Rachel Winson, Barbara A. Wilson et al. (Hrsg.): Rehabilitation nach Hirnschädigung
Rezensiert von Prof. Dr. Carsten Rensinghoff, 23.09.2021
Rachel Winson, Barbara A. Wilson, Andrew Bateman (Hrsg.): Rehabilitation nach Hirnschädigung. Ein Therapiemanual.
Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG
(Göttingen) 2020.
252 Seiten.
ISBN 978-3-8017-2985-1.
44,95 EUR.
CH: 55,90 sFr.
Reihe: Therapeutische Praxis.
Thema
Das zu besprechende Therapiemanual soll Menschen, die mit einer erworbenen Hirnschädigung leben, ein Verständnis über ihre Erkrankung liefern. In unterschiedlichen therapeutischen Kontexten, als da z.B. wären Ergotherapie, Sprachtherapie, klinische Psychologie und Neuropsychologie, soll das Manual Verwendung finden.
Herausgeber*innen
Rachel Winson ist Ergotherapeutin und arbeitet in dieser Funktion in einem Neurorehabilitationsteam.
Barbara A. Wilson ist klinische Neuropsychologin und Gründerin des Oliver Zangwill Centre for Neuropsychological Rehabilitation.
Andrew Bateman ist Physiotherapeut und Clinical Manager des Oliver Zangwill Centre for Neuropsychological Rehabilitation.
Inhalt
Um die Schädigungsfolgen einer Hirnschädigung zu verstehen ist eine Einführung in die Hirnanatomie notwendig, die von Emily Grader und Andrew Bateman geliefert wird. Neuroanatomisches Wissen ist notwendig, da viele Patienten und ihre Familie im Laufe der Rehabilitation von verschiedenen Begriffen gehört haben, die sie nicht verstehen. Ihnen hilft es, z.B. mehr über die genannten Hirnregionen zu erfahren. „Viele Patienten berichten, dass sie mit diesem Wissen beginnen zu verstehen, was mit ihnen passiert ist“ (S. 23).
Um dieses neuroanatomische Wissen verständlich aufzubereiten ist es für die Verfasser*innen eine Herausforderung, „einerseits weit genug ins Detail zu gehen, um interessant zu sein, und andererseits die Erklärungen einfach genug zu halten, damit sie verständlich sind“ (S. 23).
Die neuroanatomische Grundlage macht dann auch die Mechanismen der Hirnschädigungen verständlich, wie der, dass es sich beim Schädel-Hirntrauma um eine Verletzung handelt, die durch ein direktes Kopftrauma verursacht wird.
Jessica Fish, Kathrin Hicks und Susan Brentnall widmen sich den unterschiedlichen Aufmerksamkeitsphänomenen.
Nach hirntraumatischen Ereignissen sind Probleme in der Aufmerksamkeit zu finden in:
- reduzierter Verarbeitungsgeschwindigkeit
- Ablenkbarkeit
- Neglect, d.h. einseitige räumliche Vernachlässigung.
Zu den Aufmerksamkeitsproblemen sind Querverbindungen zu anderen Schwierigkeiten zu finden, wie:
- Gedächtnisprobleme
- Probleme der exekutiven Funktionen, d.h. Probleme bei der Organisation der Aufmerksamkeit
- Emotionen.
- physische Faktoren, als da wären Müdigkeit, Schmerzen, Hunger, Krankheit
- Umweltfaktoren, z.B. Lärm, Unordnung, andere Menschen und Temperatur
- psychologische Faktoren, beispielsweise Angst, Stress, Ärger/Wut, Depression
Jessica Fish und Susan Brentnall betrachten in einem weiteren Abschnitt das Gedächtnis.
„‘Gedächtnis‘ bezieht sich […] auf eine Sammlung von Prozessen und Fähigkeiten, die vom Fahrradfahren bis zum Abruf, was wir zum Frühstück hatten, und einer Vorstellung von Zukunft reichen“ (S. 68).
Die Autorinnen stellen die Psychoedukation zum Thema Gedächtnis vor. Nach einer Hirnverletzung kann es zu Problemen mit dem prospektiven Gedächtnis kommen. Das prospektive Gedächtnis befasst sich mit der Erinnerung an zukünftige Absichten. Ein weiteres Problem ist z.B. die „Schwierigkeit, Absichten zu dem Zeitpunkt zu erinnern, wenn wir sie eigentlich umsetzen wollen“ (S. 70).
Mit den exekutiven Funktionen befasst sich Jill Winegardner. Die exekutiven Funktionen „beinhalten die Fähigkeit, die eigenen Gefühle und Verhaltensweisen zu regulieren und zu kontrollieren“ (S. 100).
