliche Entwicklung ist. Eine verlässliche und feinfühlige Bezugsperson bildet die Voraussetzung für gelingende Entwicklungs- und Bildungsverläufe von Kindern.
3. Verletzendes pädagogisches Interaktionsverhalten
Eine Studie von Remsperger (2011) untersuchte das sensitiv-responsive Verhalten der Fachkräfte. Dabei konnten Interaktionsformen herausgearbeitet werden, die für Kinder verletzend sein können: das Nichtreagieren auf die Signale der Kinder, kein oder geringes Eingehen auf die Kinder, das Signalisieren von Gleichgültigkeit, Desinteresse und andere.
Mit weiteren Studien werden Rahmenbedingungen, wie größere Gruppen als begünstigend für diese Verhaltensweisen erkannt. Das Fehlverhalten der pädagogischen Fachkräfte wird von ZEIT ONLINE bei den Eltern, im Projektnetz INTAKT untersucht. Die hier vorgestellte Auswertung ergab, dass von solchem Fehlverhalten oft dieselben Kinder betroffen waren. Das verletzende Verhalten beinhaltet die verbalen Übergriffe von Demütigung bis Verängstigung.
4. Die Hinführung zum Begriff des verletzenden Verhaltens
In dieser Perspektive verweisen die Autorinnen auf die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen, in welcher Kindern Rechte zugestanden werden. Sie machen auf die Komplexität und unterschiedlichen Formen von Gewalt aufmerksam und führen zum Begriff „verletzendes Verhalten“ hin. Unter verletzendem Verhalten verstehen sie jede Form und Intensität der Missachtung von Kindern.
Kapitel 3: Forschungslücken und Forschungsfragen
Die Autorinnen erkennen die Forschungslücke im Wahrnehmen und Einordnen des verletzenden Verhaltens durch die Fachkräfte, ihren Umgang damit und in der Ursachenforschung und Handlungsmöglichkeiten.
Es werden vier Forschungsfragen abgeleitet:
- Welche Formen des verletzenden Verhaltens werden in Kindertageseinrichtungen von den pädagogischen Fachkräften beobachtet oder womöglich sogar selbst ausgeübt?
- Wie gehen Fachkräfte damit um, wenn sie verletzende Verhaltensweisen befürchten, beobachten oder sogar selbst ausüben?
- Welche sind, nach Meinung der Fachkräfte, mögliche Ursachen für verletzendes Verhalten?
- Welche Formen der Unterstützung wären in den Augen der Fachkräfte hilfreich, um verletzende Verhaltensweisen verhindern zu können?
Kapitel 4: Methodisches Vorgehen
Im Vordergrund steht hier die Beschreibung des qualitativen methodischen Vorgehens in der Studie. Es werden ausführlich die Erhebungsmethoden, die Beschreibung des Samples, der Untersuchungsverlauf, die Auswertungsmethode, die Reflexion der Gütekriterien und die kritische Würdigung beschrieben.
Kapitel 5: Darstellung der Ergebnisse
Die Autorinnen haben die Mikro-, Makro- und Spiralgewalt als Formen des verletzenden Verhaltens identifiziert. Sie nennen als Ursachen die persönlichen und biografischen Gründe bis zu den prekären Rahmenbedingungen. Sie machen eindeutig auf Handlungsmöglichkeiten, wie die Entlastung, Bildung, Stärkung der Kinder und Schaffung einer Feedback- und Fehlerkultur in Kindertageseinrichtungen aufmerksam.
Die Ergebnisse werden in fünf Hauptkategorien unterteilt und dargestellt:
- Praxis verletzenden Verhaltens mit drei Subkategorien: Mikro-, Makro- und Spiralgewalt, welchen das verletzende Verhalten zugeordnet wurde.
- Gefühle mit Subkategorien: Schock, Hilflosigkeit, Scham, Gratwanderung, Wut/Unverständnis, Verantwortung. Hier werden unterschiedliche Gefühle der Studierenden kategorisiert.
- Umgang mit Subkategorien: Drei Affen, Forcieren und bestätigen, Zeitnahe Ansprache, Aufarbeitung im Team und Eigene Wege, wo es darum geht, wie sind die Studierenden danach damit umgegangen.
- Ursachen mit Subkategorien: Sie kennt es nicht anders, Der fehlt es an…, Machtverhältnisse für sich nutzen, Immer die Gleichen, Durch den ganzen Stress und Aufbewahrungsanstalt, sind Erklärungsversuche der Studierenden für das verletzende Verhalten.