Eine zentrale Rolle für die Lebensqualität nach einer erworbenen Hirnschädigung spielen die kommunikativen Fähigkeiten. Clare Keohane und Leyla Prince schreiben den Kommunikationsstörungen nach einer Hirnverletzung eine hohe Bedeutung zu. Zu den Kommunikationsstörungen zählen die Kognitiven Kommunikationsstörungen und Beeinträchtigungen Sozialer Kognitionen.
Das Symptom Fatigue tritt häufig nach einer Hirnverletzung. Diesem Phänomen widmet sich Donna Malley in ihren Ausführungen. Hierbei handelt es sich um eine Erschöpfung, „bei der nach einer Ruhephase keine Erholung eintritt und die im Vergleich zu gewöhnlicher Ermüdung infolge einer Anstrengung durch eine stärkere Intensität und längere Dauer gekennzeichnet ist“ (S. 153).
Catherine Longworth Ford nimmt die Stimmung nach einer Hirnverletzung in den Blick. Durch das hirntraumatische Ereignis kann es zu einer veränderten Stimmung kommen. Diejenigen Hirnareale, die für Emotionen zuständig sind, können so geschädigt sein, dass die Betroffenen nicht kontrollieren können, ob sie lachen oder weinen müssen. Viele Menschen, die mit einer Hirnverletzung leben, sind oft nicht dazu in der Lage die Gefühle der anderen Menschen zu verstehen.
Wie mit einem veränderten Selbstbild nach einer Hirnschädigung umzugehen ist, wird von Fergus Gracey, Leyla Prince und Rachel Winson bearbeitet. Als Letztes Kapitel, das sich an die Hirnverletzten richtet, soll auf das zuvor Gelernte zurückgegriffen werden, denn „erst im Zusammenspiel aller Stärken und Strategien zur Bewältigung der täglichen Herausforderungen zeigt sich unser wahres Selbstbild, das durch Erfahrung geprägt wird“ (S. 215).
Schließlich nimmt Leyla Prince die Arbeit mit den Angehörigen in den Blick. Hier werden die Kollateralschäden thematisiert, denn „es ist allgemein bekannt, dass eine Hirnschädigung einen weitreichenden Einfluss nicht nur auf die betroffene Person, sondern auch auf ihren Familien- und Freundeskreis ausübt“ (S. 240).
Diskussion
Das, nun in deutscher Sprache vorliegende, Therapiemanual ist ein gutes Instrument zur Erklärung der Hirnschädigung in verschiedenen therapeutischen Kontexten. Der komplexe und komplizierte Sachverhalt wird den Betroffenen verstehbar gemacht. 1982 hätte ich es für sehr gut gehalten, wenn mir auf diese Weise meine folgenreiche schwere Hirnverletzung erklärt worden wäre. Für den Rehabilitationsverlauf ist die Vermittlung derartiger Fakten sehr notwendig. In den meisten Fällen wollen die Hirnverletzten ihren Zustand nicht einfach hinnehmen, sondern sie wollen verstehen, wieso das jetzt so ist und was man gegebenenfalls zur Überwindung tun kann. Hierfür sind die Lehrmaterialien und Arbeitsblätter sehr nützlich und hilfreich.
Fazit
Behinderte, im konkreten Fall Hirnverletzte, wollen sich dem Rehabilitationsgeschehen nicht mehr einfach so hingeben, wenn sie das überhaupt mal je gemacht haben. Die verschiedenen regionalen Selbsthilfegruppen zeigen einen verstärkten Wissensdurst zum hirntraumatischen Ereignis. Die Betroffenen wollen wissen, was mit ihnen passiert ist. Sie wollen wissen, wie das Geschehene therapiert und im besten Fall beseitigt wird und ob so dann eine vollständige Genesung eintritt. Hierfür ist es wichtig die verschiedenen Stationen auf dem hirnverletzten Weg kennenzulernen und sich mit den Veränderungen zu arrangieren, denn eine Hirnverletzung ist immer eine lebenslängliche Diagnose, die Betroffenen und ihre Angehörigen haben ein Leben lang etwas davon!
Zur effektiven Verarbeitung des hirntraumatischen Ereignisses leistet die besprochene Publikation einen wertvollen Beitrag.
Rezension von
Prof. Dr. Carsten Rensinghoff
Hochschullehrer für Heilpädagogik und Inklusive Pädagogik an der DIPLOMA Hochschule
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Es gibt 184 Rezensionen von Carsten Rensinghoff.
Zitiervorschlag
Carsten Rensinghoff. Rezension vom 23.09.2021 zu:
Rachel Winson, Barbara A. Wilson, Andrew Bateman (Hrsg.): Rehabilitation nach Hirnschädigung. Ein Therapiemanual. Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG
(Göttingen) 2020.
ISBN 978-3-8017-2985-1.
Reihe: Therapeutische Praxis.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28727.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.
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