- Handlungserfordernisse mit Subkategorien: Kultur der gegenseitigen Rückmeldung und Unterstützung, Wege Entlastung, Kinder stärken und Bildung
Kapitel 6: Zusammenfassung zentraler Erkenntnisse
Die Autorinnen haben die Mikro-, Makro- und Spiralgewalt als Formen des verletzenden Verhaltens identifiziert. Sie nennen als Ursachen die persönlichen und biografischen Gründe bis zu den prekären Rahmenbedingungen. Sie machen eindeutig auf Handlungsmöglichkeiten, wie die Entlastung, Bildung, Stärkung der Kinder und Schaffung einer Feedback- und Fehlerkultur in Kindertageseinrichtungen aufmerksam.
Kapitel 7: Forschungsdesiderata
Die Autorinnen verweisen auf eine stärkere Untersuchung der Perspektiven der Kinder im Hinblick auf das verletzende Verhalten, eine Analyse des Zusammenhangs von Berufserfahrung und auf die Rolle der Leitung.
Kapitel 8: Fachliche, politische und gesellschaftliche Herausforderung
Hier wendet sich der Blick auf die Verbesserung der strukturellen Rahmenbedingungen und eine Stärkung der Leitung, da ihr bei der Prävention des verletzenden Verhaltens die zentrale Rolle zukommt. Weiter geben die Autorinnen die Empfehlung zur Stärkung von Selbstbewusstsein und professionellem Selbstverständnis der Fachkräfte, wie auch eine Etablierung einer Kultur der gegenseitigen Rückmeldung und Unterstützung. Letztendlich halten sie ein Plädoyer für einen feinfühligen und anerkennenden Umgang mit Kindern und seinen gesellschaftlichen Mehrwert davon.
Diskussion
Klar und strukturiert wird die Studie vorgestellt. Das Thema „Verletzendes Verhalten“ unter den prekären Rahmenbedingungen in Kindertageseinrichtungen geprägt von Corona-Maßnahmen und Personalmangel bildet ohnehin die dramatische Situation in den Kindertageseinrichtungen ab. Die Tatsachen zeigen deutlich auf den dringenden politischen und gesellschaftlichen Handlungsbedarf in den Kindertageseinrichtungen.
Sachlich und dennoch eindrucksvoll lädt dieses Buch alle Personen mit einem Kind-bezogenen beruflichen Hintergrund zum Nachdenken und Reflektieren ein. Die Inhalte können beispielhaft für die Einführung in das Thema „verletzendes Verhalten“ in den Kitas verwendet werden. Es kann auf die verschiedenen Hauptkategorien eingegangen werden und die Ergebnisse/​Erkenntnisse können in den Teams reflektiert werden. Der Text ist verständlich formuliert, das verletzende Verhalten wird durch Aussagen der Befragten dargestellt und kann praxisnah übersetzt werden.
Fazit
Das Buch „Verletzendes Verhalten in Kitas“ ist eine beeindruckende Studie über das verletzende Verhalten der Fachkräfte den Kindern gegenüber. Die Leser*innen erhalten Erkenntnisse, wie das verletzende Verhalten von Studierenden und Fachkräften in Kindertageseinrichtungen erklärt wird, worin sie die Ursachen und welchen Handlungsbedarf sie sehen. Sie erfahren, dass und wie Kinder in Kindertageseinrichtungen von einem Teil der Fachkräfte schädlichen Verletzungen ausgesetzt werden.
Zu empfehlen ist dieses Buch allen Fachkräften und Leitungen in Kindertageseinrichtungen. Sie werden sensibilisiert und können mit diesem Wissen Fachkraft-Kind-Interaktionen im pädagogischen Alltag untersuchen, beobachten und reflektieren. Sie werden ermutigt verletzendem Verhalten entgegenzutreten und sich für einen wertschätzenden und gewaltfreien Umgang stark zu machen. Es ist auch allen Studierenden in Kindheits-, Erziehungs- und Sozialwissenschaften zu empfehlen, welche im Rahmen ihres Studiums qualitative Forschungsprojekte durchführen, da sie in diesem Buch einen genauen Einblick in die Vorgehensweise der Explorationsstudie gewinnen.
Rezension von
Zlatija Milovanovic
Soziale Arbeit B.A., Erzieherin und regionale Fachberatung
Studentin im Studiengang „Kindheits- und Sozialwissenschaften“ M.A. mit dem Schwerpunkt „Management und Beratung“ an der Hochschule Koblenz
Mailformular
Es gibt 1 Rezension von Zlatija Milovanovic.